Algorithm is a Battlefield

⋄ In der Critical Sociology analysiert Aitor Jiminez Gonzalez das digitale Proletariat.

⋄ Er sieht in Algorithmen und Plattformen immaterielle Produktionsmittel.

⋄ Algorithmen bestimmten wie die Maschinen des 19. Jahrhunderts Arbeitslänge und -intensität.

⋄ Das Recht sei dabei ein wesentliches Feld des Klassenkampfes.

⋄ Trotz seiner formalen Selbstständigkeit müsse das digitale Proletariat als Proletariat anerkannt werden.

Ist eine Ware immer etwas Stoffliches? Oder sind nicht Dienstleistungen einfach nur Waren, welche gleichzeitig produziert und konsumiert werden? Haben sie nicht auch Tausch- und Gebrauchswert? Solche Fragen wurden noch im letzten Jahrhundert unter Marxist*innen diskutiert. Mit der Entstehung digitaler Plattformunternehmen wie Uber oder Amazon stellt sich die Frage neu: Sind Produktionsmittel immer etwas Stoffliches? Ist eine Maschine in jedem Fall ein metallener Kasten oder kann auch ein Code eine Maschine, eine Plattform eine Fabrik und ein Algorithmus ein Produktionsmittel sein?

Aitor Jiminez Gonzalez von der Universität in Melbourne begründet in der Critical Sociology, warum es sinnvoll ist, auch immaterielle Maschinen und Fabriken als solche anzuerkennen. Er leitet daraus Folgerungen für einen zeitgemäßen Klassenkampf für, mit und durch das digitale Proletariat ab.

Code, Wert und Gesetz

In einer traditionellen Lesart des Marxismus sei das Gesetz als politischer und juristischer Überbau der Produktionsverhältnisse von der Basis getrennt betrachtet worden. Mit der digitalen Revolution sei jedoch das Gesetz selbst zum Produktionsmittel geworden. Gonzalez erläutert am Beispiel des Taxiunternehmens Uber: Erstens trete zwischen eine*n Uber-Fahrer*in und Uber eine Reihe von Gesetzen, angefangen von der Verfassung bis hin zur Straßenverkehrsordnung. Zweitens verhielten sich durch die formale Selbstständigkeit der Fahrer*innen Unternehmen und Arbeiter*in wie gleichberechtigte Rechtssubjekte. Spezielle Schutzbestimmungen wie das Arbeitsrecht und Mindestlohn fänden keine Anwendung und könnten durch das Kapital wirksam unterlaufen werden. Zwischen beide Parteien trete nur das Zivilrecht, welches somit Gegenstand des Klassenkampfes sei. Und drittens stehe zwischen digitalem Kapital und Proletariat noch ein anderes, ein ganz privates Gesetz: der Code oder Algorithmus. Dieser setze die Standards, sammle Informationen über den Produktionsprozess und verwirkliche Strategien zur Profitsteigerung. Zum öffentlichen Recht tritt der Code in einen Widerspruch. Der Algorithmus ist durch das Gesetz geschützt und muss nicht offengelegt werden. Somit kann auch nicht kontrolliert werden, ob der Code an sich rechtskonform ist.

Algorithmus als Produktionsmittel

Gonzalez vertritt die These, dass in einem ganz allgemeinen Sinne ein Code nichts anderes sei als eine Maschine. Beide basierten auf einer definierten Abfolge Befehlen, um einen Gebrauchswert zu erschaffen, verändern oder zu vernichten. Es seien am Ende dann auch nicht das Fahrrad de*r Lieferant*in, das Mobiltelefon oder ein Privatschulgebäude die eigentlichen Produktionsmittel, sondern der Algorithmus, der Kunden und Dienstleister zusammenbringe. Dieser sei Monopol des Kapitalisten und erlaube es erst, aus Geld mehr Geld zu machen.

Das digitale Proletariat

Mit der Veränderung des Charakters der Produktionsmittel ändere sich auch der Charakter der Klassen. Proletariat sei nicht an eine spezifische soziale Form, etwa die des Industriearbeiters, gebunden. Proletarität beruhe auch nicht auf einem besonderen Klassenbewusstsein und auch nicht auf dem rechtlichen Status als Arbeitnehmer*in. Proletariat zu sein bedeute, durch eine spezielle legalisierte Art und Weise durch ein Akkumulationsregime ausgebeutet werden zu dürfen. Das verbinde die Onlinelehrer*in mit dem Amazon-Mitarbeiter, die Uber-Fahrer*in mit Facebook-Kontrolleur. Das digitale Proletariat könne dabei formal vertraglich selbstständig sein, es schaffe jedoch, da sich der Kapitalist in Besitz des Codes als Produktionsmittel befinde, Mehrwert für diesen.

Der Algorithmus wirke dabei genauso wie die Maschine des 19. Jahrhunderts. Der Algorithmus gibt den Arbeitstakt vor. Er messe Zeiten, die notwendig waren, um eine Strecke mit dem Auto zu bewältigen oder wie viele Mails mit einem Kunden geschrieben wurden. Er intensiviere die Arbeit, indem er ungewollte Pausen identifiziert und diese reduziert. Oder indem er die einzelnen Arbeiter*innen in einen beständigen Wettbewerb um den nächsten Kunden setzt. Und er verlängere den Arbeitstag, da es in vielen digitalen Beschäftigungszweigen Stoßzeiten mit hoher Belastung gäbe, während die Wartezeiten zwischen diesen nicht entlohnt würden. Zudem sei der Algorithmus eine klassische Anti-Gewerkschaftsstrategie, da der Algorithmus die Arbeiter*innen vereinzele und gegeneinander ausspiele. Durch den Status der selbstständigen Beschäftigung fielen sie zudem aus dem Raster der klassischen Gewerkschaften.

Was tun?

Die liberale Linke befände sich in einem Dilemma. Auf der anderen Seite fordere sie beständige Innovation und eine Ende der Bevormundung durch den Staat. Auf der anderen Seite sei ihr durchaus bewusst, dass das neue Produktionsregime systematisch Arbeiter*innenrechte unterlaufe.

Der Autor schlägt einige wichtige Ansatzpunkte für eine linke Politik für das digitale Proletariat vor. Zunächst einmal müsste der Rechtsstatus digitaler Arbeiter*innen geklärt werden. Sie sind Arbeiter*innen. Für sie gilt der Arbeitsschutz und der Mindestlohn genauso, wie das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder im Krankheitsfall bezahlt zu werden. Diese Anerkennung zur Überwindung des Scheins der Selbstständigkeit, öffne das Tor für eine weitergehende emanzipatorische Politik.

Zweitens müsste dann das Geschäftsmodell der plattformbasierten Scheinselbstständigkeit unattraktiver gemacht werden. Der UK Trade Union Congress habe festgestellt, dass digitale Arbeiter*innen teilweise bis zu 44% unter dem Mindestlohn verdienten. Dem englischen Staat entgingen 5,3 Milliarden Pfund an Steuergeldern. Die UGT in Spanien bezifferte den Verlust an Steuern und Sozialabgaben auf 55 bis 80% pro Arbeiter*in. Würde ein Staat diese Reserven anzapfen, sinke die Attraktivität des gesamten Geschäftsmodells.

Das Recht als Feld der Klassenkämpfe müsse drittens ernster genommen werden. Das Recht sei nicht neutral, sondern werde von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bestimmt. Ein Beispiel: die Geheimhaltung der Codes. Es gibt den Widerspruch zwischen dem Recht auf den geheimen Code durch das Kapital und das Recht auf Einsicht durch das Proletariat. Der Autor ergreift Partei: Algorithmen müssten öffentlich zugänglich gemacht werden. Arbeitervertreter*innen, Expert*innen und Gesetzgeber*innen müssten wissen, was das Kapital treibe, um effektive Maßnahmen finden zu können.

Als letztes müsse die Organisation des digitalen Proletariats studiert werden. Beispiele, wie es gewerkschaftsfeindliche Strategien unterlaufe, müssten gesammelt und verbreitet werden. Auf traditionelle Kampfmittel müsse nicht prinzipiell verzichtet werden, sondern sie müssten an die neuen Beschäftigungsverhältnisse angepasst werden.

Zusammenfassung

In den kapitalistischen Zentren wächst ein neues Proletariat heran. Der Form nach postmodern, dem Wesen nach dem Proletariat des 19. Jahrhunderts gleich. Durch die formale Selbstständigkeit von großen Teilen des Arbeitsschutzes getrennt. Durch den Algorithmus in beständige Kämpfe um die Länge und die Intensität des Arbeitstages gedrängt.

Da die Form neu, aber das Wesen alt ist, müssen Klassenkämpfe neue Formen annehmen, aber dem kapitalistischen Klassenantagonismus verhaftet bleiben. Aitor Jiminez Gonzalez macht viele Vorschläge für einen solchen Klassenkampf des 21. Jahrhunderts: Anerkennung des digitalen Proletariats als solchem, Offenlegung der Algorithmen, Beschädigung des Geschäftsmodells und eine Organisation auf Augenhöhe mit den Plattformen.

Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts speiste seine Utopie aus der wissenschaftlichen Durchdringung des Industriekapitalismus. Würden Waren mit industrieller Effizienz unter Kontrolle des Proletariats hergestellt, wäre ein gutes Leben für alle möglich. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts sollte seine Utopie aus dem digitalen Kapitalismus schöpfen. Nutzen wir die Effektivität von und die Vernetzung durch Plattformen unter Kontrolle der Werktätigen, dann bergen wir ihre emanzipatorischen Potenziale. Für die Diktatur des digitalen Proletariats; die Diktatur der Uber-Fahrer*innen, Online-Lehrer*innen und freien Produzent*innen.

Literatur

Gonzalez, A. (2022): Law, Code and Exploitation: How Corporations Regulate the Working Conditions of the Digital Proletariat. Critical Sociology. Jahrgang 48, Ausgabe 2. S. 361–373.

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