Zur (geo)politischen Ökonomie der Atomwaffen

⋄ Der russische Invasion in der Ukraine hat die Frage eines Atomkrieges erneut aufgeworfen.

⋄ Die indische Marxistin Radhika Desai hat sich in der
International Critical Thought mit der geopolitischen Ökonomie der Kernwaffen auseinandergesetzt.

⋄ Nach ihrer Interpretation nutzen die westlichen Atommächte ihre Waffen nicht zur territorialen Verteidigung, sondern als imperialistisches Machtinstrument.

⋄ Jedoch nicht durch direkte Bedrohung, sondern als militärische Schutzmacht peripherer Staaten, die als Sicherheitsgarantie diesen Staaten einen atomaren Regenschirm anbieten kann.

⋄ Für den atomaren Schutz öffnen periphere Staaten ihre Märkte für die amerikanische Bourgeoisie, auch wenn daraus ökonomische Nachteile entstehen.
Radhika Desai

Der Atomwaffenpoker zwischen Russland und den Vereinigten Staaten geht nach der Annexion mehrerer Gebiete im Osten der Ukraine durch Russland in eine neue Runde. Während Russland seine Verteidigungsdoktrin, die den Einsatz von Kernwaffen im Falle eines Angriffs russischen Territoriums geltend machen könnte, bittet Selenskyi die westlichen Garantiemächte öffentlich um Präventionsschläge. Die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung steigt, da jeder weiß, dass ein atomarer Erstschlag, unabhängig von welcher Seite, mit einem Zweitschlag beantwortet werden wird. Die Angst in der Bevölkerung steigt an. Aber welche Rolle spielen Kernwaffen eigentlich im Spätkapitalismus? Sind sie reine Abschreckungswaffen und wenn ja, zu welchen Zwecken schrecken sie wen vor was ab?

Eine der vielleicht prominentesten zeitgenössischen Stimmen der akademischen Linken, die indische Politilogin Radhika Desai, hat sich an eine marxistische Analyse der strategischen Bedeutung von Kernwaffen in der imperialistischen Komkurrenz gewagt. Die International Critical Thought hat in der aktuellen Ausgabe ihren Aufsatz veröffentlicht.

Allgemeine Theorie

Ganz grundsätzlich gilt: Kernwaffen sind Defensivwaffen. Zur Unterstützung von Angriffen sind sie nicht geeignet, da sie das betroffene Gebiet über Dauer und breitflächig auch für die eigenen Truppen lebensfeindlich machen. Abgesehen von den moderneren, aber noch nie eingesetzten taktischen Kernwaffen, haben sie daher in erster Linie Abschreckungscharakter. Aber wozu benötigen dann die Vereinigten Staaten Kernwaffen? Ihre Lage ist geographisch und politisch so günstig, dass ein territorialer Verteidigungskrieg mehr als unwahrscheinlich ist. Die Antwort liegt in der Vernetzung ökonomischer und militärischer Ressourcen im modernen Imperialismus.

Da der Kapitalismus prinzipiell krisenanfällig ist, suchen die imperialistischen Staaten ständig nach Möglichkeiten, die Krisenkosten zu exportieren, wozu es wichtig ist, freien Marktzugang zu weniger entwickelten Staaten zu haben (näheres hier). Da es sich bei der Auslagerung von Krisenkosten jedoch um ein Nullsummenspiel handelt, haben am Ende die peripheren Staaten die ökonomischen Nachteile, welche die kapitalistischen Zentren zu kompensieren suchen. Daher gehen sie diese Handelsbeziehungen nicht ohne Bedingungen ein.

Wo ökonomische Argumente fehlen, müssen politische her. Das konnte Alternativlosigkeit sein, als die USA noch fast der einzige Exporteur modernster Waren und Produktionsmittel waren. Das konnte eine direkte Intervention sein, um um gefällige Regierungen an die Macht zu putschen. Oder ein Argument konnte eben das Versprechen militärischen Schutzes sein. Mittels ihrer Kernwaffen konnten die Vereinigten Staaten konfliktbedrohten Staaten glaubwürdige Verteidigung zusichern, für welche die andere Regierungen mit freiem Marktzugang bezahlten.

In dem Sinne lassen sich die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki auch als Vorbereitung auf die Krisenexportstrategie verstehen. Der These, dass Zerstörung der beiden japanischen Städte vorrangig die Leben amerikanischer Soldaten schonen sollte, widerspricht Desai, da zu jenem Zeitpunkt Japan bereits über die Sowjetunion um Friedensgesprächen gebettelt habe. Der Kernwaffeneinsatz war mehr oder weniger die Zurschaustellung des militärischen Potentials der Vereinigten Staaten, wenn man mit ihnen entsprechend kooperierte. Mitteleuropa wurde bis heute nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Mix an finanzieller Aufbauhilfe und nuklearer Abschreckung gegen den Ostblock an die Vereinigten Staaten gebunden. Die zerfallenden Konialmächte konnten viele der neu entstandenen Staaten wieder durch ähnlich zu charakterisierende Schutzversprechen in den post-kolonialen Konflikten an sich binden. Und auch die Sowjetunion musste der permantenten Drohung von Einflussverlust auf dem globalen Schachbrett eine gleichwertige Gegendrohung entgegensetzen.

Hinsichtlich der UdSSR bezieht sich Desai hier auf Trotzki, um zu argumentieren, dass der Sowjetunion andere Handlungsmotive zu Grunde lagen als den USA: Da das Konzept einer Weltrevolution Ende der 20er Jahre als gescheitert angesehen werden musste, ging die Sowjetunion mit den Gelegenheiten, die sich vor und nach dem Zweiten Weltkrieg boten, zu einem expansionistischen Revolutionsmodell über. Nicht der freie Marktzugang, aber ein politisches System wurde exportiert und mit Kernwaffen defensiv vor ausländischer Intervention abgesichert. Und gerade dadurch, dass die noch unterentwickelten Ökonomien des Trikont vom globalen Kapitalismus nicht profitierten, konnte die Sowjetunion diesen Staaten ein besseres ökonomisches Angebot mit gleicher nuklearer Absicherung unterbreiten. Die Kubakrise verdeutlichte, wie stark eigentlich Drittländer der Adressat des atomaren Kräftemessens waren. Und am Beispiel China sehen wir, dass die eigene nukleare Absicherung ein Grundpfeiler Chinas dafür war, Politik unabhängig von den USA oder der Sowjetunion betreiben zu können.

Die schleppende atomare Abrüstung

Die vorangegangenen Überlegungen machen deutlich, wie bedeutend Kernwaffen für die Durchstezung imperialistischer und anti-imperialistischer Strategien zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs waren. Sie zeigen jedoch auch, dass der Kampf um Konfliktzonen in der kapitalistischen Peripherie ein Eskalationspotential besaß, dass den tatsächlichen Einsatz der Kernwaffen mitsamt unabsehbar schweren Folgen realistisch erscheinen ließ. Diese Fragilität führte seit Mitte der 50er Jahre zur Herausbildung einer starken Abrüstungsbewegung, welche insbesondere in den USA und in Großbritannien die Regierungen unter Druck setzte, dass nukleare Potential besser zu kontrollieren und abzubauen. Die Verhandlungen, die immer nur bilateral im Gleichschritt zwischen USA und der UdSSR erfolgen konnten, waren jedoch zäh und paradox. Keiner konnte es sich leisten, seine Karten zu früh aus der Hand zu legen, wenn es der andere nicht gleichtat. Zudem herrschte großes Misstrauen über die Ehrlichkeit des jeweiligen Gegenübers.

Der wichtigste Vertrag war sicherlich der Atomwaffensperrvertrag von 1968, der allen Mächten, die noch nicht über Kernwaffen verfügten, Herstellung und Beschaffung verbot. Der Vertrag tastete jedoch nicht das eigentliche Problem an, sondern lief allein auf eine Schwächung der sekundären Mächte hinaus. Demgemäß schäumte die CDU und nannte den Vertrag „ein Versailles kosmischen Ausmaßen“ oder einen „Morgenthau-Plan hoch zwei“ (vgl. S.395). Im Gegensatz dazu stärkte der Sperrvertrag die Bedeutung der bestehenden Nuklearmächte, da jede Nation im Konflikt sich unter den atomaren Schutzschirm einer der Mächte stellen wollte.

Dass mit den SALT-Abkommen und der nuklearen Rüstungskontrolle tatsächliche bilaterale Fortschritte erzielt wurden, schreibt Desai der Stärke der amerikanischen Linken in den frühen Siebzigern zu. Allerdings beendeten die Iranische Revolution und der Umsturz in Nicaragua, sowie die Zuspitzung der innenpolitischen Widersprüche in der Sowjetunion das kurze Jahrzehnt der Abrüstung. Ronald Reagans Plan, mit einem enormen Aufrüstungsprogramm, zu dessen schillerndsten Elementen sich das Star-Wars-Projekt gehörte, zum einen die Sowjetunion bankrott zu rüsten und zum anderen die Ökonomie mit Hilfe des militärisch-industriellen Komplexes wiederzubeleben, ging zwar zum Teil auf, stärkte jedoch gleichzeitig die Friedensbewegung, die einen neuen Regelungsschub in Europa bewirkte. Wie wenig Kernwaffen in Konflikten helfen, in denen der Gegner keinem der klassischen Blöcke zugerechnet werden konnte, lernte die Sowjetunion in Afghanistan auf die harte Tour. Von der Niederlage gegen die Mudschaheddin erholte sich der Staat nicht wieder und 1989-1991 siegte die Konterrevolution.

Bedeutungsverlust und Renaissance der Kernwaffen nach 1990

Der Zerfall der Sowjetunion ließ die USA eine einzige Weltmacht zurück. Das Fehlen eines gleichwertigen Kontrahenten senkte die Gefahr eines Atomkriegs erheblich, aber auch den Wert nuklearer Waffen an sich. Die modernen Kriege im Irak, in Afghanistan und später in Syrien waren durch Atomwaffen nicht zu gewinnen. Die Politik der USA beschränkte sich auf die Erhaltung des Status Quo, indem die NATO-Staaten über das Gros des nuklearen Zerstörungspotentials verfügten und andere Mächte, wie China, Indien und Pakistan davon abgehalten werden sollten, ihre Arsenale zu erweitern bzw. wie im Falle Irans oder Nordkoreas neue Arsenale aufzubauen.

Allerdings sieht Radhika Desai eine neue Gefahr. Durch den ökonomischen Aufstieg Chinas, der den ökonomischen Niedergang der USA wiederspiegelt, könnte in mittlerer Zukunft ein neuer Kalter Krieg ausbrechen, indem amerikanische und chinesische Kernwaffen Märkte sichern. Da der chinesische Imperialismus noch mehr als die sowjetische Geopolitik auf kapitalistischen Prinzipien beruht (mit einigen nicht zu verachtenden Benefits), könnten die USA in die Situation des Herausforderers geraten. Und eine untergehende Weltmacht ist hochgefährlich.

Daher sieht Radhika Desai die Durchsetzung einer wirkungsvollen nuklearen Rüstungskontrolle in West und Ost als Gebot der Stunde, da diese vielleicht in zehn Jahren auf Grund der angespannten Weltlage nicht mehr durchsetzbar sein könnte. Die Politik der Trump-Administration könnte jedenfalls so gedeutet werden, dass sich die USA bereits für diesen Konflikt rüsten. Und auch die Biden-Administration scheint momentan eher die Strategie zu verfolgen, Atommächte, wie Indien für sich zu gewinnen, anstatt einen nuklearen Ausgleich mit China zu finden. Den beunruhigenden Tendenzen steht eine geschwächte Linke gegenüber, die ähnlich den Siebzigern die Regierungen zum Handeln nötigen müsste.

Zusammenfassung

Radhika Desai hat gezeigt, dass Kernwaffen eine ganz spezielle Funktion in der Geopolitik spielen. Sie schaffen politische Argumente bei der Ausweitung des Weltmarkts, wo ökonomische fehlen und helfen so imperialistischen Mächten, ihre Krisenlasten zu exportieren. Ihre wesentliche Bedeutung liegt in ihrem Drohpotential und nicht in ihrem Einsatz.

Was bedeutet das im aktuellen Ukraine-Krieg? Der Konflikt ist zunächst klassisch imperialistisch, da auf der einen Seite die EU und die USA seit 2013/14 eine Regierung stützen, die dem europäischen Binnenmarkt beitreten möchte, während Russland eine Autonomiebewegung unterstützt, die für den Erhalt der bisherigen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland kämpft. Das besondere in der Ukraine war, dass sie vor dem Maidan einerseits und vor der russischen Invasion andererseits weder dem amerikanisch-europäischen, noch dem russischen Block angehörte und das Abschreckungspotential der Kernwaffen nicht vor den jeweiligen ausländischen Interventionen schützte. Somit wurde durch den Verlauf des Krieges die strategische Bedeutung der Kernwaffen unterlaufen.

In der aktuellen Situation gibt es die konventionelle Kernwaffen Russlands kein Ziel. Ein Angriff auf Kiew würde einen totalen Krieg auf Seiten des Westens hervorrufen, inklusive der Gefahr nuklearer Gegenschläge, der Verseuchung der eigenen Interessenssphäre und ohne taktischen Vorteil. Und selbst der Einsatz taktischer Kernwaffen würde gegen die in eher kleinen Gruppen operierenden mobilen Einheiten der Ukraine wenig ausrichten, hätte aber eine außenpolitische Isolation zur Folge, durch die Russland seine wahrscheinlichere Strategie, die Einfrierung des Konflikts über den Winter, nicht weiter verfolgen könnte. Es wundert daher nicht, dass die Medien schon mit abstrusen Theorien über Putins Zurechnungsfähigkeit argumentieren müssen, um die Gefahr des Einsatzes entsprechender russischer Waffen zu beschwören.

Vielleicht könnte man daher aus dem Krieg in der Ukraine lernen, dass ohne die großen militärischen Blöcke – insbesondere durch einen so fgefügtenesten wie die NATO – die nukleare Gefahr sinkt, wenngleich dies nicht für die allgemeine Konfliktgefahr gilt. Weiterhin sollte das aktuelle Zeitfenster und das Bewusstsein für die Gefahren eines Atomkrieges durch die Friedensbewegung genutzt werden, um Druck auf eine effektive internationale Rüstungskontrolle auszuüben, bevor ein neuer Kalter Krieg zuvorkommt. Wenig hilfreich in Deutschland ist, dass sich SPD und Grüne weitestgehend aus der Friedensbewegung verabschiedet haben. Und drittens muss natürlich die Ursache der Notwendigkeit von Kernwaffen – der Imperialismus – bekämpft werden. Und das lässt sich nur durch sozialistische Umgestaltung erreichen. So oder so: Ohne Sozialismus hat die Menschheit keine Zukunft.

Literatur:

Desai, R. (2022): The Long Shadow of Hiroshima: Capitalism and Nuclear Weapons. In: International Critical Thought. Jahrgang 12, Ausgabe 3, S.349-369.

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