Rezension: Der Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis 2021

⋄ Der Deutscher-Preis 2021 wurde an Ronald Grigor Suny für seine Biographie „Stalin – A Passage to Revolution“ verliehen.

⋄ Der Deutscher-Preis ist der bedeutendste Preis für internationale marxistische Literatur und wird aus Kreisen der
Historical Materialism und New Left Review vergeben.

⋄ Suny zeichnet das Bild Stalins als das eines aufrichtigen und hingebungsvollen jungen Revolutionärs im Kontrast zu einem späteren Machtpolitiker.

⋄ Der Artikel vertritt die These, dass das Buch nicht hinreichend innovativ ist, um sich für den Preis zu qualifizieren.

⋄ Der Artikel schlägt vor, dass der Preis die marxistische Thgeoriegeschichte besser abbilden würde, wenn er nicht nur an jahresaktuelle Werke vergeben würde.

Isaac Asimov ist unbestritten eine der größten Lichtgestalten in der Geschichte der Science Fiction. Dabei waren es nicht nur seine großen Romane, die ihn so populär machten, sondern auch sein Wirken als Herausgeber, welcher hunderten oder tausenden junger Talente den Einstieg in das Schriftstellerdasein eröffnete. Als 1973 sein Roman The Gods Themselves erschien, fiel der Jury des wichtigsten Genre-Preises, des Hugo-Awards auf, dass Asimov in der Hauptkategorie – der des besten Romans – bisher leer ausgegangen war. Seit 15 Jahren hatte der Großmeister auch keinen solchen mehr eigenständig veröffentlicht und der Foundation-Zyklus entstand noch vor dem ersten Hugo-Award. Es stand jedoch außer Zweifel, dass mindestens zwei der anderen nominierten Werke den Asimov-Roman literarisch in den Schatten stellten. Wie verfährt man nun, wenn ein*e große*r Autor*in eigentlich eine Preis verdient hätte, das aktuelle Werk es aber nicht hergibt? Ist es gerecht, diesen dann anderen vorzuziehen, die das momentan bessere Buch verfassten, aber nicht den Bruchteil der Qualität des Gesamtwerks zu leisten im Stande waren? Ähnlich kann man sich vermutlich den Entscheidungsprozess der Jury des Deutscher-Preises vorstellen, der Ende letzten Jahres vergeben wurde.

Der Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis

Der Isaac und Tamara Deutscher Preis wird seit 1969 für neue Bücher vergeben, welche am besten oder innovativsten in oder über marxistische Tradition schreiben. Mit diesem Preis werden zum einen die Namensträger geehrt, die unter anderem durch für die damalige Zeit wegweisende Biographien über Stalin und Trotzki bekannt wurden. Zum anderen soll eine kleine Bühne für interessante marxistische Literatur aller Gattungen geschaffen werden. Der Jury gehört unter anderem Alex Callinicos oder der ehemalige Preisträger Chris Wickham an. Der Preis steht der New Left Review und der Historical Materialism nahe, welche auch Interviews und Rezensionen der Gewinnerwerke veröffentlichen. Dass bisher auffällig häufig Bücher des Haus-und-Hof-Verlags der beiden Journale Verso gewonnen haben, welcher, verleiht der Veranstaltung manchmal den Eindruck einer kleinen Werbeaktion. Unter den bisherigen Preisträgern finden sich jedoch auch sehr renommierte Autoren, wie Rudolf Bahro, David Harvey, Eric Hobsbawm, Leo Panitsch oder Kohei Saito. Die fehlende Genderung ist kein Versehen. Bisher haben ausschließlich Männer den Deutscher-Preis erhalten. Positiv hingegen ist, dass jede*r ein Buch mit Begründung nominieren darf.

Sunys Stalin-Biographie

Ende letzten Jahres zeichnete die Jury das Werk „Stalin: Passage to Revolution“ von Ronald Grigor Suny aus. Das Leitmotto des Buches ist das alte russische Sprichwort, von der Wahrheit nicht mehr zu erwarten als sie hergibt. Der Untertitel „Passage to Revolution“ erklärt den Charakter des Buches vortrefflich. Die Passage verweist darauf, dass Suny Stalins Leben als eine Entwicklung beschreiben möchte, deren Ende noch nicht im Anfang angelegt war. Er teilt das Leben Stalins mit seinen drei Namen ein: In das Leben als Soso, einen Schüler im Klosterseminar der aus der Mitte eines „Volkes ohne Geschichte“ stammt; in Koba, den jungen und heiß glühenden Revolutionär, der aus Liebe zum einfachen Volk in den Widerstand zum Zarismus trat und Stalin, den kühlen Machtpolitiker und vermeintlichen grausamen Diktator.

Die Revolution im Untertitel meint nicht nur, dass sich Stalin – so wie Lenin – der Revolution verschrieb, sondern dass er im Laufe der Zeit selbst eine persönliche Revolution erlebte:

„Im Laufe der Zeit lösten harte politische Entscheidungen die Empfindsamkeit des romantischen Poeten ab. […] Empathie wurde durch instrumentelle Grausamkeit abgelöst. Einmal an der Macht wurden die früheren Gefühle vom Willen, die Macht zu erhalten, für die man so mühsam und scherzhaft gekämpft hatte. Macht wurde die Triebfeder, als die Bedingungen, in welchen welchen sich die Bolschewiki wiedergefunden hatten, sie zwangen, ungewollte Entscheidungen zu treffen.“ (Suny 2021, S.694)

Stalin gibt es also nach Suny zwei Mal: Als jungen Georgier, über den die anekdotische Evidenz fast nur Gutes zu berichten weiß und den eiskalten Machtpolitiker, der mit Clausewitz in der Logik des Krieges statt in der Logik der Kompromisse denke. Und von der Logik der Gewalt sei es dann kein weiter Weg zur „Surplus Violence“ des Großen Terrors. Haft, Untergrund und Verbannung treten als Vermittler zwischen Soso/Koba und Stalin auf und die niedergeschlagene Revolution 1905/07 habe in Stalin die Erkenntnis geweckt, dass politische Kämpfe bis zu Ende geführt werden müssten. Eine der wenigen Konstanten sei, dass Stalin die Klassenfrage stets mit der Nationalitätenfrage verbinde. So ist es narrativ kein weiter weg von der Gleichsetzung von Armeniern in Georgien mit der Bourgeoisie bis hin zu Umsiedlung und Bekämpfung als Kulaken identifizierter Völker.

Ein Preis für den Autor, nicht das Werk

Die Biographie des jungen Stalin ist exzellent recherchiert und gut geschrieben. Vielleicht ist es sogar die beste je geschriebene. 30 Jahre lang hat sich Suny Zeit gelassen, hat den Verlag gewechselt und das Buch reifen lassen. Das fällt zum Beispiel positiv im Vergleich zur Biographie Peter Kotkins auf. Dieser hat in wenigen Jahren so intensiv recherchiert, dass er von Stalin zu träumen begann. Kotkin zieht in nervöser Hektik geradezu wöchentlich Bilanz über Stalins Lebens und verliert dabei häufig den Kontext aus den Augen. Sunys Markenzeichen, die Geschichte der Sowjetunion nicht aus der russlandzentristischen Sicht, sondern auch aus Sicht der kleineren Völker erzählen zu können, strukturiert hingegen als roter Faden die mehr als 800 Seiten ausgezeichnet.

Dennoch hat man das Gefühl, als hätte man alles schon einmal bei Deutscher, Wolkogonow, Trotzki, Kotkin, Chlewnuk oder Montefiore gelesen. Das Thema junger Stalin wirkt abgegrast. Daher verfehlt das Buch auch den Anspruch des Preises, thematisch innovativ zu sein. Überhaupt müssen sich Marxist*innen die Frage stellen, welches Erkenntnisinteresse hinter der Erforschung der Jugendjahre Stalins steht. Kann man aus diesen Schlüsse auf den Stalinismus ziehen, wenn man so die Regierungs- und Herrschaftsform der UdSSR zwischen den Mitte Zwanzigern und Fünfzigern so nennen will, ohne zu psychologisieren?

Müssten nicht die internationale wie innersowjetische Klassenkämpfe tiefgehender analysiert werden, um abzuleiten, warum Stalin an die Macht kam und warum er sie gebrauchte, wie er es tat? Denn auch, wenn das Leben Stalins völlig anders verlaufen wäre und er nicht zum Generalsekretär der KPdSU aufgestiegen wäre: Die Frage der Neuen Ökonomischen Politik, der ausgebliebenen Weltrevolution und der Bedrohung durch den Faschismus hätten sich der jungen Sowjetrepublik gleichermaßen gestellt. Das Motiv der Gewalt erklärt nur wenig, wenn nicht auch gesagt wird, durch wen, für wen und gegen wen sie verwand wurde. Und fehlt nicht noch historisch-materialistische Grundlagenforschung zur Erklärung des Großen Terrors anstatt mit der „Surplus Violence“ eine oberflächliche Referenz auf Marx zu konstruieren? Der Mehrwert der Antworten auf diese Fragen läge in einer genaueren Bestimmung der Dialektik zwischen revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt. Aber taugen zu dieser Klärung Stalins Jugendjahre? Suny trennt gerade bewusst den Generalsekretär Stalin aus Moskau vom jungen Revolutionär und Romantiker aus dem Kaukasus und der vermittelnde Brutalisierungstopos ist alles andere als neu. Gibt die Wahrheit wirklich nicht mehr her?

Das große Problem des Preises

Ronald Suny ist ohne Frage ein würdiger Preisträger. „Stalin – Passage to Revolution“ ist es eher nicht. Und überhaupt: die Liste der bisherigen Preisträger umfasst viel Mittelmaß, während einige tatsächlich nachhaltig diskutierte Werke fehlen. Man denke an die Bedeutung Moishe Postones, Michael Heinrichs oder Immanuel Wallersteins. Standardwerke der Wertkritik und Wertformanalyse fehlen ebenso wie die von Frauen, wie Frigga Haug oder Silvia Federici. Vielleicht sollte man dazu übergehen, erst nach längerer Begutachtung und einer hinreichend breiten Wirkungsgeschichte Bücher mit dem Deutscher-Preis auszuzeichnen. Dann käme man vielleicht nicht mehr in die Verlegenheit, eine*n Autor*in berechtigt auszeichnen zu wollen, auch wenn das aktuelle Werk es nicht hergibt. Soll das Ziel sein, jungen talentierten Marxist*innen ein Forum zu bieten, wäre vielleicht eine Unterteilung des Preises in einen Hauptpreis und einen Newcomer-Preis.

Da jedoch Ronald Grigor Suny ein Autor ist, dessen Werk tatsächlich die Erforschung der sowjetischen Geschichte maßgeblich bereichert hat und für den sich vollkommen zu Unrecht noch kein deutscher Verlag für eine Übersetzung erwärmen konnte, werden im nächsten Artikel zwei seiner Hauptwerke zum Völkermord an den Armenier*innen und zur Kommune von Baku vorgestellt.

Literatur:

Suny, R. G. (2021): Stalin – Passage to Revolution. Princeton: Princeton University Press.

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