Mit Engels die Drosophila-Fliege verstehen

To Frederick Engels,

who got it wrong a lot of the time

but who got it right where it counted.

Lewontin & Levins, The Dialectical Biologist, S.1

⋄ Noch immer wird kontrovers über die eigenständigen Beiträge zur Wissenschaft von Friedrich Engels diskutiert.

⋄ Camilla Royle rekapituliert in der Human Geography diese Diskussion und verbindet diese mit ihrer eigenen politischen und akademischen Laufbahn.

⋄ Insbesondere stellt sie das Werk Richard Lewontins heraus.

⋄ Lewontin war nicht nur anerkannter Evolutionsbiologe und Genetikforscher, sondern auch politischer Aktivist und bekennender marxistischer Dialektiker.

⋄ Er wies die naive Trennung von Beobachter und Beobachtung, Subjekt und Objekt, sowie Wissenschaft und Gesellschaft scharf zurück.

Gerade im Zuge des 200. Geburtstages von Friedrich Engels ist viel über seine Partnerschaft zu Karl Marx, seine Verdienste um den Marxismus als politische Entität und seine eigenen Beiträge zum wissenschaftliche Sozialismus geschrieben worden. Dabei ist wohl kaum ein Thema so umstritten, wie seine Naturdialektik, gilt heute den meisten Menschen doch die Trennung von Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaften als heilige Kuh. Ihre Zusammenführung wird daher leicht als positivistischer bis esoterischer Kitsch abgetan.

Camilla Royle beschreibt in der Human Geography, wie die Dialektik der Natur nach Engels´ Tod weiter diskutiert und entwickelt wurde. Sie würdigt in diesem Zusammenhangdas Werk Richard Lewontins und bettet ihre Betrachtungen in ihre persönliche Biographie ein. Denn die Trennung von Subjekt und Objekt bleibt bürgerliche Schummelei. Zumindest nach der dialektischen Theorie.

Friedrich Engels in der eigenen Biographie

Camilla Royle macht etwas für einen wissenschaftlichen Artikel sehr ungewöhnliches. Sie bettet ihre Betrachtung der Engelsschen Naturdialektik in ihre persönliche akademische Geschichte ein. Sie versucht damit zu beschreiben, wie Marxismus auch zu einer Naturwissenschaftlerin kommen kann.

Royle beginnt ihre Geschichte in der Zeit als Studentin am Imperial College in London. Dass das College keine eigenen geisteswissenschaftlichen Fakultäten besaß, schränkte den Horizont der Student*innen keineswegs ein. Vielmehr legten die Dozent*innen in Biologie oder Physik umso größeren Wert darauf, dass die Inhalte auch vor ihren Wirkungen auf die Gesellschaft reflektiert würden. In dieser Zeit um 2005 sei die außerparlamentarische Linke gestärkt aus den Protesten gegen den Irak-Krieg hervorgegangen. Der Aufstieg der British National Party und ihres rassistischen Programms, dass die BNP auf biologische Fakten gestützt sah, erforderte sowohl praktischen Protest, als auch theoretische Widerlegung. Die erstarkende Umweltschutzbewegung musste sich immer wieder zwischen den Widersprüchen von sozialen und ökologischen Aspekten, aber auch zu deren Auflösung positionieren. So erinnerte sich Royle an die Besetzung von Veste auf der Isle of Wight im Sommer 2009. Die Firma stellte Rotorblätter für Windräder, aber auf Grund eines Nachfrageeinbruchs drohte ihr die Schließung. Die Student*innen lernten, dass es keine politisch neutrale Naturwissenschaft gab, dass Natur, Gesellschaft und Individuum miteinander in beständiger Wechselwirkung standen.

Einer der theoretischen Urväter der dialektischen Verschränkung von Geschichte und Umwelt war Friedrich Engels und sein unvollendetes Werk Die Dialektik der Natur. Fast alle Vorbilder Royles an politisierten Biolog*innen – Stephen Jay Gould, Lynn Margulies, Richard Levins, Richard Lewontin and Steven and Hilary Rose – wären in irgendeiner Form von Engels beeinflusst gewesen. Sie kämpften neben der Lehre und Forschung gegen den Vietnamkrieg oder an der Seite der Black Panther und in der Forschung und Lehre widerlegten sich rassistische Stereotype oder dass der Kapitalismus die Krönung von vier Millionen Jahren Menschheitsgeschichte sein könne.

Diese Rahmengeschichte nutzte nun Royle, um sich der Diskussion um Engels, sowie dem Wirken von Richard Lewontin und Richard Levins anzunähern.

Die Rezeption von Engels´ Theorie der Naturwissenschaften

Die Dialektik der Natur kreist sich kurz gefasst um zwei Fragen:

1. Kann die Natur durch die Methode der Dialektik (besser) erkannt werden?

2. Verhält sich die Natur selbst dialektisch?

Engels kritisiert in erster Linie den zu jener Zeit vorherrschenden Empirismus, welcher die Naturwissenschaft mehr oder weniger als eine Ansammlung von Fakten betrachtete, die man durch Sinneseindrücke wahrnehmen könne. Damit könne man aber nur feststellen, was ist und nicht dass das Vorgefundene Werdendes und Gewordenes ist. Engels stellte dem Empirismus einen ewigen Zyklus entgegen, in welchem sich die Materie durch den Umschlag von Quantität in Qualität, wechselseitige Durchdringung und das Gesetz von der Negation der Negation ständig bewege.

Das Werk avancierte schnell zum vielleicht umstrittensten Text des Marxismus. So kritisierte György Lukacs in Geschichte und Klassenbewusstsein, dass Engels unkritisch eine Methode von Marx übernehme, die garnicht zur Naturbeobachtung geeignet sei. Es sei positivistisch, die Widersprüche, die Marx explizit für die Klassengesellschaften kritisch herausarbeitete (um sie zu überwinden) als übergeschichtliche Gesetze der Natur anzusehen.

Für Royle hingegen ist es eher unwichtig, ob Engels nun Recht oder Unrecht gehabt habe, da ihr Interesse dem Prozess der Diskussion um die zwei Hauptfragen und damit der Dialektik von Natur und Gesellschaft gilt. Hier bezieht sie sich auf Richard Lewontin, den sie selbst im Rahmen ihrer Abschlussarbeit interviewen konnte.

Richard Lewontin

Viele haben sicher bereits vom Spruch gehört, dass die genetische Bandbreite innerhalb einer „Rasse“ größer ist als die zwischen den als Rassen markierten Gruppen. „Rassismus geht nicht unter die Haut.“ Rasse ist somit eine sozial kosntruierte und keine biologisch begründbare Kategorie. Diese Erkenntnisse gehen auf den US-amerikanischen Evolutionsbiologen Richard Lewontin zurück. Nur wenige wissen allerdings, dass Lewontin Marxist und insbesondere in seinem Arbeitsgebiet Engelsianer gewesen ist.

Der 1929 in New York geborene Richard Charles Lewontin starb erst kürzlich am 4. Juli letzten Jahres. Er studierte Biologie, mathematische Statistik und Zoologie an den Universitäten von Harvard und Columbia und war maßgeblich an der Entwicklung der mathematischen Grundlagen der Evolutionstheorie und Populationsgenetik beteiligt. Als einer der ersten Wissenschaftler überhaupt untersuchte er den Einfluss von molekularen Strukturen auf biologische Entwicklungsprozesse. Sein bekanntester Untersuchungsgegenstand war die Drosophila-Fliege, am Beispiel derer er seine Argumente gegen genetischen Determinismus demonstrierte. Weiterhin wandte er sich gegen die Konzepte der Fitness nach Darwin und gängige Interpretationen des Intelligenzquotienten. Am kontroversesten wurde sicherlich seine Kritik an Richard Dawkins aufgenommen, dem er liberalen Reduktionismus vorwarf.

Lewontin sah sich selbst als Marxisten an und arbeitete Konzepte von Marx, Engels, Lukacs oder Mao in seine theoretischen Vorstellungen ein. Besonders die Dialektik von Gen, Organismus und Umwelt hatte es ihm angetan. Lewontin vergaß nie, dass selbst die Naturwissenschaften nicht frei von politischen Einflüssen waren. Wenn man nur genau die Gensequenzen heraussuchte, die angeblich die Rassen voneinander unterschieden, dann würde man auch fündig. Die Frage, warum man aber gerade diese Sequenzen suche, sei eine gesellschaftliche. Außerhalb seiner akademischen Forschung und Publizistik setzte er sich politisch gegen Rassismus und für eine sozialistische Gesellschaft ein. Er war eines der prominentesten Mitglieder von Science for the People, engagierte sich gegen den Krieg in Vietnam und unterstützte die Black Panther, soweit es in seiner Macht stand.

Der dialektische Biologe

Zusammen mit Richard Levin veröffentlichte Lewontin 1985 The Dialectical Biologist. Für Levins und Lewontin war es in diesem Buch keine Frage, ob Naturwissenschaftler*innen mit einer gewissen Voreingenommenheit ihren Gegenstand untersuchen, sondern nur, ob sie sich dessen bewusst seien. Der Naturdialektik schrieben sie drei Eigenschaften zu: Erstens lehnten sie einen dialektischen Formalismus ab, der sich analog zu den Naturgesetzen verhielte. Dies könne zweitens schon alleine deshalb nicht sein, da die Dialektik nicht rein in der Natur vorfindbar sei, sondern es eine Dialektik zwischen Objekt und Subjekt, Beobachter und Beobachtetem gäbe. Naturwissenschaft und Natur seien drittens getrennte Dinge, die Naturwissenschaft selbst sei die dialektische Vermittlung zwischen Mensch und Natur. Die Naturwissenschaft setze die Trennung des Menschen von der Natur, also dessen Entfremdung, voraus. Die Entfremdung des Menschen von der Natur ist jedoch Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, der Klassengesellschaft. Entfremdung ist somit gleichzeitig real objektiv (wie eine Naturwissenschaft) und gleichzeitig ideologisch (wie eine Gesellschaftswissenschaft).

Entfremdete Naturwissenschaft behandle die Umwelt als Objekt, dialektische problematisiere das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Die Pointe sei, dass es abschließend wieder die Naturwissenschaft als Motor der Produktivkraftentwiclung ssei, welche die Fesseln der alten Produktionsverhältnisse sprenge und den Weg für neue ebne, welche die Entfremdung auf höherer Stufenleiter wieder aufhebe.

Zur Illustration der Erscheinung von Dialektik in der Natur führen die beiden Autoren viele Beispiele an. So sehen sie die Evolution als dialektischen Prozess, der auch die Umwelt verändert. Die Natur stellt den Organismus vor ein Problem, welches dieser lösen muss. Aus der Problemlösung können sich nun Konsequenzen für die Natur ergeben, die zu wieder neuen Lösungsstrategien hinlenken.

Ein zweites Beispiel kann direkt an der Geschichte des Menschen erläutert werden. So ist der Boden gleichzeitig Objekt und Subjekt von Entwicklung. Wird der Boden bearbeitet, verändert sich seine Beschaffenheit. Vermutlich ist er nach einigen Jahren ausgelaugt. Daher müssen sich die Menschen mit Düngung und anderen Form der Verwohlfeilerung des Bodens beschäftigen. Im Ergebnis werden wiederum weniger Flächen an Boden gebraucht, die nun zum Beispiel wieder aufgeforstet werden können. Andererseits kann die Düngemittelindustrie die menschliche Gesellschaft wieder vor neue Probleme stellen.

Dieses Beispiel zeigt auch gut, dass Marxismus keineswegs ein Determinismus ist. Gelingt es einer Gesellschaft beispielsweise nicht, ihren Boden effektiver zu bewirtschaften, so verharrt sie womöglich für Jahrhunderte auf einer gesellschaftlichen Entwicklungsstufe oder geht ganz zu Grunde. Im Übrigen hat der von Engels kritisierte Empirismus selbst eine innere Dialektik. Durch das exponentielle Wachstum von Daten muss der Empirismus diese strukturieren, um ihrer Herr zu werden und verlässt damit den Boden der ursprünglichen methodischen Unschuld.

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man Lewontins Aktualisierung der Engelsschen Dialektik in drei Punkten zusammenfassen:

1. Dialektik in den Naturwissenschaften ist keine Methode, sondern die Problematisierung der Methode in ihrem Zusammenhang von Beobachter und Experiment. Sie ist kein Gesetz, sondern die Problematisierung der Frage, unter welchen ideologischen Voraussetzungen wir naturwissenschaftliche Gesetze formulieren. Sie ist keine eigene Wissenschaft, sondern die Problematisierung der Trennung von Natur und Mensch in der Naturwissenschaft.

2. Dialektik untersucht die wechselseitige Durchdringung von Objekt und Subjekt. Sie untersucht den Prozess, wie Subjekte auf ihre Objekte einwirken und durch das veränderte Objekt selbst wieder Gegenstand von Veränderung werden. Sie hebt also die starre Trennung von Subjekt und Objekt, von Ursache und Wirkung auf. Gesellschaftlich lässt sich das am besten an der Rolle des Proletariats demonstrieren. Das Proletariat ist zunächst Objekt der Klassenverhältnisse. Es ist gezwungen, dieses und jenes zu tun, weil es keine Produktionsmittel besitzt. Wenn es sich jedoch zum Subjekt der Geschichte erhebt und Veränderungen bewirkt, schafft es damit neue Rahmenbedingungen und neue Zwänge oder Freiheiten.

3. Dialektik thematisiert den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Ideologie. Naturwissenschaft stellt nur die Fragen, die sie ideologisch fragen kann; sie verwendet nur die Methoden, die sie ideologisch verwenden kann. Dialektik nimmt der empirischen Forschung ihre methodische Unschuld, indem sie fragt, welche Fragen warum und wie an die Natur gestellt werden. Es kommt nicht von Ungefähr, dass der menschliche Organismus im Zeitalter der Industrialisierung als Maschine, heute eher als Algorithmus interpretiert wird und in Zeiten mit weniger Arbeitsteilung als holistisch interpretiert wurde.

Camilla Royle wird ihrem Gegenstand im Aufsatz damit gerecht, wenn sie den objektiven Gegenstand, über den sie Auskunft gibt, Entwicklung und Kritik der Engelsschen Naturdialektik, nicht von ihrer persönlichen Entwicklung zu trennen versucht. Ebenso passt der interdisziplinäre Ansatz, Geographie und Biologie zu verbinden der Form nach hervorragend zum Inhalt. Ihr gelingt es, Engels und Lewontin als Quellen einer kritischen und teitgemäßen Naturwissenschaft in Szene zu setzen.

Literatur:

Engels, F. (1962): Dialektik der Natur. In: Marx-Engels-Werke 20. Berlin (Ost): Dietz.

Levins, R. & Lewontin, R. (1985): The Dialectical Biologist Cambridge. Massachusetts: Harvard University Press.

Royle, C. (2022): Thinking as an Engelsian. In: Human Geography. Jahrgang 15. Ausgabe 1. S.66-72.

Anmerkung:

Titelbild von MRonline (CC4.0-Lizenz (by-nc-nd)); https://mronline.org/2017/11/24/engels-theoretical-moment/

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