Die weißen Massai

⋄ Der Begriff der ursprünglichen Akkumulation beschreibt die gewaltsamen Prozesse der Enteignung der Bauern, welche dem Kapitalismus vorangingen.

⋄ In Europa fand sie weitestgehend in der Frühen Neuzeit statt, in Afrika dauerte sie bis in die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts an.

⋄ Zeit und die Entstehung der modernen in Sekunden messbaren Zeit spielt eine entscheidende Rolle in der ursprünglichen Akkumulation.

⋄ David Thomas Suell untersuchte diese Prozesse bei der Enteignung und Einhegung der Massai im heutigen Tansania und Kenia.

⋄ Er zeigte auf, wie stark die Zeit als ursprüngliche, kapitalistische und konservierte Zeit, eine wesentliche Rolle spielte.

Zeit gilt als objektiv. Als schon immer da gewesen. Kaum etwas kann mehr Wahrheitsanspruch für sich verbuchen, als eine in Minuten und Sekunden gemessene Zeit. In sportlichen Wettkämpfen sind Millionen davon fasziniert, wenn eine Zeit um hundertstel Sekunden unterboten wird. Um einen nicht mehr fühlbaren Unterschied. Der gut getimte Tagesrhythmus gilt als Statussysmbol und trennt ehrliche Arbeiter*innen von faulenzenden Halodris. Umso verwirrender ist der Gedanke, dass Zeit, die Sekunden messbare, immer fortlaufende Zeit historisch gesehen recht neu ist. Vielmehr noch: Sie ist zentrales Element der Durchsetzung der bürgerlichen Herrschaftsweise im Kapitalismus gewesen.

David Thomas Suell hat die Bedeutung der Dimension Zeit bei der ursprünglichen Akkumulation in Tansania und Kenia untersucht. In seinem Aufsatz The Creation of capitalist Time: Rethinking Primitive Accumulation through Conservation aus der aktuellen Society & Space zeigt er auf, welch vielfältige Rolle die Zeit bei der Enteignung der Massai spielte. Er schreibt damit ein spannendes Kapital über den Kolonialismus und die Hybris westlicher, philanthropischer Bewahrungspolitik.

Die ursprüngliche Akkumulation

Zunächst zur ursprünglichen Akkumulation. Das Konzept der ursprünglichen Akkumulation beschreibt, dass der Entstehung der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft ein riesiger Gewaltakt vorausgegangen ist. Bauern wurden von den Landbesitzern in die Städte vertrieben. Gemeinschaftlicher Besitz wie die Allmende wurde privatisiert. Die früher selbstständig arbeitenden Menschen mussten sich der Fabrikdisziplin unterwerfen. Sie wurden ihrer Produktionsmittel beraubt, sodass sie fortan sämtliche Lebensmittel gegen Geld als Waren kaufen und sich dafür dem stummen Zwang des Kapitals ergeben mussten. Welche Rolle die ursprüngliche Akkumulation bei der Ausbildung des modernen Patriarchats spielte, hat zum Beispiel Silvia Federici in Caliban und die Hexe streitbar, aber eindrucksvoll illustriert. In Europa beginnen diese Prozesse mit der Frühen Neuzeit und reichen in Deutschland bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. In anderen Teilen der Welt begannen sie jedoch erst mit der kolonialen Eroberung durch die europäischen Mächte und zogen sich bis in die 1950/60er Jahre. In einigen Teilen der Welt ist sie bis heute nicht vollständig abgeschlossen und Marxist*innen wie David Harvey (näheres hier) sehen in der weiteren Kommodifizierung der Welt sogar die zentrale letzte Reichtumsquelle des Spätkapitalismus.

Ursprüngliche Akkumulation und die Zeit

Ein häufig übersehenes Moment der ursprünglichen Akkumulation ist die Entstehung der Zeit im modernen Sinne. Eine gleichförmig fortlaufende, in Minuten, Sekunden und Femtosekunden einteilbare und präzise messbare Zeit gab es vor der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise nicht. Ein sehr zu empfehlendes Buch, – ein wirklicher Lesegenuss -, ist Eske Bockelmanns Im Takt des Geldes, in dem er an Hand der Entstehung des modernen Taktrhythmus die Entstehung der kapitalistischen Zeit und damit auch Gesellschaft veranschaulicht. Vor Beginn des kapitalistischen Zeitalters mitsamt ständig laufenden Maschinen, aufeinander abgestimmter Arbeitsteilung, elektrischem Licht und dem Zwang der Unternehmer, die Umschlagszeiten ihres Kapitals beständig zu verkürzen, besaßen die Menschen keinen modernen Zeitbegriff. Zeit strukturierte sich immer entlang der historischen Produktionsweise und das bedeutete für die frühen Agrargesellschaften, dass die Zeitvorstellung eng an den Jahreslauf gekoppelt war. Der heidnische und großenteils von den Christen übernommene Festkalender zeugt davon. Sonnenauf- und Sonnenuntergang strukturierten die einzelnen Tage. Allein für die Geistlichen war die Uhrzeit aus sakralen Gründen von Bedeutung.

Natürlich führen auch unterschiedliche klimatische Bedingungen zu einem unterschiedlichen Verständnis von Zeit. In der Nähe des Äquators beispielsweise sind die Jahreszeiten unbedeutend. Hier strukturieren Regenphasen das Leben. Ein zentraler Punkt der Studie Suells ist es nun, dass Zeitdefinitionen umkämpft sind und die Herrschaft über die Zeit ein wesentlicher Aspekt der Kämpfe um die ursprüngliche Akkumulation ist. Dies illustriert er an der Enteignung der Massai.

Die Enteignung der Massai

Die Massai sind eine ethnische Volksgruppe, welche in den heutigen Staaten Tansania und Kenia lebt. Momentan rechnen sich ca. zwei Millionen Menschen zu den Massai. Häufig werden sie als nomadisches Volk von Viehzüchtern beschrieben. Aber das ist so nicht haltbar. Vielmehr ist es so, dass sich das Klima in Ostafrika in größeren Zeitabständen sehr stark wandeln kann, was dazu führt, dass temporär Ackerbau und andere Formen der Bodenbewirtschaftung günstiger sind. Den Höhepunkt ihrer Macht erreichten die Massai daher wohl Mitte des 19. Jahrhunderts, als sie auf Grund ihrer überlegenen Anpassungsfähigkeit an den Wandel der Natur andere Stämme von ihren Territorien vertreiben konnten. Diese Wandlungsfähigkeit bedeutete aber auch, dass politische Strukturen sehr flexibel waren und auch die Natur ständig von den Massai anders gestaltet wurde. Um so anpassungsfähig zu bleiben, waren die Massai jedoch darauf angewiesen, viel Raum auf der Suche nach opportunen Produktionsweisen nutzen zu können.

Als die britischen Kolonialmächte in der Folge deutscher Expeditionen in den Gebieten der Massai eintrafen, fanden sie numerisch dezimierte und politisch erschütterte Gemeinwesen vor. Nur wenige Jahre zuvor hatte eine Rinderpest gewütet, die geschätzte 90% der Viehbestände ausgerottet hatte. Selbst für die flexiblen Massai war dies ein singuläres Ereignis, wurde die Rinderpest doch im Zuge des Kolonialhandels durch die Italiener über Äthiopien eingeschleppt, nachdem sie aus Asien nach Europa gelangt war. Die Umbruchprozesse, die im Zuge der Lebensmittelknappheit und der Umstellung auf neue Produktionsweise zwangsläufig entstanden und natürlich auch die politische Struktur betrafen, wären vielleicht sogar bewältigbar gewesen. Allerdings machten sich die weißen Kolonisatoren schnell an die Einhegung des Landes. Dabei ist nicht einmal das Land entscheidend, welches den Massai direkt genommen wurde, sondern die Ausweichgebiete, die essentiell für die Flexibilität waren. Die durch die Rinderpest zerrütteten Gemeinwesen hatten nicht genug Widerstand entgegenzusetzen.

Die dünne Decke der Zivilisation

Die beschriebenen Ereignisse hatten jedoch noch weitgehendere ideologische Folgen. Die zeitweise sehr ausdifferenzierten und produktiven Gesellschaftssysteme der Massai wurden von den Briten im Augenblick ihrer Schwäche vorgefunden. Diese temporäre Schwäche definierten die Briten jedoch als das eigentliche Wesen der Massai. Und diese kurzzeitige Schwäche der Massai legitimierte in den Augen der Briten die europäische Zivilisation als überlegen, um dann patriarchalisch den Massai aus ihrer unverschuldeten Notlage herauszuhelfen. Dazu wäre Großbritannien natürlich berechtigt, weiße Siedler anzuheuern, um „richtigen Ackerbau“ zu lehren. Zu lehren kann man so verstehen, dass die einheimische Bevölkerung als Quasi-Sklaven auf den Feldern schuften durfte.

Das geschaffene Bild war sogar so wirkmächtig, dass, als die kolonialen und postkolonialen Regierungen zwischen 1950 und 1970 in Tansania und Kenia den Massai eigene Gebiete zuwiesen, diese in oder angrenzend an Nationalparks gelegt wurden. Mittlerweile sind 40% des Landes in Tansania und 19% in Kenia solche Reservate. Der englische Begriff Conservation Zone verdeutlicht das daraus entstehende Dilemma. Es ist schon alleine ein Anachronismus anzunehmen, eine Natur wie die Ostafrikas, die beständig klimatischen Schwankungen unterliegt, ließe sich konservieren. In der Serengeti funktioniert das ironischerweise nur durch massiven menschlichen Eingriff. Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Massai in den Reservaten wurden auf einem Stand „eingefroren“, der eigentlich nur ein Zeugnis kurzzeitiger Schwäche war. Den Massai wurde und wird somit die eigentliche Stärke genommen, nämlich sich an die neuen Zeiten anzupassen. Die Bindung an die Reservate und die Zersiedelung der übrigen Gebiete macht die nomadische Lebensweise praktisch unmöglich.

Wem nützt dies? Staat und private Investoren verdienen am Tourismus. Die Massai verdingen sich als Schausteller angeblich traditioneller Folklore und Händler*innen von Souvenirs, da ihnen die Autonomie für eine eigenständige, nicht warenförmige Produktion und Reproduktion genommen wurde. Was die Besucher vorgesetzt bekommen, bedient somit nicht das Interesse an fremden Kulturen. Das archaische und patriarchale Schauspiel – die Zeit der Schwäche der Massai war auf Grund der Kriege vorübergehend durch die Dominanz der Männer geprägt, ansonsten hatten Frauen gleichberechtigten Zugang zu gesellschaftlichen Entscheidungen – bedient das Interesse an der Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Tatsächlich wäre die einzige politische Reform, welche den Massai eine autarke Produktion außerhalb der kapitalistischen Industrialisierung ermöglichen würde, die Abschaffung des Privatbesitzes an Land in Kenia und Tansania. Um solche Forderungen durchzusetzen, fehlt es jedoch (noch) an politischem Gewicht, auch deswegen, weil die größten „Fürsprecher“ der Massai dem Fehlglauben der einstigen Briten bis heute erliegen.

Zusammenfassung: die Dimension Zeit

Fassen wir noch kurz zusammen, welch vielfältige Rolle die Dimension Zeit bei der Enteignung der Lebensgrundlagen der Massai spielte.

1. Ursprüngliche Zeit

Die Massai folgten einem Naturrhythmus, der von dem europäischen grundsätzlich verschieden ist. Die klimatischen Veränderungen waren wesentlich langfristiger und erforderten ein hohes Maß an Flexibilität der Produktionsmethoden. Dies war und ist mit dem Kapitalismus und dauerhaftem Grundbesitz an Boden nicht vereinbar, da unterschiedliche klimatische Verhältnisse auch unterschiedliche geographische Antworten erfordern.

2. Zeitpunkt der Eroberung

Für die Enteignung der Massai war der Zeitpunkt ein entscheidender. Die Briten begannen mit den Einhegungen und der Vergabe des Landes an Siedler, als die Massai gerade geschwächt waren und sich in einer Reorganisationsphase befanden.

3. Konservierte Zeit

Die gesellschaftlichen Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt wurden dann von den Kolonialherren konserviert. Das drückt sich durch die Einhegung der Natur und der Menschen in Naturschutzgebieten aus. Den Massai ist damit jegliche Möglichkeit genommen, sich autonom an die realen Verhältnisse anzupassen. Sie dienen als Relikte der Vergangenheit und damit als Legitimation der kapitalistischen Moderne.

4. Kapitalistische Zeit

Da die Massai nun im Wesentlichen im Tourismus und im Verkauf kleiner handgefertigter Waren tätig sind, hat die kapitalistische Zeit an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Touristengruppen kommen zu auf die Minute genau festgelegten Uhrzeiten, die vorgeführten Rituale haben die dafür bezahlte Dauer. Selbst in ihrer Funktion als Repräsentant*innen einer vergangenen Zeit, haben sie sich strikt an die moderne Zeit zu halten.

Es zeigt sich, wie menschenverachtend die scheinbar philantrophen Motive derer sind, die in Schutzgebieten Mensch und Natur bewahren wollen, obwohl sie beständigen Wandel unterliegen. Anstatt den Bewohner*innen das Land zur eigenen Bewirtschaftung zu überlassen, haben die Massai sich den Bedürfnissen nach eigener Bestätigung durch die Kolonialmächte und deren postkolonialen Sachverwalter zu beugen. Die Unterstützung der Kämpfe der Massai kann nur die Unterstützung zu den Konditionen dieser sein, ob sie ins europäische Weltbild passen oder nicht. Und anhand der Kategorie Zeit zeigt sich, dass dieser Kampf auch einen prinzipiellen Bruch mit Kategorien der kapitalistischen Moderne bedeutet. Mit der Darstellung dieses Konfliktes hat David Thomas Suell eine lesenswerte und tiefgründige Studie ausgearbeitet.

Literatur:

Bockelmann, E. (2004): Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens. Springe: Zu Klampen.

Federici, S. (2017): Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Berlin, Wien: mandelbaum.

Suell, D. (2022): The creation of capitalist time: Rethinking primitive accumulation through conservation. In: Society and Space. Online only. DOI: 10.1177/02637758221123815.

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