Extraktivismus in Argentinien

⋄ Angesichts massiver Umweltzerstöungen und dem massenhaften Displacement inidgener Stämme steht das südamerikanische Wirtschaftsmodell des Extraktivismus seit Jahren in der Kritik.

⋄ Das klassische Modell des Extraktivismus ist jedoch unterkomplex und verkennt die Zusammenhänge mit der globalen Kapitalakkumulation.

⋄ Nicolás Pérez Trento von der Universidad Nacional de Quilmes in Argentinien hat sich mit dem Extraktivismus in Argentinien auseinandergesetzt.

⋄ Er zeigt auf, dass es zwischen Peronismus und Kirchnerismus eine große Kontinuität gibt.

⋄ Seine Analyse zeigt auf, dass eine nachhaltige Bekämpfung des Extraktivismus nur sozialistisch möglich ist.

Die Kritik am Extraktivismus – also am hemmungslosen Abbau von Bodenschätzen oder einer extensiven Landwirtschaft für den Export – hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Während die ökologischen Bewegungen des Westens die Folgen für das Klima fürchten, kämpfen in den peripheren Ländern vor Ort Indigene gegen den Verlust ihres Landes. Korruption und Vetternwirtschaft liegt vor allen Dingen den Liberalen schwer im Magen. Die Linke ist in ihrer Kritik noch am vorsichtigsten, da die Exporteinnahmen die wesentliche Stütze der jeweiligen Sozialsysteme darstellen. Doch auch die sehen die Gefahr der Instabilität und Abhängigkeit vom Weltmarkt und den imperialistischen Ländern kritisch.

Nicolás Pérez Trento von der Universidad Nacional de Quilmes in Argentinien hat sich mit dem Extraktivismus in Argentinien auseinandergesetzt. Er kritisiert Verkürzungen durch das liberale Modell und erweitert um die marxistische Theorie des Weltmarktes und der Differentialrente.

Die Problemstellung

Seit der Wirtschaftskrise von 2001 sind die Rohstoffexporte Argentiniens geradezu explodiert. Die Ausfuhr von Sojabohnen hat von 11 Millionen Tonnen 1997 auf 52 Millionen Tonnen 2010 zugelegt und macht mittlerweile ein Viertel aller Ausfuhren aus. Der Anteil am exportorientierten Silber-, Kupfer- und Gold-Tagebau am Gesamtbergbau stieg in vergleichbarem Zeitraum von 22% auf 78%. Zwischen 2003 und 2013 schossen die Auslandsinvestitionen um 1000% in die Höhe und der Gesamtexport stieg um 349%. Hinzu kommt der wachsende Bedarf an Lithium.

Um neue Flächen für das boomende Rohstoffgewerbe zu erschließen wurden pro Jahr seither zwischen 200.000 und 250.000 ha an Wald abgeholzt. Für den Tagebau werden enorme Mengen an Wasser verbraucht, wobei durch chemische Verfahren ebenso enorme Mengen verseucht werden. Gerade bäuerliche und indigene Communities mussten für den wachsenden Flächenbedarf vertrieben werden. Die, die bleiben konnten, haben mit den Folgen der Wasser-, Luft- und Bodenverseuchung zu kämpfen. Insbesondere in Patagonien, wo indigene Stämme dem Ölabbau weichen sollten, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Besonders beachtenswert ist, dass diese Konflikte bereits unter der Amtszeit Nestor Kirchners aufflammten, dessen Regierung eigentlich einen sozial-populistischen Anspruch hatte. Viele Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen erhoben angesichts der Widersprüche Kritik am so genannten Extraktivismus und forderten eine nachhaltigere Politik. Nicolas Trento verglich nun zunächst das klassische Konzept des Extraktivismus mit einem, welches diesen in die globale Kapitalakkumulation einordnet.

Das klassische Modell des Extraktivismus und Neo-Extraktivismus

Schauen wir uns die südamerikanischen Ökonomien an, wird schnell klar, wie stark viele von ihnen vom Export von Primärgütern abhängen. Venezuela und Ecuador hängen stark von der Ölförderung ab, Bolivien vom Gas, Peru und Chile vom Bergbau. In Brasilien und Argentinien nimmt gerade die Bedeutung von Rohstoffexporten zu und einzig Mexiko und die zentralamerikanischen Staaten können eine etwas differenziertere Wirtschaft vorweisen. Daher ist verständlich, dass sich die Extraktivismuskritik zunächst in Südamerika entwickelte.

Kurz gefasst kann Extraktivismus als Entwicklungsmodell von Staaten der kapitalistischen Peripherie betrachtet werden, welche auf Ausbeutung der natürlichen Ressourcen beruht. Die klassische Extraktivismustheorie geht davon aus, dass ein rückständiges Land seine Bodenschätze durch große Unternehmen ausbeuten lässt. Diese Primärprodukte werden dann auf dem Weltmarkt verkauft und von Steuern und Zöllen Sozialausgaben und der Aufbau einer einheimischen Industrie finanziert. Kritisiert werden vor allen Dingen die Abhängigkeit von den Schwankungen des Weltmarktes, die Vernachlässigung des Aufbaus einer nachhaltigen industriellen Ökonomie, der Verbrauch der natürlichen Ressourcen und politische Repressionen zur Erschließung des Boden.

Das klassische Extraktivismus-Modell, eigene Abbildung

Der Neoextraktivismus sieht im Gegensatz zum klassischen den Staat als Motor dieser Entwicklung, der von den rückfließenden Einnahmen dann je nach Coleur der Regierung populistische, sozialstaatliche Maßnahmen finanziert oder eine der herrschenden Klassen bereichert.

Das klassische Neo-Extraktivismus-Modell, eigene Abbildung

Extraktivismus und Kapitalakkumulation

Nicolas Trento hält dieses Modell für unterkomplex, da es nicht berücksichtigt, welche Rolle die Primärgüter in der internationalen Warenproduktion spielen. Er beleuchtet den Extraktivismus im Kontext der Kapitalakkumulation auf dem Weltmarkt nach Marx und überprüft die Erklärungsmacht dieses Modells.

Das marxistische Extravismus-Modell, eigene Abbildung

Zunächst einmal haben die Bodenschätze keinen Wert im Sinne des Tauschwerts. Bei der Umwandlung vom reinen Rohstoff zum exportierbaren Primärgut wird dann zunächst soviel Wert hinzugefügt, wie gesellschaftlich durchschnittlich hierfür notwendig ist. Arbeiter*innen werden zu ihren Reproduktionskosten bezahlt und die extraktive Bourgeoisie kann sich einen Profit in Höhe der weltweiten Durchschnittsprofitrate sichern. Der Wert des exportierbaren Primärguts liegt aber weit unter dem Wert, zu denen Verkäufe realisiert werden. Das liegt daran, dass ein Teil des Mehrwerts, welcher bei der Weiterverarbeitung erzeugt wird, als Differenzialrente in die rohstoffexportierenden Staaten zurückfließt. Gemäß der Bildung der allgemeinen Durchschnittsprofitrate ist der Rückfluss so groß, dass Rohstofflieferenten und produzierende Konzerne eine ähnliche Profitrate aufweisen. Der Rückfluss der Differentialrente hemmt natürlich die Entwicklung der produzierenden Industrien, weshalb die Höhe umkämpft ist.

Das hat Folgen für das Modell. Normalerweise könnte die Industrie des rohstoffexportierenden Landes auf Grund der geringeren Produktivität nicht auf dem Weltmarkt konkurrieren. Zu niedrig wären die Profite. Durch die Umverteilung der Differentialrente in den industriellen Sektor des rohstoffexportierenden Landes kann dieser jedoch eine konkurrenzfähige Profitrate erwirtschaften.

Der Extraktivismus in Argentinien

Trento konkretisiert dieses Modell am Beispiel der argentinischen Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Zeit zwischen 1946 und 1983 wechselten sich in Argentinien peronistische Regierungen und Militärdiktaturen mehrmals ab. Beiden gemeinsam war ihre Politik der importsubstituierenden Industrialisierung. Das bedeutet nicht anderes, als das versucht wurde, Importe durch einheimische Erzeugnisse zu ersetzen. Unter normalen Konkurrenzbedingungen wären die einheimischen Produkte gar nicht absetzbar, da die Produktivität zu niedrig ist. Für einen Ausgleich hat der Staat auf Grund der rückfließenden Differenzialrente zwei große Hebel:

1. Mit Hilfe der Exportbesteuerung wird direkt Geld in die Staatskassen gespült, welche für Subventionen, günstige Kredite und den Abkauf industrieller einheimischer Erzeugnisse durch die öffentliche Hand genutzt werden kann.

2. Der argentinische Staat nutzte einen Teil der rückgeflossenen Grundrente, um Währungsreserven anzulegen. Dadurch konnte die Währung künstlich aufgewertet werden (näheres dazu hier), was es dem einheimischen Kapital erlaubt, Produktionsmittel vergleichsweise günstig auf dem Weltmarkt zu erwerben.

Der Autor merkt an, dass beide Mechanismen den Wert der Ware Arbeitskraft senken, ohne die materiellen Umstände der Arbeiter*innen zu ändern. Das Modell zeigte sich jedoch immer wieder anfällig für Inflationskrisen und endete mit den neoliberalen Reformen unter Wirtschaftsminister José Alfredo Martínez de Hoz. Die demokratischen Regierungen seit 1983 vermochten zunächst nicht, die Wirtschaft Argentiniens zu stabilisieren.

Der Neo-Extraktivismus in Argentinien

Bereits sei den 1970ern geriet das ökonomische Modell Argentiniens langsam in die Krise. Die Produktivität nahm im Vergleich zum Weltmarkt immer weiter ab. Auf Grund der hohen Überbewertung des Peso blieb die Akkumulation des industriellen Kapitals auf den einheimischen Markt beschränkt, weshalb das Kapital sich immer stärker im Rohstoffsektor engagierte. Die Widersprüche entfalteten sich bis zu ihrem Kulminationspunkt in der Wirtschaftskrise von 1998-2001.

Argentinien erholte sich relativ schnell auf Grund der in den 2000ern schnell steigenden Rohstoffpreise und der rapiden Absenkung der Bewertung des Peso. Unter diesen Bedingungen war aber eine erneute Politik der importsubstituierenden Industrialisierung undenkbar. Daher setzte die Regierung auf eine Kaufkraftstärkung der Bevölkerung und gab die Einnahmen aus der Grundrente in Form des Ausbaus sozialstaatlicher Leistungen, Preisstützungen und öffentliche Beschäftigungsprojekte an die werktätigen Klassen weiter. Zu einer solchen Politik war nur eine „linke“, „progressive“ oder „populistische“ Regierung in der Lage: der Kirchnerismus.

Das marxistische Neo-Extraktivismus-Modell, eigene Abbildung

Der offensichtliche Nachteil dieser Politik war, dass die einheimische Industrie vollends ihre Konkurrenzfähigkeit verlor. Doch bereits die Besteuerung alleine bereitete Probleme. Historisch konnte die argentinische Bourgeoisie 50% der zu zahlenden Steuern unterschlagen. Da das neue System jedoch noch stärker von diesen abhängig war, erhöhte man die nicht so leicht hinterziehbaren Konsumsteuern. Diese wiederum treffen in erster Linie das Proletariat. Daher ist verständlich, warum dem Kirchnerismus nicht nur eine Opposition von rechts, sondern bald auch von Seiten der Arbeiter*innen gegenüberstand. Doch erklärt das allgemeine Modell des Extraktivismus im Kontext der globalen Kapitalakkumulation, warum sich der Kirchnerismus trotz häufiger Rezessionen und drohender Staatspleiten seit knapp 20 Jahren überraschend stabil hält. Es fehlt schlicht an Alternativen.

Zusammenfassung

Nicolás Pérez Trento erweitert das klassische Modell des Extraktivismus und ordnet es in die globale Kapitalakkumulation ein. An Hand dieses Modells erzählt er die Wirtschaftsgeschichte Argentiniens seit dem Zweiten Weltkrieg schlüssig nach. Seinem Artikel werden drei große Verdienste zuteil:

1. Zunächst einmal sticht natürlich hervor, dass Trentos Modell wesentlich komplexer ist, als das herkömmliche. Es berücksichtigt die Folgen von Wechselkursen, Preisveränderungen auf dem Weltmarkt, das Wirken der allgemeinen Durchschnittsprofitrate, die Marxsche Differentialrententheorie und Kräfteverschiebungen zwischen einzelnen Kapitalfraktionen.

2. Als Folge all dieser Einflüsse, kritisiert es, dass dem subjektiven Faktor, als der konkreten Regierung ein zu großer Freiheitsgrad zugesprochen wird. Die Regierung wird jedoch nicht aus einer Laune der Bevölkerung heraus gewählt, die mal mehr und mal weniger Umweltschutz fordert, sondern sie wird gewählt, weil sie ganz spezifische Rahmenbedingungen vorfindet. So gab es für die Regierung Kirchner beispielsweise auf Grund der Abwertung der Währung gar nicht die Möglichkeit, die importsubstituierende Industrialisierung neu aufzusetzen, wodurch letztlich die Steigerung der Binnennachfrage die einzige logische Konsequenz blieb.

3. Daraus folgt auch, dass es eine gewisse Kontinuität der Wirtschaftspolitik peripherer, extraktiver Gesellschaften gibt. Die durch den Weltmarkt vermittelten Wirkmechanismen lassen nur die Veränderung weniger Stellschrauben zu. Es macht also keinen Sinn dem Extraktivismus den Neo-Extraktivismus gegenüberzustellen und diesen vielleicht noch ein neo- oder ordoliberales System. Letztendlich lassen sich alle Phasen der argentinischen Wirtschaftsgeschichte im gleichen Rahmen der globalen Kapitalakkumulation beschreiben.

Es wird deutlich, dass die extraktivistische Politik der peripheren Staaten nicht so einfach aufkündbar ist. Jedenfalls nicht ohne massive soziale Verwerfungen. Eine extraktivismuskritische Theorie muss also immer berücksichtigen, dass sie nur dann funktionieren kann, wenn sich ein Land weitestgehend aus den Funktionsmechanismen des Weltmarktes ausklammern kann. Alles andere wäre Utopie. Dies kann nur unter Kontrolle der Produktionsmittel unter den direkten Produzent*innen gelingen: ein Zustand, den wir gemeinhin als Sozialismus bezeichnen.

Literatur:

Trento, N. P. (2022): Extractivism or specificity of capital accumulation? A critique on the extractivist approach regarding the case of Argentina. In: Capital & Class. Jahrgang 46. Ausgabe 2. S.211–233.

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