Kolumbien und die Cambridge-Gleichung

⋄ Der tendenzielle Fall der Profitrate ist eine der wichtigsten und umstrittensten Prognosen der Marxschen Theorie.

⋄ Zur Berechnung der Profitrate benutzen Keynesianische Ökonom*innen die überraschend einfache Cambridge-Gleichung, die sich auch aus den Marxschen Überlegungen ableiten lässt.

⋄ In der
Review of Radical Political Economics veröffentlichte Carlos Alberto Duque Garcia eine Studie zum tendenziellen Fall der Profitrate Kolumbiens.

⋄ Er konnte den Fall der Profitrate für Kolumbien seit 1967 und die empirische Gültigkeit der Cambridge-Gleichung nachweisen.

⋄ Darüber hinaus konnte er mittels einer Impuls-Response-Analyse zeigen, dass die Marxsche Herleitung sich mit den Messwerten besser deckt als die bürgerliche
.

Marx oder Keynes? Gleiche Gleichung mit unterschiedlicher Aussagekraft

In der Review of Radical Political Economics veröffentlichte Carlos Alberto Duque Garcia
von der Universidad Autonoma Metropolitana aus Azcapotzalco, Mexico eine Studie zum tendenziellen Fall der Profitrate Kolumbiens. Solche Studien gibt es wie Sand am Meer. Empirisch kann die Marxsche Prognose als weitestgehend belegt betrachtet werden. Allein die Frage, wie die ökonomischen Größen aus bürgerlichen Statistiken zu Bildung der Profitrate interpretiert werden sollten oder der Umgang mit dem Transformationsproblem sind noch diskutierte Fragen, die praktisch nicht viel am Ergebnis ändern.

Nun ist Garcias Studie aber weder wegen der konkreten Analyse der Profitrate interessant, noch die spezielle Anwendung auf Kolumbien. Trotz der politischen Sonderstellung Kolumbiens als engster Verbündeter der USA und trotz des lang anhaltenden Bürgerkriegs gegen die FARC reiht sich die kolumbianische Ökonomie in ein typisches Muster südamerikanischer Staaten ein. Garcia hat untersucht, ob sich die so genannte Cambridge-Gleichung, die sich sowohl aus der Marxschen als auch aus der Keynesianischen Theorie herleiten lässt, empirisch bestätigen lässt. Und Garcia ging noch einen Schritt weiter. Mit einer Impuls-Response-Analyse konnte er nachweisen, dass die Marxsche Herleitung empirisch konsistenter ist als die bürgerliche. Wie hat er das gemacht?

Der tendenzielle Fall der Profitrate und die Cambridge-Gleichung

Jede*r Leser*in, die nach der Einleitung noch nicht ausgestiegen ist, dürfte die Prognose vom tendienziellen Fall der Profitrate aus dem Dritten Band des Kapitals bekannt sein. Da Marx annimmt, dass jede technische Neuerung dazu führt, dass der Anteil lebendiger Arbeitskraft gegenüber den Produktionsmitteln sinkt, der Mehrwert aber nur durch die Arbeitskraft erzeugt wird, muss auch die Profitrate fallen. Da es auch andere entgegenwirkende Effekte gibt, die zumindest langfristig einen geringeren Einfluss haben, hat die sinkende Profitrate nur den Charakter eines tendenziellen Gesetzes. Die Profitrate berechnet sich nach Marx danach, wieviel Mehrwert pro investiertem Kapital (konstant und variabel) erzielt wurde:

Doch auch die bürgerliche Ökonomie hat eine Gleichung zur Berechnung der Profitrate und sie ist nach einer Reihe von theoretischen Überlegungen, die mit den Namen Keynes, Kalecki, Kaldor und Pasinetti verbunden sind, erstaunlich einfach. Sie lautet:

n ist dabei die natürlich Wachstumsrate und sc die Sparquote der Kapitalisten. Diese Gleichung wird auch die so genannte Cambridge-Gleichung genannt.Duncan Foley zeigte 1986, dass sich auch aus der Marxschen Formulierung der Profitrate die Cambridge-Gleichung herleiten lässt.

Diese Korrespondenz zur bürgerlichen Ökonomie ist hinsichtlich mehrerer Gesichtspunkte gut und wichtig. Erstens behauptete Marx ja nicht, dass die bürgerlichen Ökonomen durch die Bank weg falsch gelegen hätten, sondern nur, dass sie bei den Erscheinungen stehen blieben und nicht zum Wesen des Kapitalismus vorgedrungen seien. Es ist daher vereinbar mit dem Marxschen Projekt, dass er auf der Grundlage der tiefergehenden Analyse der materiellen Grundlagen auf die gleichen Formeln an der Oberfläche kommt wie die bürgerliche Ökonomie. Das ist für marxistische Ökonomie insofern praktisch, als dass der Großteil der Statistiken durch die bürgerliche Wissenschaft erstellt und verarbeitet wird. Die Kohärenz erlaubt es Marxist*innen, die Daten aus bürgerlichen Statistiken selbst für eigene Analysen nutzen zu können und so auf einen größeren empirischen Schatz zurückgreifen zu können. Drittens darf nicht außer Acht gelassen werden, dass trotz gleicher Gleichung am Ende verschiedene Modelle hinter der marxistischen und bürgerlichen Ökonomie stecken, die verschiedene Vorhersagen auf die Entwicklung der einzelnen Größen treffen. Im direkten Vergleich können sich die Modelle hier um die höhere prognostische Kraft streiten und sich als überlegen oder unterlegen erweisen. Und genau das testete Garcia.

Die Methode

Die Werte für seine Untersuchung entnahm Garcia den offiziellen kolumbianischen Statistiknetzwerk DANE. Da es solche statistischen Erhebungen für jedes Land gibt, schauen wir uns etwas ausführlicher die angewandte Methode, da sie leicht reproduzierbar ist.

Die Profitrate r definiert Garcia als Quotient aus Profit Pt und Gesamtkapital Kt (stock of fixed capital), was marxistisch Sinn ergibt und auch von bürgerlichen Ökonom*innen als korrekte Umformulierung der Cambridge-Gleichung akzeptiert wird:

Während sich Kt aus den Statistiken direkt ablesen werden kann, muss der Profit wiederum aus anderen Größen abgeleitet werden. Dafür rechnete Garcia:

Der Verbrauch des fixen Kapital wurde in Anlehnung an mexikanische Studien durch Lebensdauer von Maschinenmit 15 Jahre und von Fabrikgebäuden mit 60 Jahren abgeschätzt. Die Akkumulationsrate lässt sich hingegen sehr leicht als Quotient von angelegtem Kapital (gross fixed capital) durch die Profite Pt berechnen. Die Wachstumsrate kann leicht durch das Wachstum des Bruttosozialprodukts bestimmt werden. Prinzipiell kann jeder diese Rechnungen zu Hause mit Excel, R, Python oder SPSS selber machen und soweit hat Garcia nichts spektakuläres gemacht.

Der wirklich interessante Teil ist eine vektorautoregressive Zeitreihenanalyse. Dieser etwas sperrige Begriff steht für eine mathematische Methode, welche die den Einfluss einer Größe bzw. mehrerer Größen auf eine andere berechnet, auch wenn viele andere Störgrößen vorliegen. Sie ist dem ARIMA/ARIMAX-Verfahren (näheres hier) verwandt, kann aber etwas mehr. Damit konnte Garcia untersuchen, ob das im Marxschen Modell relevanten Größen tatsächlich den höchsten Einfluss besitzen und ob tatsächlich die beiden Größen der Cambridge-Gleichung die bestimmenden Faktoren der Profitrate sind.

Zuletzt Impuls-Response-Analyse getestet, wie schnell ein simulierter plötzlicher „Schock“ einer der Größen die anderen beeinflusst. Je nachdem, wie sich die anderen Größen in der Simulation verhalten, kann beurteilt werden, ob die Marxsche oder Keynesianische Herleitung des Zusammenhangs der Größen die aussagekräftigere ist. Ein Beispiel: Angenommen, es wir in der Wissenschaft eine bahnbrechende neue Produktionstechnik entwickelt, die alle nutzen können, dann würden alle Kapitalist*innen sofort in diese neue Technik investieren. Dies wird als Anstieg der Akkumulationsrate um eine Standardabweichung simuliert. Durch die Analyse der ökonomischen Daten kennt das Programm den Zusammenhang zwischen den Größen und kann prognostizieren, wie sich andere Größen, wie Profitrate oder Wachstumsrate verhalten werden.

Da alle Statistiken in Währungseinheiten angegeben sind, setzt Garcia in der Auswertung Preise und Werte gleich. Er begründet dies auf der einen Seite in Anlehnung an Cockshott und Cotrell damit, dass die verwendeten Bruchterme ohnehin einheitenlos seien und damit egal wäre, ob sie als Quotient zweier Preise oder Werte ausgedrückt würden. Auf der anderen Seite führt er an, dass eine Reihe marxistischer Autor*innen das Transformationsproblem ohnehin für rein fiktiv halten. Beide Argumente sind kritisch zu betrachten. Das zweite Argument ist ohnehin ein reines Autoritätsargument. Beim ersten ist überhaupt nicht einzusehen, warum es bei bei einer Differenz von Werten und Preisen, die Quotienten gleich bleiben sollten. Dass bessere Argument wäre wohl gewesen, dass sie die Differenzen von Preisen und Werten nur zwischen einzelnen Unternehmen und Sektoren bemerkbar machen, sich über die gesamtgesellschaftliche Betrachtung aber ausgleichen.

Die Ergebnisse

Alle Marxist*innen, die viel Wert auf das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate legen, können aufatmen. Auch in Kolumbien kann der Fall für den Untersuchungszeitraum von 53 Jahren bestätigt werden.

Dabei lassen sich die ökonomischen Phasen Kolumbiens sehr gut erkennen. Die Politik der importsubstituierenden Industrialisierung zwischen 1967 und 1979 hat der einheimischen Bourgeoisie enorme Profite gebracht, die auf Grund des staatlich gesicherten Absatzes bei geringen Sparquoten reinvestiert wurden. Die Krise dieses Systems in den 80er Jahre macht sich in einem starken Abfall der Profitrate bemerkbar. Die neoliberale Öffnung des Landes konnte den Fall zwar stoppen. Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise in den kapitalistischen Zentren ab 2008 führte dazu, dass das imperialistische Kapital auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten in die Peripherie, unter anderem Kolumbien strömte, und dort zu einem rapiden Anstieg der Profitrate führte. Nach dieser kleinen Spitze sinkt die Profitrate seitdem weiter von einem niedrigeren Plateau aus.

Die VAR-Zeitreihenanalyse konnte weiterhin zeigen, dass die kausalen Beziehungen zwischen Profitrate, Akkumulationsrate und Gesamtkapital sehr stark und statistisch sehr signifikant waren. Die Gültigkeit der Cambridge-Gleichung konnte also zumindest für Kolumbien bestätigt werden. Und jetzt zum letzten spannenden Detail: Die Impuls-Response-Analyse konnte zeigen, dass die marxistische Herleitung der Cambridge-Gleichung besser mit den Messwerten übereinstimmt, als die bürgerliche. Es zeigte sich, dass ein auf Grundlage der Messwerte simulierter positiver Schock der Akkumulationsrate zu einer kurz- und mitteldfristigen negativen Auswirkung auf die Profitrate führte. Während aber Keynes und Kalecki von einer positiven Korrelation zwischen Investitionen und Profit ausgingen, geht Marx in Übereinstimmung mit den Werten davon aus, dass die aus den vorangegangenen Produktionspersioden erzeugte Nachfrage die Investitionen garnicht realiseren kann und zu einer zumindest kurzfristigen Senkung der Profitrate führt. Im Englischen wird die als Profit-Squeeze bezeichnet. Im Deutschen wurde der Begriff mehrheitlich so übernommen und bezeichnet eine kurzzeitige Überakkumulationskrise.

Zusammenfassung

Carlos Garcia hat in seiner Studie mustergültig gezeigt, wie man eine empirische Untersuchung so weit treiben kann, dass sie Antworten auf grundlegendere Fragen der Kritik der politischen Ökonomie gibt. Sie bleibt Garcia eben nicht nur den oberflächlichen Erscheinunggen verhaftet und bestätigt den tendenziellen Fall der Profitrate und die Cambridge-Gleichung einfach nur. Er untersucht auch, welche Herleitung denn konsistenter ist. Hier kann er passgenau die Axt anlegen, wo marxistische und bürgerliche Theorie sich scheiden lassen. Der Autor erweist sich somit nach der schon methodisch gelungenen Studie zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation (näheres hier) einmal mehr als feinsinniger Vorarbeiter zu den Kapazitäten moderner statistischer Methoden zur Diskussion der marxistischen Theorie.

Perspektivisch wäre es interessant, das Verhalten der Impuls-Response-Funktionen international vergleichend zu analysieren, um zu untersuchen, ob es kategoriale Unterschiede zwischen peripheren und zentralen kapitalistischen Staaten gibt. Unterschiede oder Gemeinsamkeiten von Intensität und Dauer der Antwort in der Simulation, könnten vielleicht helfen zielgerichteter Wirkungsweisen des Imperialismus zu verstehen und konkrete Vorhersagen zu Krisen der bürgerlichen Ökonomie zu ermöglichen.

Literatur:

Garcia, C. (2022): Economic Growth and the Rate of Profit in Colombia 1967–2019: A VAR Time-Series Analysis. In: Review of Radical Political Economics. Jahrgang 54. Ausgabe 3. S.298–316.

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