Mit Marx Krötentunnel graben

⋄ Mit Hilfe der Marxschen Begriffe Entfremdung, Verdinglichung und Fetisch lassen sich Probleme der Ökologiebewegung gut beschreiben.

⋄ Bence Peter Marosan versuchte in der aktuellen
Capitalism Nature Socialism das Konzept eines biozentrischen Ökosozialismus vorzustellen.

⋄ Zuerst analysierte er die existierende ökosozialistische Literatur und kartographierte sie.

⋄ Als konkrete Ansatzpunkte nannte Marosan Arbeitszeitverkürzung, bedingungsloses Grundeinkommen und ein nachhaltiges Bildungssystem.

⋄ Marosans Konzept orientiert sich stark an normativen Prinzipien, anstatt sich an der materiellen Basis der warenproduzierenden Gesellschaft zu orientieren.

Das Konzept eines radikal biozentrischen Ökosozialismus, der auf einem dynamischen Gleichgewicht beruht. Das klingt doch nach war. Nicht weniger möchte Bence Peter Marosan von der Budapest Business School in Ungarn in der aktuellen Capitalism Nature Socialism vorstellen. Was es damit auf sich hat und ob Marosan das Versprechen einhalten kann, soll im Folgenden diskutiert werden. Denn schließlich geht es um nicht weniger als das Überleben unserer Spezies und Millionen anderer.

Eine Matrix des Ökosozialismus

Marosan beginnt seine Erörterung mit der Feststellung, dass ökosozialistische Vorstellungen bis in die Romantik und Frühaufklärung zurückreichten. Er denkt hier an die Flucht der Romantiker vor Industrialisierung in die Wälder und Sagenwelten, sowie an die Naturphilosophie Rousseaus. Doch auch moderne Autor*innen verbänden eine nachhaltigere Gesellschaft mit der Abschaffung sozialer Ungerechtigkeit. Um die vielen verschiedenen Vorstellungen einzuordnen, stellt Marosan ein Koordinatensystem mit zwei Achsen auf. Auf der einen wird abgebildet, ob die Natur als Selbstzweck und Eigenwert betrachtet würde, oder ob sie auf Grund ihres Nutzens für das menschliche Überleben erhalten werden solle. Die zweite Achse gibt an, ob ein Autor einen eher kollektivistischen oder einen individualistischen Ansatz vertrete. Individualistische Ansätze kennzeichneten sich durch Erziehung und Appelle an das Konsumverhalten aus, während kollektivistische Ansätze eher strenge politische Regelungen forderten. Die bisherige Literatur ordnet Marosan wie folgt ein:

eigene Abbildung

Er weist auch auf Ansätze, wie den Murray Boochins hin, die versuchen, sich den Gegenüberstellungen zu wiedersetzen, indem sie die anthropozentrische und biozentrische Natur des Menschen gleichermaßen anerkennen, ihnen eigene moralische Imperative zugestehen und deren Widerstreit analysieren.

Dynamisches Gleichgewicht

Entgegen einigen landläufigen akademischen Meinungen, die Marx eine promethische Attitüde oder einen zu fragmentarischen Nachlass unterstellen, um ihn produktiv für ökologische Diskussionen nutzen zu können, anerkennt Marosan das Potential, dass Marx mit seinen Betrachtungen zu Ausbeutung, Entfremdung, Emanzipation, Verdinglichung oder Warenfetisch hinterlassen einen brauchbaren analytischen Werkzeugkasten hinterlassen habe. Vierzig Jahre Debatte und Exzerpte hätten offen gelegt, wie bedeutsam seine Betrachtungen zur Entfremdung des Menschen von den natürlichen Grundlagen seiner Reproduktion im Kapitalismus gewesen seien.

Um daraus politische Handlungsempfehlungen abzuleiten, sucht Marosan nach normativen Imperativen und Werten im Marxschen Werk, die er als „Selbstzwecke“ und „Endzwecke“ definiert. Solch einen Selbstzweck erkennt er bei Marx zum Beispiel im Begriff des „menschlichen Bedürfnisses“. Diese Bedürfnisse erlaubten es dem Menschen selbstverständlich, die Natur für eigene Zwecke zu benutzen. Umgekehrt habe aber auch jedes Tier und jede Pflanze ein Bedürfnis. Nicht mehr von der Natur entfremdet zu sein, bedeute daher, diese Bedürfnisse ebenso zu respektieren wie die eigenen und dementsprechende Kompromisse zu finden.

Normative Selbstregulation sei daher ein Bestandteil aller Lebewesen. Jedes Lebewesen suche danach, seine Reproduktionsbedingungen zu optimieren und in einem symbiotischen System wie der Natur, könne das nicht einseitig auf Kosten anderer Gattungen geschehen. Ein Mensch, der in der Lage sei, alle seine Bedürfnisse zu befriedigen, sei nach Marx ein von gesellschaftlichen Zwängen emanzpierter Mensch, sprich sein Gattungswesen. Diesem Gattungswesen entsprächen Charakteristika wie „kreativ, verspielt, freudevoll und spontan“ (S.11). Und erst dieses Gattungswesen sei letztendlich in der Lage, die Verbundenheit mit der Natur ausreichend zu würdigen.

Als drei konkrete politische Projekte, die dem Menschen helfen würden, die Entfremdung zu überwinden, schlägt Marosan erstens die Verlängerung der freien Zeit der Menschen vor. Mit dieser Maßnahme könne der Mensch nachhaltiger leben und umweltverträglichere Alternativen, wie längere Mobilitätswege, in Anspruch nehmen. Zweitens sieht er das bedingungslose Grundeinkommen als Chance, den Menschen von der Ausbeutung zu befreien, da er nicht mehr arbeiten müsse und somit, selbst wenn er es täte, mehr Macht an seinem Arbeitsplatz zu gewinnen. Weniger Ausbeutung des Menschen führe zu weniger Ausbeutung der Natur, so die Logik. Und drittens solle der Mensch zu durch das ganze Bildungssystem zu mehr Nachhaltigkeit erzogen werden.

Eine Kritik

Marosan hat vollkommen recht, dass die Gegensatzpaare individualistisch und kollektivistisch, sowie anthropozentrisch und biozentrisch dialektisch überwunden werden müssen. Das Problem: er tut es nicht, sondern positioniert sich einfach in der Mitte. Das ist etwas anderes als dialektische Aufhebung. Dialektik heißt zunächst anzuerkennen, dass rein materiell der Mensch ein symbiotischer Bestandteil der Natur ist und die Trennung anthropozentrisch-biozentrisch vollkommen künstlich ist. Auch die Gegensätzlichkeit von Kollektiv, das sich aus Individuen zusammensetzt, und Individuum, das Kollektive bildet, ist gerade im Hinblick auf das Gattungswesen Mensch eine nicht notwendige. Dialektischer Materialismus heißt weiter, zu erkennen, dass die Gegensätzlichkeit nicht einfach auf eine falsche Auffassung von der Wirklichkeit hinausläuft, sondern ein realer Selbstwiderspruch ist. Im Begriff des Menschen selbst sind die Gegensatzpaare biozentrisch-anthropozentrisch und individualistisch-kollektivistisch angelegt und streben nach ihrer Überwindung. Und historischer Materialismus bedeutet, dass diese Gegensätzlichkeit keine metaphysische ist, sondern eine aus den konkreten historischen Bedingungen des Menschen erwachsene. Um die Gegensätzlichkeit aufzuheben, reicht es nicht, den Gegensatz intellektuell zu durchdringen und neue Werte zu definieren, sondern es müssen die ganz konkreten historischen Umstände geändert werden. Diese Umstände sind die der modernen warenproduzierenden Gesellschaft. Und somit kann erst die Überwindung der Warenförmigkeit der menschlichen Produktion die Entfremdung des Menschen von der Natur zu überwinden.

Dem mag Marosan vielleicht sogar zustimmen. Aber dann verböte sich seine weitere Argumentation. Wenn die Gegensätzlichkeit der Bestimmungen der menschlichen Existenz überwunden ist, verlieren die Begriffe Norm und Wert ihre Bedeutung. Moral, zu der man diese beiden Begriffe zuordnen könnte, ist ja gerade Ausdruck der Selbstwidersprüchlichkeit. Ein Sein steht einem Sollen gegenüber. Der Mensch soll wollen sollen, anstatt einfach zu wollen. Marx hat sich mit dieser Dualität in der Judenfrage nicht zufrieden gegeben, sondern er stellte fest, dass diese Verdopplung des Menschen in einen Bourgeois und Citoyen ein Produkt der Gesellschaft ist. Marosan klaut Marx hier die Pointe, dass philosophisch tiefschürfende Begriff wie Emanzipation und Entfremdung keine Metaphysik bleiben sollen, sondern sich in konkrete Praxis überführen lassen: in die Vergesellschaftung der Produktionsmitteln in den Händen der Arbeiter*innen.

Richtiger lautet also nach Marx der Zusammenhang zwischen den Begriffen Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung und Emanzipation: Durch die Aufhebung der warenförmigen Gesellschaft werden Menschen und Natur nicht mehr verdinglicht. Die Warenform ist in der Trennung des Proletariats von den Mitteln ihrer Reproduktion begründet, wodurch dieses durch die Kapitalisten ausgebeutet werden kann. Die Aneignung der Produktionsmittel durch das Proletariat überwindet die Entfremdung des Menschen von den Mitteln seiner Reproduktion, wozu auch die Natur gehört. Die Aufhebung der Entfremdung des Menschen emanzipiert ihn hin zum Gattungswesen, in welchem der Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv, Mensch und Umwelt, sowie Sein und Sollen aufgehört hat, zu existieren.

Vor diesem Hintergrund sind auch Marosans politische Vorschläge ungeeignet, das Proleatriat allgemein menschlich zu emanzipieren. Der Kampf für mehr freie Zeit ist vollkommen richtig und muss geführt werden. Er findet aber im System der entfremdeten Arbeit statt. Wenn Arbeit nicht mehr entfremdet ist, gibt es auch keine Bedürfnis mehr, diese zu reduzieren. Wenn mir Gartenarbeit Spaß macht, versuche ich nicht, immer weniger Zeit im Garten zu verbringen. Sicher kann man einen Case dafür machen, dass der Mensch dann pro Tag weniger entfremdete Zeit zu Verfügung habe. Aber die Entfremdung selbst wird nicht überwunden. Das Problem potenziert sich mit der Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen. Da dieses in der Regel steuerfinanziert ist, ist es auf eine funktionierende Kapitalakkumulation angewiesen. Die Interessen des Kapitals sind jedoch denen des Proletariats entgegengesetzt. Es wird umso mehr Kapital akkumuliert, je stärker der Mensch ausgebeutet wird. Der Schaden wird hier zur Voraussetzung seiner eigenen Behebung gemacht. Nach der formalen Logik kann dies nicht funktionieren, im System der dialektischen Logik kann dieser Selbstwiderspruch positiv oder negativ aufgehoben werden. Aber es stellt sich die Frage: Warum nicht gleicht positiv aufheben? Der dritte Vorschlag nach besserer Bildung geht dann auch nicht im wesentlichen über frühsozialistische Vorstellungen hinaus, die sich den besseren Menschen erziehen wollten. Hierfür braucht man dann keinen Marx.

Zusammenfassung

Der typische Einwand gegen die geäußerte Kritik ist sicherlich der, dass sie auf einer sehr abstrakten Ebene formuliert wird und den Umweltschutz auf den nachrevolutionären Sanktnimmerleinstag verschiebt. Es ist jedoch Marosan selbst, der seine Argumentation auf dieser Abstraktionsebene beginnt und hier muss man feststellen, dass dies so nicht funktioniert. Das bedeutet jedoch nicht, dass Nachhaltigkeit und Umweltschutz erst im Sozialismus gedacht werden können. Es lassen sich tausende Dinge im Hier und Jetzt umsetzen. Sie haben nur einen Pferdefuß. Die bedeuten immer eine Mehrbelastung, ob für Arbeiter*innen, die mit dem ÖPNV eine Stunde Arbeitsweg statt einer halben im Auto haben oder auch für Kapitalisten, deren sinkende Profite auch die Revenue des Staates beschneiden, die zahlreiche Umweltschutzprogramme finanziert. Immer werden gesellschaftliche Reibungsverluste entstehen, die das organische Zusammenwachsen von Natur und Gesellschaft behinderb. Marx widerspricht nicht dem Kampf um ökologische Maßnahmen, sondern mit ihm lassen sich die Grundlagen einer Gesellschaft erörtern, in der Ökologie kein Kampf mehr ist.

Marosan wirft in seinem Essay wichtige Fragen auf. Seine kleine Systematisierung und Bibiliographie sowohl frühsozialistischer, als auch marxistischer Literatur zum Thema sind Kleinode, die man anerkennen kann. Und Marosans Beitrag ist sicherlich wertvoller als die, die nicht thematisieren, dass unser Planet bis zur Revolution schon noch durchhalten muss. Aber solange wir innerhalb der Logik der warenproduzierenden Gesellschaft debattieren, müssen wir uns nicht fragen, wie man mit Marx am besten Krötentunnel gräbt, sondern sie einfach graben.

Literatur:

Marosan, B. (2022): Radical Emancipation: The Theory of Biocentric Ecosocialism and the Principle of Dynamic Equilibrium. In: Capitalism, Nature, Socialism. Online First. DOI: 10.1080/10455752.2022.2132968.

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