Modelling Marx

⋄ Mit Hilfe von Computersimulationen können Marxsche Theorien experimentell überprüft werden.

⋄ Die US-amerikanischen Wissenschaftler*innen Jonathan F. Cogliano, Roberto Veneziani und Naoki Yoshihara haben die bisherige Forschung auf diesem Gebiet zusammengefasst.

Marxistische Theorien wurden unter anderem mit Finite-Elemente-Methoden, agentenbasierten Modellen und Monte-Carlo-Simulationen untersucht.

⋄ Es konnte bereits gezeigt werden, dass die Arbeitswertlehre die Preisbildung am Besten erklört, wenn überall die annähernd gleiche Mehrwertrate herrscht.

⋄ Zudem fällt die Profitrate in jedem realistischen Szenario über einen kürzeren oder längeren Zeitraum.

Wenn man die Zukunft voraussagen möchte, there are two ways to skin a cat, wie man in den USA sagen würde: Entweder durch Magie und Hokus Pokus oder durch Naturgesetze. Naturgesetze können mit definierter Genauigkeit voraussagen, wo sich ein Stein unter dem Einfluss eines Schwerefeldes in einer Sekunde befinden wird, wenn er zum Zeitpunkt t=0 s an einem anderen war. Die Voraussagekraft vieler Naturgesetze finden ihre Grenzen in der Komplexität eines Problems, auf das sie angewandt werden. So reicht bereits die gravitative Wechselwirkung von drei Körpern untereinander aus, um die Zukunft der Körper nicht mehr analytisch vorhersagen zu können. Man muss sich mit Experimenten behelfen, welche immerhin Regeln erkennen lassen, nach denen man die Zukunft mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ableiten könnte.

Karl Marx und Friedrich Engels haben für sich in Anspruch genommen, die Bewegungsgesetze der Gesellschaft und im Kapital der kapitalistischen Gesellschaft entdeckt zu haben. Allerdings übersteigt der Komplexitätsgrad menschlicher Gesellschaften den der meisten physikalischen Probleme um ein Vielfaches. Hinzu kommt das Fehlen von Experimenten. Natürlich wird hin und wieder eine vom allgemeinen Trend abweichende gesellschaftliche Formation als Experiment bezeichnet. Aber im naturwissenschaftlichen Sinne – mit einer Trennung von Beobachter und Beobachtetem, Wiederholbarkeit, Veränderung und Beibehaltung einzelner Parameter – ist dies nicht mehr möglich. Kann man die Marxschen Bewegungsgesetze dann überhaupt bestätigen oder Aussagen über die Zukunft treffen, wenn es keine experimentelle Möglichkeit gibt.

Eine Möglichkeit gibt es seit etwas über 40 Jahren: Computersimulationen. Die von Marx entdeckten Gesetze können in ein System von Gleichungen überführt, ihre Folgen berechnet und mit der Wirklichkeit verglichen werden. Die US-amerikanischen Wissenschaftler Jonathan F. Cogliano, Roberto Veneziani und Naoki Yoshihara haben die bisherige Literatur gesichtet und in einem bisher einmaligen Dossier zusammengefasst. Philosophen haben die Welt bisher nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu berechnen.

Marx und Simulationen – eine Liebesheirat?

Die Kritik der politischen Ökonomie nach Karl Marx mit Hilfe von Simulationen zu untersuchen, passt eigentlich wie die Faust aufs Auge. Die Imperative, nach denen ökonomisches Handeln vollzogen wird, sind atomar betrachtet recht simpel. Der Wert der Waren bemisst sich an der geleisteten durchschnittlich notwendigen Arbeitskraft. Kapitalisten streben nach der Maximierung ihres Profits. Das Proletariat kämpft für den größtmöglichen Lohn bzw. den größtenmöglichen Anteil am Arbeitstag. Die Preisbildung findet über einen Abgleich mit der Durchschnittsprofitrate statt (oder vielleicht auch nicht). Dennoch macht die Wechselwirkung der einzelnen Größen, die dialektischen Gegensätze zwischen den Akteuren und die Größe der Systeme das Ensemble der einfachen Gesetze nicht mehr analytisch prognostizierbar. Das kapitalistische Akkumulationsregime entwickelt sich dynamisch und jede Entwicklung hat erheblichen Einfluss auf die neuen Ausgangsbedingungen. Die makroökonomischen Folgen – Produktivitätsentwicklung, Ausbeutungsrate, Arbeitslosigkeit, Krisen – lassen sich nur schwer stringent aus den einfachen Gesetzen entwickeln. Daher eignen sich Computersimulationen hervorragend dazu, die in den Kapital-Bänden aufgestellten Gesetze a) zu überprüfen und b) auf Grundlage dieser und empirischer Daten Prognosen für zukünftige Entwicklungen aufzustellen.

Fassen wir Simulationen in einem sehr weiten Sinne, stammt die erste marxistische Simulation aus dem zweiten Band des Kapitals, wo Marx vorrechnet, wie sich Kapitalzusammensetzungen in zwei Sektoren bei gewählten Anfangsparametern in der erweiterten Reproduktion entwickeln. Heutige Programme können natürlich mehr Sektoren, mehr Regeln, größere Zeitrahmen mit kleineren Entwicklungsschritten und auf Grundlage unterschiedlichster Methodik verarbeiten.

Das erste protomarxistische Problem: Lohn-Profit-Kurven

Eines der älteren Probleme, auf die Simulationen auf Probleme der Kritik der politischen Ökonomie angewandt wurde, war die Diskussion um Lohn- und Profitraten. Die klassische Theorie sagt voraus, dass die Profite mit fortgeschritteneren Produktionsmethoden, also sinkenden Lohnanteilen, ansteigen würde. Pierro Sraffa zeigte hingegen zu Beginn der 60er Jahre auf, dass je nach technischer Zusammensetzung auch ältere Produktionsweisen höhere Profite abwerfen könnten, was sich auch besser mit den Marxschen Voraussagen deckt.dir Das Problem war, dass weder die technischen Zusammensetzungen, noch zur Klärung benötigte Lohn-Profit-Kurven direkt gemessen werden konnten.

Mit Hilfe von Monte-Carlo-Simulationen sind einige Forscher dieser Frage in den 2000er Jahren auf den Grund gegangen. Monte-Carlo-Simulationen – benannt nach der für Glücksspiel bekannten Stadt an der französischen Rivera – sind Experimente, bei denen eine große Zahl von zufälligen Stichproben gezogen wird, um sich an ein analytisch nicht lösbares Problem anzunähern. Han und Schefold konnten 2006 zeigen, dass in nur einem von 236 simulierten Fällen der von Sraffa vorausgesagte Rückschritt zu alten Technologien erfolgte. Zambelli und andere konnten 2017 bei 3,6 x 10760 Simulationen den Effekt nicht finden. Der Abgleich mit empirischen Daten zeigte zudem, und das ist für Marxist*innen interessant, dass sich ein Produktivitätsniveau zuerst in einer gesamten Wirtschaft einstellt, bevor einzelne Sektoren ihres wieder signifikant erhöhen. Dadurch sind Unterschiede zwischen Preisen und Arbeitswerten, wie sie Marx im dritten Band des Kapitals erörtert hat, sehr gering und nur zeitweilig zu beobachten.

Wechselwirkende Systeme und Finite-Elemente-Methoden

Ein weiteres Anwendungsgebiet von Simulationen sind verschränkte Systeme (z.B. die erweiterte Reproduktion im zweiten Band des Kapitals), bei denen Veränderungen in einem Sektor auch zu Veränderungen im anderen Sektoren führen und umgekehrt. Damit lassen sich Gleichungssysteme nicht mehr analytisch lösen, sondern müssen mit der Finite-Elemente-Methode angenähert werden, bei der die Gleichungen immer wieder für sehr kleine Zeitschritte neu berechnet werden. Solche Simulationen können beispielsweise aufzeigen, wie sich Veränderungen in einem Sektor auf andere Sektoren auswirkt. Klassisches Beispiel wäre der Zusammenhang von Produktions- und Konsumgüterindustrie. Um Konsumgüter herzustellen, müssen zunächst die Produktionsmittel hergestellt werden. Mehr Produktionsmittel heißt höherer Konsum, aber auch die Gefahr, dass die Konsumgüter nicht gekauft werden und so weiter. In der Sowjetunion und der DDR war die Theorie eines harmonischen Wachstums von Produktions- und Konsumgüterindustrie ein essentieller Bestandteil ökonomischer Planung.

Sowohl Semmler und Flaschel (1988) und in komplexeren Modellen Dumenil und Levy (1987-1993) konnten zeigen, dass auch unter marxistischen Voraussetzungen ein „harmonisches“, krisenfreies Wachstum der Wirtschaft realistisch sein kann. Es sei möglich, den zentrifugalen Kräften eines krisenhaften, kapitalistischen Systems gleich große zentripetale Kräfte von außen entgegenzusetzen. Diese Lösung ist allerdings nur theoretisch und die Simulationen+ so komplex, dass die genauen Proportionen und Reaktionen für dieses Gleichgewicht nicht abgeleitet werden können.

Agentenbasierte Modellierung

Marxismus ist noch immer eine Gesellschaftswissenschaft. Während die ersten beiden Simulationsansätze eher abstrakt-mathematisch waren, kann man sich unter agentbasierter Modellierung schon Konkreteres vorstellen. Das Prinzip ist ganz einfach. Man nehme verschiedene Agenten, gebe ihnen Regeln, wie sie sich zu verhalten haben, lege die Ausgangsbedingungen fest und schaue, was passiert.

Ein solches Modell hat beispielsweise Ian Wright 2008 erstellt. Er konstruierte viele Produzenten mit unterschiedlichem Anteil an Produktionsmitteln. Hatte ein Produzent eine Ware nicht selbst produzieren können, musste er bei anderen dazukaufen, was eine Nachfrage generierte, nach der sich die anderen nach Möglichkeiten richteten. Die Produzenten wurden in verschiedene Sektoren aufgeteilt. Wright konnte zeigen, dass sich die Marktpreise im Durchschnitt proportional zu Arbeitswerten verhielten. Die einzelnen Preise konnten dabei durchaus variieren und eigene kleine soziale Sphären erschaffen. In einer verfeinerten Version des Experiments von Cogliano wurde eine maximale Abweichung der Preise von ihren Arbeitswerten von 10% festgestellt.

Classical Econophysics

Econophysics ist ein Neologismus, der die Worte Physik und Ökonomie verbindet. Eingang erhielt er in die Forschung mit den Konzepten Farjouns und Machovers (näheres hier), welche die Durchschnittsprofitrate als ein Wahrscheinlichkeitsmaß für eine zufällige Verteilung von Profitraten ansahen, ähnlich der Temperatur bei verschiedenen Teilchengeschwindigkeiten. Da Computersimulationen in der Physik schon länger zur Forschungspraxis gehören, konnten hier Methoden für die Untersuchung einzelner Probleme übernommen werden.

In einer auf diesem Konzept aufbauenden Computersimulation konnte Greenblatt (2014) zeigen, dass sich die von Farjoun und Machover nur theoretisch gemachte und auf wenigen empirischen Daten beruhende Voraussage, dass die Preise im Wesentlichen den Arbeitswerten entsprechen, während sich auf Dauer keine Durchschnittsprofitrate einstellt, erfüllt. Hahn und Rieu haben 2017 das Konzept verbessert und konnten verschiedene Fälle unterscheiden. Während in den meisten die Arbeitswerttheorie (ohne Bezug zur Durchschnittsprofitrate) bestätigt wurde, arbeitet das Konzept der Preisbildung über die Durchschnittsprofitrate besser, wenn die Mehrwertrate variieren darf. Dies war bei anderen Simulationen bisher ausgeschlossen. Werttransfers über die Durchschnittsprofitrate sind demnach immer mit einer höheren Ausbeutung der Arbeiter*innen verbunden.

Simulierter Sozialismus

Ein weiteres Experimentierfeld für Programmierer*innen ist die Simulation einer sozialistischen Wirtschaft. Hier bekannt sind Cockshot und Cotrell (oder in Deutschland ihr Übersetzer Dunkhase), die auf der Grundlage von Leontieff-Matrizen (näheres hier) Volkswirtschaften nach den notwendigen Arbeitszeiten planen wollen. Solche Konzepte sind möglich, aber wie die beiden Autoren feststellen, benötigte man selbst für die Ökonomie der Sowjetunion 107 X 107 solcher Matrizen. Ein selbst für heutige Rechner anspruchsvoller Vorgang, wenn keine einschränkenden Bedingungen vorgenommen werden.

Daher probierten einige Wissenschaftler aus, ob eine Art Marktsozialismus, bei formell alle Firmen den Produzenten gehören, die aber für einen Markt mit Preisen wirtschaften, eine Gesellschaft gleicher machen würde als beispielsweise ein sozialdemokratisches Modell, bei dem Reichtum mittels Steuern rückverteilt wird. John Roemer ermittelte in einer Reihe von Simulationsexperimenten, dass die Ungleichheit in einem Sozialismus, in dem jeder nach seiner Leistung bezahlt wird, größer ist, als in einem kapitalistischen System mit optimaler Umverteilung. Auch in einem System, indem alle Profite unter allen Arbeiter*innen verteilt würden, ist die Ungleichheit größer, als in einem sozialdemokratischem System. Manche haben dies als Fürsprache für ein sozialdemokratisches System gewertet. Man kann es aber auch umdrehen: Nur ein radikalerer Sozialismus, der die Waren bewusst nicht nach der Leistung verteilt, vermag es, die Klassengesellschaft zu überwinden.

Ausbeutung und Klasse

Cogliano und andere haben zwischen 2016 und 2019 auch Modelle zur Untersuchung der Klassengesellschaft entwickelt. Sie haben eine agentenbasierte Simulation programmiert, in der sie nachschauten, wie sich die Größen der Klassen, die je nach Ausbeutung in Proletariat, Kapitalisten oder Kleinbürgertum eingeteilt waren, mit der Zeit über eine ökonomische Entwicklung verhielten. Sie speisten die Voraussetzungen mit soziologischen Daten aus den USA. Sie zeigten auf, dass Klassenpositionen weitestgehend starr waren und die Größenverhältnisse zwischen den Klassen stabil blieben. Sie zeigten aber auch, dass mit zunehmender Kapitalakkumulation Umverteilungsprozesse und technischer Fortschritt bedeutsam werden, um das System nicht krisenhaft werden zu lassen. Basiert diese Umverteilung jedoch nicht auf einer konsistenten Progressivsteuer, finden die Ausgleichsmechanismen fast ausschließlich auf dem Rücken des Kleinbürgertums statt, während er Reichtum der Kapitalisten nahezu ungezügelt wächst. In einem vergleichenden sozialistischen System fand das Team um Cogliano heraus, dass es zwar immer noch Ungleichheit gibt, diese aber ohne jeden Umverteilungsmechanismus auf ein Drittel reduziert sei.

Tendenzieller Fall der Profitrate, Krisen und Zyklen

Zum Abschluss ist ein Marxsches Theorem bereits dem Namen nach wie kaum ein anderes zur Simulation geeignet, wie der TENDENZIELLE Fall der Profitrate. Das Wort Tendenziell deutet hierbei an, dass es Szenarien gibt, in denen die Profitrate nicht fällt. Am bekanntesten ist hier wohl Okishios Theorem (näheres hier), wonach die Profitrate auch bei technischen Neuerungen nicht fällt, wenn der Reallohn konstant bleibt. Okishio hat letztere Einschränkung immer wieder betont und auf den theoretischen Charakter dieser Überlegung hingewiesen.

Die Bedeutung seines Theorems untersuchte er 2001 mit Computersimulationen. Bei einem Gleichungssystem aus 13 Gleichungen und ebenso vielen Variablen fand er heraus, dass über einen kleineren oder größeren Zeitraum die Profitrate fiel. Nur eine unaufhörliche technische Entwicklung, die einem Teil des Kapitals Extraprofite sicherte, konnte die Profitrate unter realistischen Bedingungen wenigstens halten.

David Laibman wies 1988 und 1992 zyklische Krisen des Kapitalismus nach. Auch Foley (1987) und über ein agentenbasiertes Modell Jiang (2015) zeigten in ihren Modellen, dass den zyklischen Krisen des Kapitalismus nicht prinzipiell Einhalt geboten werden könne.

Zusammenfassung

Cogliano, Veneziani und Yoshihara haben einen umfassenden Abriss über die Entwicklung und die Problemstellungen marxistischer Simulationen erarbeitet. Der Literaturkatalog ist eine hervorragende Orientierung für jeden an der Thematik Interessierten. Wer sich für die grundlegenden Gleichungssysteme interessiert, dem sei der Artikel ebenfalls ans Herz gelegt. Im Wesentlichen gibt es folgende Take Aways:

  • Mit Hilfe von Finite-Elemente-Simulationen, Monte-Carlo-Simulationen oder agentenbasierten Modellen können grundlegende Prozesse marxistischer Kritik an der politischen Ökonomie experimentell untersucht werden.
  • Die Arbeitswerttheorie erklärt die Preise unter der Bedingung am Besten, dass die Mehrwertrate überall gleich ist.
  • Harmonische sozialdemokratische Wachstumsmodelle sind unter idealen Bedingungen möglich. Der Reichtum in sozialdemokratischen Umverteilungssystemen ist gleicher verteilt, als in sozialistischen Systemen, in denen Waren nach der Arbeitsleistungen verteilt werden.
  • Der tendenzielle Fall der Profitrate wurde in fast allen Simulationen als realistischster Fall bestätigt.

Die Literatur und Forschung zu Computersimulation in der marxistischen Ökonomie wächst und wächst. Aufbauend auf den bisherigen Modellen können immer feinere, realistischere entwickelt werden. Erschöpft ist der Spielraum noch lange nicht. So könnten die Modelle noch auf den Weltmarkt und das Verhalten der Akteure in der imperialistischen Konkurrenz ausgedehnt werden. The future is uncalculated.

Literatur

Cogliano, J., Veneziani, R. & Yoshihara, N. (2021): Computational methods and classical-Marxian economics. In: Journal of Economic Surveys. Jahrgang 36. Ausgabe 1. S.310-349.

Hinweis: Im Artikel werden viele Studien genannt, die im Artikel aufgegriffen wurden. Für die jeweiligen Literaturangaben wird hier auf das Literaturverzeichnis des Aufsatzes verwiesen.

Ein Kommentar

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert