Obdachlos in Seattle

⋄ Gentrifizierung ist ein allgegenwärtiges, aber marxistisch nicht vollständig durchdrungenes Thema.

⋄ Dabei liefert die Marxsche Rententheorie und die Begriffe der Differential- und Klassenmonopolrente einen erklärungsmächtigen Werkzeugkasten.

⋄ Die US-amerikanischen Wissenschaftler Matthew B. Anderson, Elijah C. Hansen und Jason Y. Scully von der Eastern Washington University haben die politische und ökonomische Entwicklung des South Lake Union District in Seattle untersucht.

⋄ Sie haben gezeigt, wie staatliche Mittel in Verbindung mit dem Finanzkapital zur Bereicherung der Grundbesitzerklasse genutzt wurden.

⋄ Zudem wurden Nachhaltigkeitsprojekte dazu benutzt, den Boden künstlich zu verknappen und der Grundbesitzerklasse Monopolprofite zu sichern.

Dass die Grüne eine Partei der Besserverdienenden geworden ist, scheint zum Allgeminplatz geworden zu sein. Denn neben einigen wenigen sozialen Projekten im Programm der einstigen SPD-Abspaltung gehen viele umweltpolitische Maßnahmen sehr einseitig auf Kosten der Arbeiter*innen. So werden zum Beispiel unter der Fahne der Nachhaltigkeit Häuser so hochwertig saniert, dass die alten Mieter*innen sich die Wohnung nicht mehr leisten können und ein neues zahlungskräftigeres Klientel an ihre Stelle tritt. Das Wort Gentrifzierung ist den meisten hier geläufig.

Häufig reicht die Kritik an der Gentrifizierung jedoch nicht über den moralischen Appell, besetzte Häuser nicht zu räumen, die Punkerkneipe von nebenan stehen zu lassen und vielleicht ein bisschen Nachbarschaftshilfe zu organisieren hinaus. Marxistische Analyse und Durchdringung der hinter Gentrifizierung stehenden sozialen Beziehungen bleiben eher Mangelware.

Die US-amerikanischen Wissenschaftler Matthew B. Anderson, Elijah C. Hansen und Jason Y. Scully von der Eastern Washington University haben die politische und ökonomische Entwicklung eines ehemaligen Industrieviertels von Seattle unter die Lupe genommen. Sie verknüpften in ihrem Dossier „Class monopoly rent and the urban sustainability fix in Seattle’s South Lake Union District“ in der aktuellen Economy and Space die kommunalpolitischen Programme hinter der Gentrifizierung mit der Marxschen Rententheorie.

Marxsche Grundrententheorie

Die marxistische Grundrententheorie ist eine Antwort auf die Frage, wie denn Boden, selbst wenn er unbearbeitet ist, überhaupt Wert und einen Preis haben kann, wenn der Wert ausschließlich durch Arbeit geschaffen wird. Der Ansatzpunkt von Marx lag darin, dass der Wert der Waren auch als Arbeitsprodukte nur die dahinter liegenden sozialen Beziehungen wiederspiegelt. Und die soziale Beziehung hinter der Bodenrente ist das notwendige Bündnis der Bourgeoisie mit den Grundbesitzern zur Niederschlagung des Adels während der bürgerlichen Revolutionen. Daher erlaubte das Bürgertum den Grundbesitzern, ihren Besitz in einzelne Parzellen aufzuteilen und zu verkaufen wie eine Ware (was im Feudalismus nicht immer so einfach möglich war). Da im Boden jedoch keine bzw. nicht nur menschliche Arbeitskraft vergegenständlicht ist, schließt sich die Folgefrage an, wie sich denn dann der Wert des Bodens bemisst.

Marx sagt: Auf dem Boden muss dann produktive Arbeit durch einen Kapitalisten stattfinden, er kann nicht einfach brach liegen. Der Preis des Bodens wird als Rente festgesetzt. Die Rente kann in Form eines Festpreises als Anteil am erwarteteten Mehrwert des Kapitalisten oder als Pacht aus der Tasche des tatsächlich realisierten Mehrwerts gezahlt werden. Wie groß der Anteil der Rente am Gesamtprofit ist, entscheiden die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen. Gelingt es der Rentiersklasse, den Boden zu monopolisieren oder zu verknappen, kann sie die Bourgeoisie leicht erpressen. Zieht die Bourgeoisie reihenweise an Orte mit niedrigen Renten, kann sie ebenso in Vorhand kommen. Ein hoher Anteil der Rente am Profit ist wiederum für das Proletariat nachteilig, da der verhandelbare Mehrwert geringer wird. Die Rente lässt sich durch entsprechende Aufwertung der Grundstücke steigern und rechtfertigt einen höheren Anteil am Profit.

Klassenmonopolrente

Nun ist Boden nicht gleich Boden. Lage und Beschaffenheit sind von großer Bedeutung. Dies beschreibt Marx mit dem Begriff der Differentialrente. Eine Differentialrente entspringt daraus, dass der Boden dem Kapitalisten einen Produktionsvorteil verschafft, welcher ihn in die Lage versetzt, produktiver zu arbeiten als die Konkurrenz und so einen Extraprofit zu sicheren. Die Rente, die aus der Differenz zwischen Durchschnittsprofit und Extraprofit geschöpft wird, nennt Marx Differentialrente. Ein Beispiel wäre die Anbindung eines Grundstückes an das Autobahnnetz, was die Umschlagszeit des Kapitals verkürzen würde.

Manchmal kann der Wettbewerbsvorteil aber auch aus der natürlichen Begrenztheit des Bodens entspringen. Marx führt als Beispiel den Besitz eines Wasserfalls als natürliche Energiequelle an, welcher die Produktionskosten um die Kosten für Kohle und Dampfmaschinen verringert. Die Anzahl der nutzbaren Wasserfälle ist begrenzt und somit in den Händen einiger Grundbesitzer monopolisierbar.

Diese Rente bezeichnete Marx als allgemeine Rente. Sie wurde später von David Harvey auch Klassenmonopolrente genannt. Heutzutage macht sie sich beispielsweise durch begrenzten Raum in Großstädten bemerkbar, wo die Grundstückspreise dadurch in die Höhe schießen, dass die Besitzer gezielt nicht genutzten Raum der Zirkulation entziehen. Die Klassenmonopolrente schadet im urbanen Raum dem Proletariat gleich dreifach:

1. Urbane Unternehmen müssen einen größeren Teil des Profits als Rente zahlen, wodurch der Spielraum für Lohnkämpfe geringer wird.

2. Durch die Verknappung sich auch die Wohn- und Mietobjekte betroffen, die einen höheren Teil des Lohns auffressen.

3. Jede, meist aus den – mehrheitlich durch das Proletariat gespeisten – öffentlichen Kassen finanzierte Verbesserung der Infrastruktur schlägt sich in einer Erhöhung der Renten aus.

Das Fallbeispiel Seattle

Grau ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum. Wie kommt ganz praktisch die Klassenmonopolrente zustande? Welche Rolle spielen Politik und Ideologie? Dazu haben Anderson, Hansen und Scully den South Lake Union District in Seattle empirisch unter die Lupe genommen. Die Geschichte ist die typische Gentrifizierungsevolution. Einst war das Viertel ein industrielles Zentrum, wo Betriebe und Arbeiter*innenquartiere unweit voneinander angesiedelt waren. Mit dem Zusammenbruch großer Teile der produzierenden Industrie seit den 1970ern verkam das Viertel zu einer großen Industrieruine, bis High-Tech-Firmen wie amazon, facebook, google und Microsoft sich ansiedelten und die „kreative Klasse“ ihre Ateliers in alten Fabrikhallen und billigen Wohnungen einrichteten.

Wie zog nun die Grundbesitzerklasse ihren größten Vorteil aus der Aufwertung des Stadtteils bzw. wie gelang es ihr, die Kommunalpolitik auf ihre Seite zu ziehen?

Der erste Faktor war das so genannte Tax Increment Financing (TIR). Bei dieser investieren die in Amerika chronisch klammen Kommunen in die Verbesserung der Infrastruktur (Straßen, Internet, Parks, …) mit Aussicht auf zukünftige höhere Grundsteuereinnahmen. Dafür können sie bei Banken Kredite aufnehmen, die erst aus dem höheren Steuerrückfluss verzinst zurückgezahlt werden müssen. Kommunen können so die Lebensqualität verbessern, ohne eigenes Geld in die Hand zu nehmen und die beteiligten Politiker*innen sichern so ihre Wiederwahl. Diese Aufwertung kommt den Grundbesitzern unentgeltlich zu gute, da nun auch die absehbare Differentialrente ihrer Grundstücke steigt. Das Proletariat findet zwar bessere Infrastruktur vor, Wohnraum wird hierdurch aber verteuert.

Der zweite Faktor war das Landscape Conservation and Local Infrastructure Program. Dieses Programm sah vor, Städte intensiv und nicht extensiv zu entwickeln. Es sollte lieber urban dicht, hoch und kompakt gebaut werden, anstatt an den Stadträndern Flächen zu versiegeln. Diese Flächen sollten lieber durch lokale Bauern bewirtschaftet werden oder als Naturschutzgebiete der Frischluftzufuhr dienen. Hinter dem nachhaltigen und ökologischen Etikett verbirgt sich aber auch, dass der bebaubare Raum begrenzt bleibt. Die grundbesitzende Klasse im Distrikt hat nun ein Monopol und profitiert von einer gesellschaftlich gewollten Verknappung. Innerhalb dieses Monopols können sie die Preise bestimmen. Zusätzlich stieg der Wert der Grundstücke durch die Erweiterung der zugelassenen Bebauungshöhe. Jedem dürfte klar sein, dass ein Grundstück teurer verpachtet oder verkaufet werdeb kann, wenn auf diesem ein 240 Fuß hohes Bürogebaude anstatt eines 85 Fuß hohem (konkrete Zahlen aus Seattle) errichtet werden kann.

Zusammenfassung

Anderson, Hansen und Scully haben die politischen Mechanismen hinter der Gentrifizierung des South Lake Union District in Seattle detailliert herausgearbeitet und mit der marxistischen Rententheorie verknüpft. Die Verbindung von marxistischer Theorie und konkreter Empirie ist doppelt fruchtbar. Marx hilft, diese Prozesse zu verstehen und die Prozesse helfen, Marx zu verstehen. Die Autoren geben auch ein anschauliches Beispiel dafür, wie eine Klasse Herrschaft ausübt und ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzt, allein indem sie herrschende moralische Imperative und finanzielle Notsituationen der Kommunen ausnutzt. Was kann man als Kommunist für die alltägliche Analyse hieraus ziehen?

  • Ökologische Nachhaltigkeit ist nicht soziale Nachhaltigkeit. Während es natürlich gut ist, nicht sämtliche Bodenflächen zu versiegeln oder Agrarwirtschaft ortsnah zu betreiben, kann grüne Politik einseitig die Grundbesitzerklasse auf Kosten des Proletariats bevorteilen. Allgemeine moralische Imperative sind zu verwerfen, wenn nicht auch die Klassenfrage gestellt wird.
  • Werden Kommunen chronisch unterfinanziert, müssen sich sich Mittel zur Stadtentwicklung suchen, die zwangsläufig auf Kosten der Arbeiter*innen gehen.
  • Die Interessen und Machtmittel der Grundbesitzerklasse sind separat von denen der Bourgeoisie zu betrachten. Die Grundbesitzer sind keineswegs eine besiegte Klasse, sondern sie gedeiht auf dem Boden des einstigen Bündnisses mit dem Bürgertum.
  • Die Frage der Bodenreform ist auf die Bühne der Klassenpolitik zurückgekehrt. Anhand der konkreten Mechanismen und negativen Auswirkungen auf die Arbeiter*innenklasse können Kommunist*innen aufzeigen, dass Grundbesitz Teil des Ausbeutungsmechanismus ist. Alles Land in Volkes Hand und Pachtverträge für Eigenheime und Landwirtschaft könnten wieder als zeitgemäßes politisches Programm verkauft werden.

Literatur:

Anderson, M., Hansen, E. & Scully, J. (2022): Class monopoly rent and the urban sustainability fix in Seattle’s South Lake Union District. In: Economy and Space. Jahrgang 54. Ausgabe 6. S. 1113-1129.

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