Ökonomie des Widerstands in Palästina?

⋄ Der Widerstand der Palästinenser*innen gegen das israelische Besatzungsregime findet nicht nur militant, sondern auch ökonomisch statt.

⋄ Seit 2019 setzt die Palästinensiche Autonomiebehörde den
Economic Disengagement Plan um, welcher die palästinensische Wirtschaft von der israelischen entkoppeln soll.

⋄ Ibrahim Fraihat wirft in der
Third World Quarterly einen kritischen Blick auf Idee, Ziele und Umsetzung.

⋄ In den vergangenen Jahren zeitigte der EDP nur geringe Erfolge.

⋄ Gründe sind die Unangetastet heitet der politischen Besatzung, fehlende Ausgangsvoraussetzungen und Klassenkonflikte innerhalb der Palästinenser*innen.
Palästinensische Arbeiter*innen an einem Checkpoint in Jerusalem

In den Medien der herrschenden Klassen spielt der so genannte Nahost-Konflikt nur dann eine Rolle, wenn Spannungen eskalieren und beiderseitig Raketen fliegen … mit jeweils unterschiedlicher Effektivität. Die Berichterstattung erfolgt dann meist unter der Brille der Befriedung, als der Herstellung brüchiger Waffenruhen anstatt der Analyse tieferliegender Konfliktlinien. Alltag, Leben und Ökonomie Palästinas unter den Bedingungen der Besatzung spielen kaum eine Rolle. Strategien des Widerstandes, die über strategisch wenig durchdachte Militanz hinausgehen, werden strukturell ausgeblendet.

Der Professor für internationale Konfliktforschung an der Universität in Doha, Ibrahim Fraihat, hat in der aktuellen Third World Quarterly den Economic Disengagement Plan analysiert, der die palästinensische Ökonomie schrittweise von der israelischen entkoppeln soll. Der auch in westlichen Medien bekannte Publizist reflektiert kritisch, ob solch ein ambitioniertes Vorhaben unter den Bedingungen von Neokolonialismus und Besatzung gelingen kann.

Die Idee des Economic Disengagement Plans

Unter der Amtszeit des Ministerpräsidenten Salam Fayyad setzte die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) auf eine Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen zu Israel, eine Liberalisierung des einheimischen Marktes und die Effektivierung der öffentlichen Strukturen. Dies führte zu beschränktem Erfolg, wie einem zeitweiligen Wirtschaftswachstum von 8,5%. Die Kritiker des Fayyadismus hielten ihm jedoch vor, seine Politik zu stark von internationalen Geldgebern abhängig zu machen. Die PA sei dadurch leicht erpressbar, da sie auf das Wohlwollen der USA und der EU angewiesen sei. Daher reichte Fayyad 2013 seinen Rücktritt ein.

Die nachfolgende Politik sollte die Autonomie der palästinensischen Ökonomie fördern und diese von der israelischen entflechten. Unter dem Economic Disengagement Plan (EDP) wurden eine Reihe von Maßnahmen zusammengefasst, welche dieses Ziel erreichen sollten. Der EDP sollte dabei auf dem Boden des Paris-Protokolls von 1994 stehen, welches eine teilweise Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den palästinensischen Gebieten und Israel, sowie der arabischen Welt zusicherte. Kritiker*innen betrachten es jedoch als die Grundlage für die Schaffung palästinensischer Niedrigslohnreservoirs für die israelische Wirtschaft und die Manifestierung des hegemonialen Status Quo.

Der EDP wurde breit als Teil einer Widerstandsökonomie begriffen, die nicht die allmähliche Verbesserung der Lebensqualität unter kolonialen Bedingungen zum Ziel hat, sondern eine bewusste gegenhegemoniale Strategie zur Unterwanderung des Status Quo. Häufig stehe dabei die Landwirtschaft an zentraler Position, um die Grundversorgung in politischen Krisenfällen sicherzustellen. Beispiele dafür wären die Autonomieprojekte in Rojava oder die Autarkiepolitik Nordkoreas. Fraihat sieht allerdings den EDP nicht in der Widerstandsökonomie verankert, da er die Ökonomie unter den Bedingungen des Kolonialismus und nicht gegen seine Grundlagen aufbauen will. Die Einhaltung der Pariser Protokolle sieht er hier als Beleg.

Kernziele des EDP

Der Economic Disengagement Plan fußt auf drei Säulen. Die erste Säule ist die Investition in ökonomische Cluster, z.B. Tourismus in Jerusalem, Industrie in Hebron und Landwirtschaft in Jenin und Qalqilya. Eine autarke Landwirtschaft ist hierbei auch von symbolischer Bedeutung. Neben der geringeren Erpressbarkeit auf der Ebene der unmittelbar lebenswichtigen Güter symbolisiere diese Säule eine tiefe Verbindung des Volkes zu Land und Boden.

Die zweite Säule ist, den Handel mit Israel durch den Handel mit alternativen Partner, bevorzugt aus der arabischen Welt, zu ersetzen. Besonders der Austausch medizinischer und landwirtschaftlicher Produkte mit Ägypten oder der Anschluss an jordanische Energienetze sind hier hervorzuheben.

Drittens werden Investitionen in die IT-Branche angestrebt. Dies habe den Vorteil, dass die digitalen Arbeiter*innen nicht physisch durch das israelische Militär von ihren Arbeitsplätzen getrennt wäre, man direkt in den Weltmarkt integriert sei und mit den Checkpoint-Kontrollen ein wesentliches Repressionsmittel Israels abgeschwächt werde.

Die großen Herausforderungen seien nach Fraihat, dass die Politik unter israelischer Besatzung stattfände. Der Handel mit alternativen Partnern könne nach Belieben eingeschränkt werden. Auch manifestiere die Entkopplung der palästinensischen Wirtschaft von der israelischen die Zwei-Staaten-Lösung, was nicht überall politisch gewollt sei. Drittens sei fraglich, ob nach Jahrzehnten der Besatzung die palästinensische Wirtschaft überhaupt stark genug für solch ein ambitioniertes Ziel sei. Es sei nicht auszumachen, welche privaten Investoren unter solch feindlichen Bedingungen gewonnen werden sollen und aus welchen Quellen die Startfinanzierung gespeist werden solle.

Der EDP in Aktion

Die Kälberschlacht

2019 beschloss die Autonomiebehörde, keine Kälber mehr aus Israel zu importieren. Der Umsatz betrug zuvor jährlich 150.000 Kälber zu einem Wert von 250 Mio. $. Laut dem Pariser Protokoll war die PA dazu durchaus berechtigt. Die israelischen Bauern liefen daraufhin Sturm und protestierten dutzende Male vor dem Haus des Premierministers. Dieser verhängte nicht nur ein Importembargo für palästinensische Agrarprodukte – immerhin 65% der palästinensischen Landwirtschaft gingen nach Israel. Er hielt auch widerrechtlich Kälber aus dem Ausland in Israel fest. Die PA musste schließlich nachgeben.

Es ist festzuhalten, dass das Projekt zwar letztendlich auf israelischen Druck hin scheiterte, jedoch nicht nur. Kleine palästinensische Zwischenhändler protestierten gegen die Politik, da ihre Kontakte zu israelischen Bauern nun nutzlos waren. Manche Schlachtereien umgingen das Importverbot und kauften israelische Kälber, weil sie preiswerter waren als aus dem Ausland importierte. Stimmen, welche die PA der Korruption bezichtigten wurden laut, da die Politik die Großimporteure bevorteilte.

Boykott israelischer Krankenhäuser

Ebenfalls 2019 verkündete der Sprecher des Gesundheitsministeriums Osama al-Najjar, man werde kranke Palästinenser*innen nicht mehr in israelische Krankenhäuser überführen, sondern nach Ägypten oder Jordanien. Noch 2018 waren 50.000 Einwohner*innen der Autonomiebehörde in medizinischer Behandlung in israelischen Einrichtungen, welche die Auslagen der PA in Rechnung stellten. Begleitend sollte die medizinische Infrastruktur in der Westbank und in Gaza verbessert werden. Anders als die Kälberschlacht zeigten sich tatsächlich Erfolge. An das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem mussten 80-90% weniger Gelder gezahlt werden. Im Gegensatz zum Agrarsektor hingen hier auch keine kleinen Händler vom Handel ab, sodass es keine großen innenpolitischen Widersprüche gab.

Israel verurteilte zwar diese Politik, unternahm aber keine handfesten Schritte, um diese zu verhindern. Der Staat besaß gar keine Handhabe, die Verlegung von Patient*innen nach Jordanien oder Ägypten einzuschränken.

Ölunabhängigkeit

Ein weiterer ambitionierter Plan sah vor, Öl zu verbilligten Preisen aus dem Irak zu importieren anstatt aus Israel. Dieses sollte in Jordanien raffiniert werden, um dann in die Autonomiegebiete geliefert zu werden. Der Umsatz mit Israel betrug jährlich immerhin 1,2 Mrd. US-$. Dass bisher aus dem Plan nichts wurde, hatte mehrere Gründe. Zum einen schrieben die Pariser Protokolle vor, dass in Palästina der Ölpreis maximal 15% vom Marktpreis in Israel abweichen dürfe, was das Interesse von Investoren senkte. Zweitens kontrollierte Israel alle Importwege und machte Investitionen so riskant. Und drittens bestand die Infrastruktur für den enormen Ölbedarf des Westjordanlandes noch nicht. Das Projekt liegt momentan mehr oder weniger auf Eis, auch wenn es noch nicht offiziell aufgegeben wurde.

Bewertung des EDP

Drei Jahre nach dem Beginn des Versuchs einer wirtschaftlichen Entflechtung von Israel hat sich weder die Handelsbilanz mit Israel wesentlich verändert, noch die mit Ägypten oder Jordanien, die zusammen ohnehin keine 10% des Handelsvolumens im Vergleich mit Israel erreichten. Immerhin wurde bisher ein Plan über die Entwicklung von zehn Clustern erstellt, dessen größtes Projekt in Qalqilia jedoch gerade einmal 22 Mio. US-$ umfasst. Bei der Ausbildung von IT-Fachkräften konnte immerhin Deutschland als Kooperationspartner gewonnen werden. Allerdings ist auch hier die Kapazität von 250 Ausbildungsstellen recht gering. Fraihat nennt einige Gründe hierfür:

  • Zunächst müsse der Zeitfaktor berücksichtigt werden. Der EDP sei ein Langzeitprojekt, von dem kurzfristige Erfolge nicht zu erwarten seien. Außerdem fiel die Startphase in die Zeit der Covid-Pandemie.
  • Weder Ägypten, noch Jordanien hätten etwas zu verschenken. Der Handel mit Israel sei häufig schlichtweg günstiger.
  • Es herrsche immer noch ein tiefes Misstrauen der Palästinenser*innen gegenüber der Fatah-Führung, die als korrupt wahrgenommen werden. Robuste Strategien ließen sich so nicht aufbauen.
  • Gerade beim Handel mit Ägypten ist die Regierung der Westbank nicht nur durch Restriktionen Israels bedroht, sondern auch auf das Wohlwollen der Hamas angewiesen.

Fraihat hält den EDP allerdings insgesamt nicht für eine erfolgsversprechende nationale Befreiungsstrategie, da sie den neokolonialen Charakter des israelisch-palästinensischen Verhältnisses nicht ernst nehme. Da die Pariser Protokolle die Autonomie der palästinensischen Wirtschaft noch erheblich einschränkten, müssten zuerst diese neu verhandelt werden. Zudem könne die freie Marktwirtschaft selbst unter Beendigung der politischen Kontrolle Israels nicht zielführend sei, da die israelische Ökonomie viel zu stark und produktiv sei, um in absehbarer Zeit mit ihr zu konkurrieren. Es sei kaum durchsetzbar, dass in einer freien Marktwirtschaft palästinensische Unternehmer auf kostengünstige Importe aus Israel verzichteten.

Anstatt groß angelegter Wirtschaftscluster plädiert Fraihat für die eine Entkopplung der palästinensischen Wirtschaft auf der Mikroebene. Kleinbauern-, -händler und -produzenten sollten sich mit Hilfe von NGOs sowohl lokal vernetzen, als auch allmählich die alternativen Wirtschaftskontakte ins Ausland aufbauen. Bildung sei hierbei ein wichtiger Hebel, da nichts anderes so sehr von den Palästinenser*innen geschätzt als dieses Mittel, um die Besatzung zu beenden. Die Möglichkeiten, welche die digitale Ökonomie böte, seien mit der Kooperation mit Deutschland noch lange nicht ausgeschöpft.

Zusammenfassung

Das Dossier von Ibrahim Fraihat zeigt, dass sich die Ökonomie nicht von ihren politischen Rahmenbedingungen trennen lässt. Dabei geht es im Falle Palästinas garnicht nur um Fragen von Besatzung, Kontrolle durch die israelische Armee und Behörden oder die Abhängigkeit von internationalen Geldgebern. Es geht auch um die Klassenkonflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Der einfache Kleinhändler oder -produzent muss überleben können und da stehen langfristige politische Zielstellungen hinten an. Von Maßnahmen wie dem Kalbsembargo profitierte nur eine ganz bestimmte Klasse von Großhändlern mit internationalen Kontakten, sodass der Vorwurf der Korruption schnell im Raum stand. Nur die Überwindung der Klassengesellschaft, tiefgreifende ökonomische Reformen gegen das Kapital und eine Volksregierung, die auch das Vertrauen des Volkes genießt, wären letztendlich in der Lage, wirklich robuste Strategien zur Überwindung der neokolonialen Abhängigkeiten, umzusetzen. Einem solchen Wandel stehen die herrschenden Fraktionen in Gaza und der Westbank auf absehbare Zeit im Wege.

Literatur

Fraihat, I. (2022): The Palestinian Economic Disengagement Plan from Israel: an opportunity for progress or an illusion? In: Third World Quarterly. Jahrgang 43. Ausgabe 7. S. 1705-1723.

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