Vergangenheitsbewältigung nach DIN

Während es im 19. Jahrhundert viele Begriffe aus den deutschsprachigen Wissenschaften Eingang in den englischen Wortschatz fanden – man denke nur an Zeitgeist, Weltschmerz oder Blitzkrieg – haben das in den letzten 70 Jahren nur wenige geschafft. Einer davon ist der Begriff Vergangenheitsbewältigung. Johannes Schulz von der Universität in Luzern hat unter Berufung auf verschiedene Vertreter der Frankfurter Schule und ihrer Interpretation von Sigmund Freuds Theorie der Psychoanalyse idealistische und materialistische Vergangenheitsbewältigung unterschieden. Sein Aufsatz erschien in der Philosophy und Social Criticism.

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Die Anatomie des Grammophons

Der Dokumentarfilmer, Autor und Lehrer Michael Chanan zeichnete in seinem Buch From Printing to Streaming die technische Entwicklung der Medienindustrie nach und zeigte auf, wie die materielle Basis der Kunst immer wieder neue ideologische Formen schuf, die auf ihre technische Basis zurückspiegelten. Das Buch wurde für den Isaac-Deutscher-Preis 2023 nominiert, konnte sich jedoch nicht gegen Heide Gerstenbergers Market and Violence durchsetzen.

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Historisch-materialistische Science Fiction (Teil 2): Die Parabel vom Sämann (Octavia Butler)

In etwa einem Jahr, am 20. Juli 2024, wird die Geschichte von Otavia Butlers Die Parabel vom Sämann beginnen. Die Geschichte der sechzehn bis achtzehnjährigen Pfarrerstochter Lauren, die den Zusammenbruch ihrer Gemeinde überlebt und sich durch eine Welt – eine Mischung aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte, Fallout und The Walking Dead – schlagen muss, ist mehr als eine Endzeitstory. Sie ist ein Musterbeispiel für literarisch verarbeiteten dialektischen Materialismus. Kürzlich gab der Heyne-Verlag das Buch als Neuübersetzung heraus, im nächsten Jahr wird die Fortsetzung Die Parabel der Talente folgen. Teil 2 zur Serie über historisch-materialistische Science-Fiction.

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Die Schule des dialektischen Materialismus

„Mittlerweile ist es eher zum Problem geworden, zu erklären, warum sich die Dinge nicht ändern sollten, statt warum sie sich ändern.“ Diesen Satz formulierte Dwayne Huebner bereits vor 55 Jahren mit Blick auf amerikanische Lehrpläne. Zusammen mit João M. Paraskeva kritisiert er seit vielen Jahren das Bildungssystem der Vereinigten Staaten. Dabei geht es den beiden nicht nur um materielle Ausstattung, soziale Segregation, Ungleichheit, bestimmte neokolonialistische Inhalte oder die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte. Sie gehen tiefer und stellen die Frage nach der philosophischen Grundlage verbindlicher Lehrpläne überhaupt. Welchen Sinn ergibt es, in einer Klassengesellschaft, in der ein weißer Farmersohn aus dem mittleren Westen vor ganz anderen Problemen steht als die schwarze Schülerin aus der Chicagoer South Side, das gleiche zu lernen? Was verraten Lehrpläne über eine Gesellschaft, wenn sie seit 80 Jahren kaum verändert wurden, obwohl die Gesellschaft einen grundlegenden Wandel durchlaufen hat? Die Autoren werben für eine Verankerung des dialektischen Materialismus im Bildungssystem. Sie kritisieren Bildung als Derivat einer einmal errichteten Klassenherrschaft und fordern ein System, welches die permanente Veränderung der Lerngegenstände durch die Lernenden erlaubt.

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zeitgenössische Marxist*innen: Guglielmo Carchedi

Heute wird die Serie zu zeitgenössischen marxistischen Wissenschaftler*innen fortgesetzt. Und wieder soll ein Marxist vorgestellt werden, den in Deutschland eher wenige kennen: Guglielmo Carchedi. Die Unbekanntheit hat er leider zu Unrecht. Seine Formalisierung der Hegelschen und Marxschen Dialektik, welche die Berücksichtigung der Zeit als wesentlichen Mehrwert der dialektischen gegenüber der formalen Logik identifiziert, ist leicht verständlich und erklärungsmächtig. Carchedi kann Dialektik, Ontologie, Klasse und politische Ökonomie zusammendenken, beharrt in bester wissenschaftlicher Tradition aber auf die empirische Überprüfbarkeit von Theorie. Im Folgenden sollen seine wesentlichen Leistungen dargestellt werden.

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Prosumer-Kapitalismus

Was ist Wissen und was für eine Gesellschaft ist eine Gesellschaft, deren Reichtum zunehmend auf Wissen und weniger auf fassbaren Objekten beruht? Dieser Frage ging Guglielmo Carchedi in der aktuellen International Critical Thought nach. Da seine Überlegungen sehr dicht und komplex ist, ist die Besprechung in zwei Teile aufgeteilt. Im vorangegangenen Beitrag wurde diskutiert, wie Carchedi eine marxistische Erkenntnistheorie systematisiert, die auf den Prinzipien der Dialektik beruht. Für ihn war die dialektische Logik das Reich des Potentials eines Begriffs, etwas anderes als es selbst zu werden als es noch ist, während die formale Logig die Logik der eingefrorenen realisierten Existenzen ist. Nur beide zusammen könnten das vollständige Wesen einer Sache beschreiben.
In den weiteren Überlegungen schreitet Carchedi nun vom Abstrakten zum Konkreten und ananylsiert Urteile und Fehlurteile über die digitale Internetökonomie. Wieviel ist Wissen wert, wenn es einfach millionenfach gecopypastet werden kann? Welche Rolle spielen die so genannten Prosumer, also die Nutzer*innen von google, facebook und co., die mit ihren Daten bezahlen? Bilden soziale Netzwerke das Fundament einer neuen solidarischen Gesellschaft?

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Wovon träumen Quantenschafe? (1/2)

Die marxistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie habe sich seit “Materialismus und Empiriokritizismus” nicht grundlegend weiterentwickelt. Nicht weniger als diese Behauptung stellt der italienische Philosoph Guglielmo Carchedi in der aktuellen “International Criticial Thought” auf. Kurz gesagt, weder ein György Lukács, noch ein Althusser oder ein Hans Heinz Holz wären über den Stand einer politisch zwar bedeutenden, aber theoretisch lückenhaften Streitschrift Lenins hinausgekommen. Auf Grund dieser mangelnden Vorstellung von Wissenschaft verfielen Marxist*innen in bürgerliche Phrasen von der „Wissenschaftsgesellschaft“ oder dem „digitalen Zeitalter“.
In zwei Beiträgen soll Carchedis Erkenntnistheorie vorgestellt und daraus seine Kritik an den Fehlvorstellungen zur Quantentheorie und digitalen Ökonomie entwickelt werden. Er berührt damit eine wesentliche Fragestellung der zeitgenössischen Debatte: Werden Computer den Menschen ersetzen können? Oder genauer: Können Computer das Denken des Menschen ersetzen?

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Von der “Wissenschaft” zum “Kapital”

Wir leben momentan in Zeiten des Krieges und seit Lenin ist es guter Brauch für Marxist*innen, sich nicht im Parteiengezänk darüber zu ergehen, welcher Teilnehmer das größere Schwein sei, sondern seinen Hegel zu studieren. Anlass bietet der in der Capital & Class erschienene Aufsatz „Rethinking the Relationship between Marx´s Capital and Hegel´s Science of Logic: The Tradition of creative Soviet Marxism“ von Manolis Dafermos. Der Autor untersucht also, welche Verbindung es zwischen Hegels Wissenschaft der Logik und dem Kapital von Karl Marx gibt und welche Rolle diese Verbindung in der Sowjetunion spielte. Aber warum ist die Frage nach den Einflüssen von Hegels “Wissenschaft der Logik” überhaupt interessant? Teil 1 von 2.

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