Ukrainian History X: The Past in unwritten

In einer Zeit, in der der Krieg in der Ukraine andauert und materialistische Stimmen gegen jene ankämpfen müssen, die alles schon immer gewusst haben, hat Volodymyr Ishchenko ein ganz besonderes Buch herausgebracht. Eine Anthologie vergangener Artikel ist an sich nichts Besonderes. Normalerweise sind die Gegenstände der Artikel aber bereits geronnene Geschichte und politisch irrelevant. Towards the Abyss wird aber in einer Zeit veröffentlicht, in welcher Einschätzungen des Maidan, der Regierung Selenskys und dem Kriegsbeginn immer noch als politische Statements gelesen werden. Ein Buch gegen das Vergessen.

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Runder Tisch zur russischen Ökonomie

Vor zwei Wochen wurden die neuen Вопросы политической экономии – Fragen der politischen Ökonomie der russischen Marxisten Aleksandr Buzgalin und Alexej Kolganov herausgegeben. In dieser Ausgabe wurden die Materialien eines Runden Tisches führender Wirtschaftswissenschaftlicher*innen der Lomonossov-Universität, der Russischen Akademie der Wissenschaften, sowie anderer Forschungs- und Bildungseinrichtungen veröffentlicht. Ziel des Runden Tisches war eine Verständigung über zentrale Fragen der russischen Ökonomie seit Beginn des Kriegs in der Ukraine.

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Die doppelte ursprüngliche Akkumulation

Seit Land Grabbing auf der politischen Landkarte der Linken aufgetaucht ist, erfährt auch die Marxsche Theorie von der ursprünglichen Akkumulation eine Renaissance. Ob in den indigenen Siedlungsräumen Südamerikas Bergbaukonzerne paramilitärische Truppen rekrutieren oder Finanzunternehmen im Westen Boden aufkaufen und von den Bauern ruinöse Pachten verlangen: es stellt sich die Frage, ob die kapitalistische Akkumulation nur noch über Renten bis teilweise außergesetzliche Gewalt funktionieren kann und ob sich der Schein der liberalen Marktgesellschaft und des Rechtsstaats allmählich lüftet. Damit verbunden ist die Frage, ob die ursprüngliche Akkumulation eigentlich ein historisches Ereignis war oder während des Kapitalismus immer präsent ist.

David Siegel lenkte in der New Political Science den Blick auf ein besonders spannendes Beispiel. In der Sowjetunion gaben die Bolschewiki den Bauern zuerst das Land von den Großgrundbesitzern, um ein Jahrzehnt später die Kollektivierung zu erzwingen. Haben also die Bolschewiki die Gewalt der ursprünglichen Akkumulation stellvertretend für die Kapitalisten durchgeführt und was sagt das über den sozialistischen Charakter des Staates aus? Siegel schlägt hier eine ganz eigene Interpretation vor.

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Durch Multipolarität zum Sozialismus

Das Treffen der BRICS-Staaten in Südafrika ist nunmehr Geschichte und es wird über die Ergebnisse diskutiert.. Mit der Aufnahme von Ländern, die als eher amerika- und EU-freundlich gelten (wie Saudi-Arabien ­oder Argentinien) hat sich die BRICS jedenfalls weniger als Gegenpol zu den imperialistischen Zentren als mehr als Neugründung einer Blockfreienbewegung 2.0 inszeniert. 2021 verfasste eine Gruppe linker Wissenschaftler*innen zum 60. Jahrestag der originalen Bewegung ein multipolares Manifest. Die International Critical Thought veröffentlichte knapp zwei Jahre später eine kritische Einschätzung der damaligen Autor*innen und Unterzeichner*innen, die auch den mittlerweile ausgebrochenen Ukrainekrieg mit einbezieht.

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Die Linke und der Frieden: eine kurze Geschichte

Der Streit um die Haltung der Linken zum Krieg ist also so alt wie die Arbeiter*innenbewegung selbst. Für viele Linke gilt das Jahr 1914 als der Sündenfall der Linken. Während die erste und die zweite Internationale unter dem Einfluss von Marx, Engels, Liebknecht und Bebel noch in jedem Krieg einen Bürgerkrieg gesehen hätte, in dem die Arbeiter*innen nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hätten, habe eine arbeiter*innenaristokratische Kaste in den führenden Ländern Europas die traditionell pazifistischen Werte verraten und ihren jeweiligen Regierungen die Treue gehalten. Dabei bestand bereits die erste Internationale ihre Feuertaufe – den Deutsch-Französischen Krieg – eher schlecht als recht. Marcello Musto fasste in der Critical Sociology die Haltung der Linken zum Krieg in der Geschichte zusammen.

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Blick ins Heft: die neue Вопросы политической экономии

Russland ist kein totalitäres System. Auch wenn Kritik am Krieg in der Ukraine oder die Kooperation mit westlichen Geldgebern immer ein Ritt auf der Rasierklinge sind, werden viele politische und wirtschaftliche Fragen kontroverser diskutiert als in Deutschland. Marxistische Wissenschaft hat sogar an den Universitäten überlebt und unter dem akademischen Überbau dutzender kapitalismuskritischer Lehrstühle an den Universitäten erstreckt sich eine breite Basis an verschiedensten Schulen, Journalen, Blogs, Videoprojekten oder Graswurzelorganisationen. Ein Leitmedium der akademischen Linken in Russland ist die Voprosi Politicheskoi Ekonomii, die Fragen der politischen Ökonomie. Sie wird von der Lomonossow-Universität in Moskau herausgegeben und von den beiden bekannten Marxisten Aleksandr Buzgalin und Andrey Kolganov redaktionell geleitet. Sie erscheint vierteljährlich und kann kostenlos auf ihrer Homepage (siehe Literatur) eingesehen werden. Vergangene Woche erschien die aktuelle Ausgabe. Ein kleiner Überblick über drei interessante Beiträge.

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Deviante Forschung zum Ukraine-Krieg (2/2)

An diesem Ostwochenende haben wieder die Ostermärsche gegen Krieg und Imperialismus stattgefunden bzw. finden sie noch heute statt. Die Medien versuchen wechselweise, eine rechte Unterwanderung zu konstruieren, die Demonstrant*innen als fünfte Kolonne des Kremls zu diskreditieren oder ihnen fehlendes Wissen zu unterstellen. Es wird dabei so getan, als sei das Narrativ, dass Putin aus Größenwahn einen vollkommen unschuldigen Nachbarn überfallen habe, um wahlweise eine neue Sowjetunion oder ein neues Zarenreich von Kamtschatka bis zur Neiße zur errichten. Und ohne Frage war der Einmarsch in der Ukraine ein Bruch des Völkerrechts und ein weiterer Schritt zur Eskalation des Konflikts. Dennoch war es nicht der einzige. Vor und nach der Invasion hat es verschiedene Möglichkeiten der Deeskalation gegeben. Warum, diese nicht ergriffen wurden, damit beschäftigt sich die aktuelle International Critical Thought.

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Deviante Forschung zum Ukraine-Krieg (1/2)

Kurz nach dem Ukraine-Krieg waren wissenschaftliche Artikel zu dessen Ursachen und zur Einordnung in die geopolitische Lage rar gesät. Das ist verständlich, braucht wissenschaftliche Recherche Sorgfalt und damit Zeit. Mittlerweile haben sich die meisten Teile der wissenschaftlichen Community jedoch positioniert und entsprechende Beiträge veröffentlicht. Der Großteil dieser Beiträge stützt die westlichen Narrative, was in Anbetracht der ideologischen Dominanz des Imperialismus und den akademischen Abhängigkeitsstrukturen zunächst nicht verwunderlich ist. Diese Interpretationen müssen sich jedoch an ihrer Kritik messen lassen. Die International Critical Thought hat zahlreiche Beiträge versammelt, die abweichende Deutungen der Ursachen des Ukraine-Kriegs beschreiben.

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Das Verbrechen der Verbrechen

Er gilt als das schwerwiegendste Verbrechen im Völkerrecht: der Genozid. Unter ihm werden Handlungen verstanden, die darauf abzielen, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Das muss nicht die physische Vernichtung sein, sondern kann auch die Auslöschung einer Identität bezeichnen. Obwohl oder gerade weil der Vorwurf so schwerwiegend ist, wird er häufig gebraucht.
A. Dirk Moses ist ein australischer Genozidforscher mit deutschen, polnischen und jüdischen Wurzeln. In seinem aktuellen Buch The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression. unternimmt er eine Reise durch die Problemgeschichte des größten Verbrechens unter den Verbrechen.

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Rezension: Spezialoperation und Frieden (Ewgeniy Kasakow)

Russland ist ein Land, in dem es offiziell keine Kriegsbefürworter*innen gibt. Denn es gibt offiziell keinen Krieg. Kundgebungen für die Spezialoperation zu organisieren, ist ebenfalls nicht erwünscht. Politischer Aktivismus würde ja bedeuten, es handle sich um eine große Sache. Es ist für dem Kreml aber keine große Sache. Doch auch, wenn es weder Krieg noch Kriegsfreunde in Russland gibt, es gibt Kriegsgegner*innen. Auch wenn diese erst recht nicht protestieren dürfen.
Ewgeniy Kasakow hat in seinem Buch Spezialoperation und Frieden die Positionen der linken Kriegsgegner*innen zusammengetragen. Dazu hat er Interviews geführt, Quellen ausgewertet und die Geschichte einer zersplitterten politischen Bewegung aufgerollt. Herausgekommen ist eine Mischung aus politischer Enzyklopädie, Essaysammlung und kommentiertem Zeitgeschehen.

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