Accumulation by Re(!)possession

Siedlerkolonialismus wurde bisher in der marxistischen Rezeption als eine Form der Accumulation by Dispossession verstanden, wie David Harvey den Begriff geprägt hat.

Dabei führt überschüssiges Kapital sowohl zu einer äußeren geographischen Landnahme als auch einer inneren gegenüber noch nicht marktgerechten Sphären.


Thilo van der Haegen und Heather Whiteside sehen in der Theorie des Siedlerkolonialismus den zweiten Aspekt jedoch noch unterthematisiert.

⋄ Nach ihrer Theorie der Accumulation by Repossession schließt die reale Subsumtion der Indigenen unter das Kapitalverhältnis erst mit einer Rückübertragung des Eigentums unter dem Primat der Profitlogik ab.

⋄ Dies demonstrieren am Fall der False Creek Bucht, wo ein indigenes Bauunternehmen 6.000 Wohneinheiten für den lukrativen Immobilienmarkt Vancouvers baut.

Die Tendenz des israelischen Monopolkapitals, sich von den USA zu emanzipieren, die immer leichten Druck hin zu einer Verständigung mit den Palästinensern ausgeübt haben, hin zu einer Politik der inneren Landnahme und sozialen Entrechtung großer Teile der Bevölkerung, hat sich in den letzten Jahren auch in einer Wandlung der Bezeichnung des israelischen Akkumulationsregimes von einem imperialistischen zu einem siedlerkolonialistischen niedergeschlagen. Dabei ist dieser Akkumulationstyp, der sich deutlich von siedlerkolonialistischen Regimen aus den Zeiten der ursprünglichen Akkumulation unterscheidet politökonomisch noch nicht vollständig verstanden. Zur Erforschung ist Israel selbst nicht unbedingt der beste Untersuchungsgegenstand, da die hohe Emotionalität in der Debatte um den palästinensichen Unabhängigkeitskampf objektive Bewertungen erschwert. Thilo van der Haegen und Heather Whiteside haben ähnliche Entwicklungen in Kanada untersucht. Sie benutzen der Begriff der Accumulation by Repossession, also anlehnend an die bekannte Theorie der Accumulation by Dispossession von David Harvey, um die Grundzüge dieses Systems herauszuarbeiten.

Kolonialismus und Landnahme

In der Tradition der marxistischen Theorelinie von Rosa Luxemburg bis David Harvey wird der Siedlerkolonialismus im modernen Diskurs gern als eine Akkumulation durch Enteignung beschrieben. Da im Kapitalismus dem Arbeiter nur ein Teil des Neuwerts als Lohn ausbezahlt wird und der Kapitalist den Rest nicht alleine verfressen kann, akkumuliert sich zunehmend Kapital auf Seiten der Bourgeoisie, das aber nicht mehr nachfrageorientiert neu investiert werden kann. Daher besitzt das Kapital die Tendenz, zum einen geographische Räume zu erschließen, die noch nicht kommodifiziert sind, als auch innere Sphären der Kapitallogik zu unterwerfen, die es vorher noch nicht waren. Der Term Enteignung oder Dispossession kennzeichnet dabei, dass die ursprüngliche Akkumulation, die von außen in indigene Gebiete getragen wurde, ein Akt der Gewalt ist. Eigentum muss bei solchen Prozessen, die zwischen historischen Epochen wirken, dabei auch als mehrdimensional begriffen werden: als rechtliches Eigentum, aber auch als Macht im Sinne gesellschaftlicher Beziehungen, Autorität im Sinne des Einflusses und Kontrolle im Sinne der direkten Verfügungsgewalt über Eigentum. Land kann zum Beispiel formal noch indigenen Stämmen gehören, aber etwa der Macht einer übergeordneten Kapitallogik unterliegen oder durch unmittelbare vom Staat tolerierte illegale Bearbeitung untergraben werden.

Die beiden Autor*innen halten das Konzept der Akkumulation durch Enteignung aber noch für unzureichend und zwar aus folgendem Grund. Der reine Siedlerkolonialismus kann vielleicht formell das Land und Teile der indigenen formell unter das Kapital subsummieren. Real verbleibt aber immer eine außerkapitalistische Sphäre, die sich im Begriff des Reservats niederschlägt. Die Menschen in Reservaten mögen rechtlich und in ihrer Abhängigkeit von Lohnarbeit zwar bourgeois sein, wie Marx in seinen Frühschriften unterscheidet, um aber komplett real unter das Kapital subsummiert zu sein, müssen sie auch citoyens werden. Sie dürfen sich nicht nur nicht gegen Investitionen und Ausbeutung des Landes wehren. Es muss zu ihrem eigenen Interesse werden.

Accumulation by Repossession

Dafür führen van der Haegen und Whiteside den Begriff der Accumulation by Repossession ein. Eigentlich geht dieser gar nicht über Luxemburg und Harvey hinaus, sondern er ruft nochmal in Erinnerung, dass die Überproduktion nicht nur zu äußerer, sondern auch innerer Landnahme führt; ein Aspekt, der in der bisherigen Diskussion häufig zu kurz kam. Ganz allgemein kann man den Prozess so beschreiben. Siedler enteignen zunächst die indigene Bevölkerung meist nur in wenigen besonders attraktiven Gebieten: strategisch und ökonomisch bedeutsame Küstenregionen, Oasen oder fruchtbare Landstriche, zum Stadtbau geeignete Flussufer, für Infrastruktur wichtige Täler, Ebenen und Pässe und so weiter. Dieser Akt erfolgt meist durch militärische Gewalt. Können sich die Siedler durchsetzen, müssen sich die Indigenen in die verbliebenen Gebiete zurückziehen. Meistens haben die besetzten Gebiete jedoch auch in der indigenen Ökonomie und sozialen Organisation wesentliche Rollen gespielt, sodass die Gesellschaften nun unter erheblichen Veränderungsdruck stehen. Die zentralen Bastionen der Siedler geben dann den Weg für die weitere kapitalistische Entwicklung vor. Wird etwa eine fischreiche Bucht zu einem Militärhafen, müssen die Indigenen fortan Lebensmittel kaufen und sich damit dem Gelderwerb verschreiben.

Das übrige Land kommt dann in der Regel in Staatshand, wobei der einheimischen Bevölkerung meist ein bestimmtes Maß an Rechten zugestanden wird. Sowohl in Kanada und den USA wurden diese Rechte lange Zeit als Kollektivrechte verstanden. Das Problem hierbei ist, dass durch die Zerstörung der sozialen Struktur der Indigenen, die meist in viel kleineren Gruppen zusammengeschlossen waren als auf dem gesamten Land leben, das kollektive Interesse der Indigenen gar nicht sinnvoll artikuliert werden kann. Aus diesem Grund maßte sich der Staat meist die patriarchale Verwaltung über diese Gebiete an. Entweder wurde dabei komplett über die Köpfe der Indigenen hinweg entschieden, wie das kollektive Recht auf den Landbesitz auszulegen sei. Oder man suchte sich die entsprechenden Autoritäten, welche die Erfordernisse der Veränderungen artikulierten. Insbesondere spiegelt sich dies meist in einem Dreifacheigentum wieder: einmal gehört das Land dem Staat, einmal den Indigenen als Kollektiv und dann gibt es darauf noch den privaten Besitz der Unternehmer.

Die daraus entstehende Dialektik aus Eigentum (dreigeteilt), Macht (Staat), Autorität (Indigene) und Kontrolle (Unternehmer) führt zum einen dazu, dass die Allianz aus Staat und Unternehmer faktisch immer sein Interesse durchsetzen kann. Es kann aber auch dazu führen, dass unnötige Reibungsverluste die Akkumulation auf indigenem Boden behindert. Indigene könnten durch gewaltsamen Widerstand die Kontrolle durch das fungierende Kapital in Frage stellen. Der Staat könnte sich durch moralischen Druck gezwungen sehen, lange Aushandlungsprozesse mit den lokalen Autoritäten zu führen. Die Erschließung des Landes könnte für das Kapital unrentabel werden, wenn die Eigentumsverhältnisse in anderen Landesteilen oder schlimmer, anderen Ländern, kapitalfreundlicher sind.

Accumulation by Repossession kennzeichnet daher folgenden Prozess: Das Eigentumsrecht der Indigenen wird zunehmend über individuelle Rechte auf das Land anstatt eines schwammigen Kollektivrechts definiert. Individuelle Eigentumsrechte sind Ausschlussrechte, die mit vorherigen kollektiven Machtstrukturen der Indigenen nicht mehr zusammenpassen, aber der äußeren bürgerlichen Umgebung viel besser entsprechen. Damit wird indigenen Individuen die Möglichkeit gegeben, selbst zu Unternehmern aufzusteigen und das Land zu bearbeiten. Da das dafür notwendige Kapital meist geliehen werden muss, gewinnt das Finanzkapital an Autorität, weil es eine Partnerschaft mit den indigenen Unternehmern eingeht. Ist dieses Finanzkapital mit dem vorher fugierenden Kapital bereits verflochten, ändert sich die Rolle der weißen Unternehmer lediglich von den Eigentümern im Sinne der Kontrolle hin zu Eigentümern im Sinne der Autorität. Da die Profitraten dazu tendieren, sich anzugleichen, können diese Unternehmen dann den gleichen Profit wie vorher machen, nur als Zins anstatt als industriellem Profit. Rekrutieren sich die neuen indigenen Kapitalisten dazu noch aus den Reihen der politischen Eliten der Indigenen, verschmelzen ökonomische und politische Macht in den Reservaten und führen zu einer Schwächung des Widerstandes gegen die Ausbeutung der Reservate und zu einer Verschmelzung der Interessen des Finanzkapitals mit den Interessen der politischen Eliten der indigenen. Die Widersprüche zwischen Indigenen und dem Staat sinken im Vergleich zu denen zwischen indigenen Kapitalisten und Proletariern. Die indigene Welt wurde letztendlich real und das Kapital subsummiert.

Dazu eine Fallstudie

Die Fall Studie stellt diese Theorie am Beispiel der False Creek Bucht um Vancouver dar. Die längliche Bucht ist heute der zentrale „falsche“ Fluss von Vancouver, an dem nis ins 19. Jahrhundert zwar die Squamish Nation eine wesentliche Gruppe bildete, wichtige Ressourcen aber mit anderen Stämmen kollektiv genutzt wurden und Rechte stark spirituell, kulturell und temproal strukturiert waren. Das bis dahin dort befindliche Dorf war das kulturelle Zentrum der fischreichen Bucht. Die zumeist gerodeten Flächen um die Bucht wurden landwirtschaftlich genutzt. 1858 entstanden hier im Zuge des Goldrauschs die ersten Kronkolonien.

Nach der Besiedelung durch Engländer wurde das Territorium um die Vancouver zu Staatseigentum erklärt. Prinzipiell unterscheiden sich in Kanada zwei Eigentumsformen. Einmal freier Privatbesitz und zum anderen das aus Feudalzeiten stammende Kronland, dass gepachtet werden kann. Die Erklärung des indianischen Territoriums zu Kronland war damit eine Enteignung, da das zuvor frei genutzte Land nun hätte gepachtet werden müssen, wozu die indigene Bevölkerung weder das Geld hatte noch die entsprechende profitorientierte Wirtschaftsweise. Daran ändert sich auch nichts, dass das Land formell gesehen kollektives Eigentum der Indigenen blieb, das jedoch treuhänderisch von der Krone verwaltet wurde. Die Nutzung des Landes richtete sich nach dem Prinzip des höchsten Nutzen und Ertrages, das weiße Investoren strukturell begünstigte. So wurde den Indigenen sowohl Macht als auch Kontrolle über die eigenen Territorien genommen und ihnen bestimmte Gebiete zugewiesen, die den politischen und ökonomischen Interessen des Staates nicht im Wege standen. Im Zweiten Weltkrieg etwa mietete das Militär den strategisch günstig gelegenen Grund und baute Luftbasen und Militärhäfen, sowie hunderte von Baracken für transportierte Truppenteile. Nur wenig der ursprünglichen Infrastruktur überlebte.

Ab den 70er Jahren begann sich jedoch die ökonomische Basis zu wandeln. Der erste Industrialisierungsschub nach dem Zweiten Weltkrieg ließ nach und das Kapital suchte neue Anlagemöglichkeiten. Gleichzeitig hatte die 68er-Bewegung begonnen, ein Bewusstsein für das während der Besiedelung begangene Unrecht zu entwickeln, sodass einige Reformgesetze erlassen wurden. In den 60ern gab das Militär das nicht mehr benötigte Land zurück an die Krone. 1979 wurden als Industrieflächen ausgeschriebene Gebiete, die nach Abflauen des Booms nicht mehr benötigt wurde als Land zur Wiedergutmachung angeboten. 1999 erhielten die Indigenen mit dem First Nations Land Management Act eine Opt-Out-Möglichkeit, wenn sie das kollektiv besessene, aber von der Krone verwaltete Land, in Privateigentum überführten. Damit wurden zum einen die Kämpfe um das Land eingehegt und als ökonomische Kämpfe neu kontextualisiert. Während 165 Erste Nationen einwilligten, lehnten die Squamish jedoch ab. Zum einen waren die verschiedenen Eigentumsformen zu komplex, um sie ohne große Konflikte in eine neue zu überführen. Zweitens hatten Squamish wie einige andere Stämme bereits Entwicklungsunternehmen errichtet, die quasi einen öffentlichen Sektor bildet, der Land über 99 Jahre pachten konnte. Die Idee hier war, anstatt das Land durch viele kleine unproduktive Bauern zu fragmentieren, dass Kapital zu konzentrieren, finanzstarke Partner zu gewinnen und sich die günstige Lage in der Nähe von Vancouver zu Nutze zu machen.

2014 bildete die kroneigene Canada Lands Company ein Joint-Venture mit der Musqueam, Squamish and Tsleil-Waututh Development Corporation, um 52 Hektar des Landes zu erschließen. Seit 2022 lässt nun der Abgeordnete der Squamish über die stammeseigene Firma Nchkay elf Hochhäuser mit bis zu 6000 Wohneinheiten bauen, wovon 250 für Stammesangehörige reserviert sind. Angesichts des chronisch knappen Wohnungsmarktes in Vancouver erhofft sich die Community jedoch vor allen Dingen Mieteinnahmen. Innerhalb eines Jahrhunderts verschwand damit die ursprüngliche Dorfgemeinschaft und weicht nun einem Wohnviertel, dass sich organisch in die Stadtgesellschaft von Vancouver integriert.

MST und Nchkay sind hierbei so genannte First Nations Developement Corporations. Der Witz ist hierbei, dass das als indianisch gekennzeichnete Land vorrangig von solchen Unternehmen besessen werden darf, die aber dem Inhalt nach bereits die Kommodifizierung des Landes festschreiben und der Form nach ein profitorientiertes Unternehmen bilden, dass sich natürlich über Kredite von den Finanzmärkten abhängig macht. So bildet die Rückgabe des Landes entweder in Form des Privatbesitzes oder in Form der Abgabe an stammeseigene Großunternehmen eine neue Investitionsmöglichkeit für überschüssiges Kapital, die es so zuvor nicht gegeben hat.

Zusammenfassung

Thilo van der Haegen und Heather Whiteside haben die Theorie der Accumulation by Dispossession nochmals schlüssig zu Ende gedacht und um einen ihr schon innewohnenden Aspekt weiterentwickelt. Die Theorie beschreibt, dass für einmal kolonisierte Gesellschaften kein Weg mehr zurückführt. Kollektive Rechte an Land, so wie sie in vorkapitalistischen Verhältnissen brauchbare Instrumente waren, werden in einer kapitalistischen Umwelt anachronistisch und führen dazu, dass Staat und Unternehmer sich über die Gemeinden leicht hinwegsetzen können. Individuelles Eigentum hingegen führt dazu, dass die Strukturen der äußeren Kolonisatoren auch innen übernommen werden und sich die Indigenen assimilieren. Zu beachten ist hier immer, dass dies nicht als ein automatischer Prozess hin zu einer Zivilisierung missverstanden werden darf, sondern dass die kolonisierende Gesellschaft auf Grund ihres Entwicklungsvorsprungs und dem Aufzwängen der eigenen für sie nützlichen Rechtssysteme einen strukturellen Vorteil gegenüber den indigenen Gesellschaften genießt.

Und in diesem Sinne kann auch der Kolonialismus in der Westbank verstanden werden. Israel besetzt durch die illegalen und gewaltsam errichteten Siedlungen strategisch wichtige Punkte, mit Hilfe derer die ökonomische Trajektorie der Region definiert werden kann. Die Palästinenser*innen besitzen wiederum nur kollektive Rechte, die jederzeit durch die Kontrolle der Siedlungen und die Macht des israelischen Staates außer Kraft gesetzt werden können. Eine Einstaaten-Lösung, wie sie momentan Israel vorschwebt; in der es nur einen israelischen Staat mit palästinensischen Autonomiegebieten gibt, würde dann den Zustand der Accumulation by Repossession einleiten. Durch die Sicherung des palästinensischen Individualeigentums durch den israelischen Staat kann die einheimische Bevölkerung real unter das israelische Akkumulationsregime subsummiert werden, wodurch eine Interesseneinheit des israelischen Monopolkapitals mit palästinensischen Eliten und Unternehmern entsteht, wobei das Monopolkapital den strategischen Vorteil genießt. Das ist die außerhalb des israelischen Faschismus, der die ethnische Säuberung der Palästinensergebiete ins Auge gefasst hat, die liberale Lösung des Konflikts und eine der möglichen Entwicklungen, die sich im Nahen Osten abzeichnen könnten. Dadurch lässt sich auch der intuitive heftige Widerstand gegen diese Art von Siedlerkolonialismus erklären, der letztendlich immer zu einem ethnisch überformten Abhängigkeitsverhältnis führt. Und es erklärt, warum ausgerechnet die Völker, welche den Prozess der Accumulation by Repossession schon hinter sich haben oder gerade in ihm stecken, solidarisch mit diesem Widerstand agieren.

Literatur:

Van der Haegen, T. & Whiteside, H. (2025): Accumulation by repossession: Capitalist settler colonialism in Coast Salish territory. In: EPA: Economy and Space. Online First. DOI: 10.1177/0308518X241312890.

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