Alessandra Mezzadri

Alessandra Mezzadri hat sich in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Stimme der kritischen Sozialtheorie entwickelt. Sie verbindet akademisch aktuell heiß diskutierte Theorien wie Feminismus und Postkolonialismus mit der empirischen Fokussierung soziologischer Feldtheorie und spannt dabei den Bogen zwischen konkreten Beobachtungen mit marxistischen Konzeptionen. Ein Überblick über ihr Schaffen und ihre wesentlichen Ansatzpunkte.

Biografie

Alessandra Mezzadri wurde in Italien geboren und erwarb 1994 ihre Hochschulreife an einer privaten Sekundarschule in Rom. Ihren Bachelor in Wirtschaftswissenschaften schloss sie mit Summa cum Laude ab; ihren Master und und die Doktorwürde erlangte sie in der Entwicklungsforschung an der SOAS in London. Neben Italienisch und Englisch spricht sie Spanisch, Französisch und Hindi. An der SOAS lehrt sie seit 2008 politische und feministische Ökonomie mit dem Schwerpunkt auf der kapitalistischen Peripherie. 2011 nahm sie unter der Leitung von Jens Lerche an einem großen Forschungsprojekt zur Lage der armen Arbeiter*innen in Indien und China teil, aus der auch ihr bisher am stärksten rezipiertes Buch The Sweatshop Regime hervorging. Seitdem hat sie seit zehn Jahren intensiv zum indischen Textilsektor geforscht und gilt damit in Europa als anerkannte Expertin.

Mezzadris allgemeine Forschungsschwerpunkte liegen zum einen in der feministischen Theorie. Insbesondere verfolgt sie hier den Ansatz einer marxistischen Interpretation der Social Reproduction Theory, der später noch weiter ausgeführt wird. Zweitens analysiert sie die globalen Wertschöpfungsketten mit Blick auf soziale Ungerechtigkeiten zwischen den einzelnen Kettengliedern, auch wenn diese nicht unmittelbar ins Auge springen. Drittens arbeitet sie viel in der empirisch-soziologischen Feldforschung. Das bedeutet, dass sie ihre Forschung direkt an den Lebensumständen der Arbeiter*innen oder anderer Klasse ansetzt. Daneben spielen Aspekte wie moderne Sklaverei, Ethnografie, Arbeiter*innenrechte und gewerkschaftliche Organisation, Entwicklungsansätze und der geografische Schwerpunkt Indien in ihren Arbeiten eine große Rolle. Auch der Bewältigung der Covid-Pandemie schenkte Mezzadri größere Beachtung.

Bei der International Labour Organisation ist sie seit technische Expertin des Projekts zur indischen Textilindustrie. Sie ist Mitglied der International Association for Feminist Economics (IAFFE) und der Development Studies Association (DSA). Für zahlreiche Arbeitsschutz-, Menschenrechts- und Fair-Trade-Labeling-Organisationen steht sie als Beraterin zur Verfügung. Aus der marxistischen Theorie greift sie vor allen Dingen den Begriff der Ausbeutung zentral heraus, knüpft aber auch wesentlich an materialistischer Forschung und der Klassenanalyse an. In ihren Arbeiten referiert sie häufig an Alfredo Saad-Filho, Ben Selwyn, Silcia Federici, Michael Buroway oder Sharad Chari.

Social Reproduction Theory

Die Social Reproduction Theory (SRT) fand zuletzt durch das gleichnamige Buch von Tithi Bhattacharya im Jahre 2017 breiteren Eingang in die feministische und marxistische Debatte. Wie Mezzadri sie versteht, beruht sie auf der Tendenz des Kapitalismus, aus Verwertungsgründen Arbeit immer stärker zu spezialisieren (nicht zur verwechseln mit der Flexibilisierung der Arbeit). Damit gewinnt nicht nur die Lohnarbeit einen ausdifferenzierten Klassencharakter, sondern auch die unfreie und die unbezahlte Arbeit.

In diesem Interpretationsrahmen ist die Klasse etwas stets etwas umstrittenes. Der Tendenz des Kapitals, durch die Kommodifizierung aller Lebensbereiche die Lohnarbeit zu universalisieren und damit die Prognose des Kommunistischen Manifests zu erfüllen, läuft die Tendenz entgegen, Lohnarbeit zu differenzieren und in andere soziale Erzählungen einzubetten. So kann man beispielsweise von einer „Feminisierung des Überlebens“ der Arbeiter*innenklasse sprechen, wenn Krisenfolgen geschlechtlich distingiert ausgelagert werden. Oder wenn alternative Solidaritätsnetzwerke zur Bewältigung der Reproduktion der Arbeiter*innenkasse vorausgesetzt werden, während diese zeitgleich von den herrschenden Klassen als Motiv einer Entsolidarisierung von der Mehrheitsgesellschaft in Anschlag genommen werden.

Der zentrale Punkt ist, dass die Verbindung der Bewältigung aller Probleme der Reproduktion nie getrennt von der Produktion betrachtet wird und umgekehrt die Produktion nie ohne die Möglichkeiten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft betrachtet wird. Social Reproduction Theory analysiert also, welchen Reproduktionsmodus der Ware Arbeitskraft ein gesellschaftliches System anstrebt, um eine bestimmte Produktionsweise kontinuierlich betreiben zu können. Anders als viele andere feministische Ökonomiekonzepte legt die SRT weder Wert auf die besondere Trennung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, noch auf eine politisch anzustrebende Vergleichung wie ihn der „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne, sondern auf die Analyse des tatsächlichen Zusammenhangs zwischen Produktion und Reproduktion, wie er vorliegt. Damit zielt sie auf die Entkleidung des Fetischs der „fiktiven Natur der Trennung zwischen Arbeit und sozialer Reprroduktion durch die Darstellung der gegenseitigen Abhängigkeit bei der Regeneration kapitalistischer Verhältnisse“ (Mezzadri 2022, S.1789). Patriarchat ist somit nicht etwas, was der Theorie vorausgesetzt wird, sondern etwas, dass sich aus fast allen Reproduktionsmechanismen kapitalistischer Staaten ergibt, ohne zu vernachlässigen, dass natürlich auch Männer in die Reproduktion involviert sind.

Die komplexesten Beschreibungen der SRT verbinden die Reproduktion der Ware Arbeitskraft mit der Reproduktion des Kapitals und stellen damit etwa die materialistischen Brücken zwischen Finanzkapitalismus und der ökonomischen Situation moderner proletarischer Haushalte her. Daraus ergeben sich auch Rückschlüsse auf die ideologischen Formen, die Gesellschaften annehmen. Insofern transzendiert die SRT die Eurozentrismusvorwürfe gegen marxistische Theorie, da der bürgerliche Nationalstaat der imperialistischen Zentren nicht mehr der normative Normalzustand kapitalistischer Realität ist, sondern nur eine Variation profitorientierter Produktionsweisen.

Marxistische Feldforschung

Unter Feldforschung wird in der Soziologie zunächst die Untersuchung von sozialen oder ethnischen Gruppen verstanden, indem sich die Forschenden in deren unmittelbares Lebens- und Arbeitsumfeld begeben. Eine Pionierstudie hierzu waren etwa die Arbeitslosen von Marienthal. Lazarsfeld und Jahoda führten für diese Studie, die 1933 erschien, nicht nur Interviews mit Betroffenen und Expert*innen durch, sondern begaben sich selbst in die Arztsprechstunden, die Keglerheime oder die Kleidersammlungen. Nicht nur das gesprochene und geschriebene Wort oder die statistische Zahl wurden Träger von Informationen, sondern jede Form symbolischen Ausdrucks. Ansätze einer solchen Methodologie sind bereits in Engels’ Lage der arbeitenden Klasse in England zu finden, während sich Lenin gegenteilig im Kapitalismus in Russland – wenn auch auf kreative Weise – auf statistisches Material verlässt. Aufbauend auf dieser teilnehmenden Beobachtung versucht die Soziologie seither die Vielfalt der Möglichkeiten von Feldforschung zu systematisieren und zu operationalisieren.

Für Marxist*innen ergeben sich aus diesem Ansatz sowohl fruchtbare Anknüpfungspunkte als auch besondere Probleme. Da bürgerliche Forscher*innen die Wissenschaften als ein neutrales Beobachtungsinstrument betrachten, stellen sich diese häufig die Frage, ob sie als teilnehmende Beobachter*innen nicht zu stark in die Experimentieranordnung eingreifen. Insbesondere Kommunist*innen hingegen sind sich der Abhängigkeit jeder soziologischen Erkenntnis vom Klassenstandpunkt ohnehin bewusst und sehen die Forschung nicht als unabhängiges Instrument des Klassenkampfes, sondern als in diesem situiertes an. Die aktive Teilnahme ist damit nicht nur wichtiges heuristisches Mittel politischer Praxis, ebenso verlangt der wissenschaftliche Sozialismus eine quasi-wissenschaftlich begründetes und reflektiertes Vorgehen in jeder politischen Praxis. Die Problematik des neutralen Beobachters löst sich also im parteiischen Ziel der revolutionären Umgestaltung auf. Das spezielle Problem für Marxist*innen ist eher hermeneutisch-dialektischer Natur. Wenn nur die Oberfläche der äußeren Erscheinungen beobachtet werden kann, wie wird auf das Wesen der sozialen Verhältnisse geschlossen? Diese Frage stellt sich wiederum bürgerlichen Soziolog*innen nicht, die von einer weitgehenden Übereinstimmung von Wesen und Erscheinung ausgehen, die das Wahrheitsproblem auf die Genauigkeit der Datenerfassung reduziert.

Mezzadri schlägt hier in dem von ihr herausgegebenen Sammelband Marx in the Field drei Ansätze vor. Erstens solle man von den Schlüsselkonzepten des historischen Materialismus ausgehen: Klasse, Ausbeutung, Entfremdung, Fetisch, Kapital, Besitz von Produktionsmitteln, Historizität, etc.. Mit Hilfe dieser Schlüsselkonzepte könnten in Zusammenarbeit mit anderen progressiven Theorien wie den postkolonialen Studien, feministischen Ansätzen oder kritischem Realismus empirische Feststellungen getroffen werden, die zweitens in allgemeineren politökonomischen Theorien adaptiert werden. Solch eine Herangehensweise würde vorbeugen, fertige Konzepte der Realität einfach überzustülpen. Diese Einordnung in abstraktere Konzepte ist aber notwendig zur Bestimmung des materiellen Gehalts der Beobachtung und der Bewahrung vor einer Fetischisierung der kulturellen Ausdrucksformen von Klassensystemen. Drittens könne Feldforschung auch von der Vorgehensweise Marxens selbst lernen. Auch wenn dieser zwar vorrangig sein Wissen aus Büchern der Britischen Nationalbibliothek erwarb, so beschrieben diese Bücher Sachverhalte meist von einem bürgerlichen Standpunkt aus, den Marx konzeptionell fruchtbar übersetzte. Mit Hilfe dieser drei Ansatzpunkte, könnte empirische Feldforschung dazu beitragen, die Rolle und Stärke von gesellschaftlichen Tendenzen und Gegentendenzen wissenschaftlich fundiert einzuschätzen.

Sweatshops in den globalen Wertschöpfungsketten

In ihrem Buch The Sweatshop Regime stellt Mezzadri die Ausbeutung in den indischen Textilfabriken in den Kontext eines globalen Produktionsregimes. Der „Sweatshop“ sei dabei nur der Avatar für diesen Komplex, aber nicht das alleinige Problem. Der Sweatshop ist eher ein Knotenpunkt, in dem verschiedene Klasseninteressen mitsamt ihren ideologischen Fixierungen zusammenlaufen und wo das gesamte Netz analysiert werden muss und nicht nur der Knotenpunkt. Genauso ist Cheap Labour ein solcher Avatar, da er billige Arbeitskraft als eine Art vorhandenes Naturprodukt darstellt, das man nur anzapfen müsse. Hinter billiger Arbeit verbirgt sich jedoch nicht weniger ein soziales Geflecht, das es überhaupt erst ermöglicht, Arbeit billig zu machen und das häufig von patriarchal-gewalttätigen oder rassistischen Strukturen gestützt wird. Auch am anderen Ende der Wertschöpfungskette reproduziert ein billiges T-Shirt aus Indien die Ausbeutungsbedingungen in den globalen Zentren, wodurch ein globaler Zusammenhang entsteht, der gleichzeitig einen gemeinsamen Kontext aller Proletarier*innen herstellt, während er auf der anderen Seite dieses durch die Andersartigkeit der Reproduktionsregime in Konkurrenz stellt.

Das indische Reproduktionsregime hat dabei natürlich seine spezifische historische Genese. Die postkolonialen Staaten Südostasiens begannen als Rohstoff- und Primärgutlieferanten. Bis in die Mitte der Achtziger Jahre jedoch übernahmen die dort ansässigen Firmen immer mehr Verarbeitungsschritte. Die Arbeiten, die zuvor in den globalen Süden übertragen wurden, wurden hier wiederum in den informellen Sektor ausgelagert. Als eine Art Wiederholung der merkantilen oder frühkapitalistischen Produktionsweise spielt die Heimarbeit in Indien eine sehr bedeutende Rolle. Laut ILO arbeiten 93% aller indischen Arbeiter*innen im informellen Sektor. Unglücke, wie der Einsturz des achtstöckigen Fabrikgebäudes in Rana Plaza, bei dem über 1.100 Textilarbeiter*innen starben, sind damit gar nicht so exemplarisch für die Industrie. Auf Grund der Informalität laufen auch viele Klassenkämpfe oder Initiativen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ins Leere und werden von ethnischen oder sexistischen Kämpfen überformt.

Nach Mezzadri besteht das Sweatshop Regime aus vier Lagen, von denen die ersten die großen Bekleidungskonzerne sind, die letztendlich nach den Regeln der WTO auf dem Weltmarkt auftreten. Diese wiederum werden durch ein Netz von mittleren Zulieferfirmen unterstützt, die im wesentlichen der nationalen Regulation unterliegen. Auch diese wiederum organisieren die Arbeitsprozesse nicht vollständig selbst, sondern lagern über Vermittlungsagenturen spezialisierte Arbeiten aus. Und hier finden sich in der untersten Lage dann die kleinsten Produktionseinheiten, die teilweise zu Hause oder in kleinen Werkstätten arbeiten. Zentral sind auf der untersten Ebene Stickarbeiten, die teilweise computergestützt zuhause durchgeführt werden oder die Adda-Arbeit, die nach dem traditionellen Handwebstuhl benannt ist. Aus marxistischer Sicht ist hierbei wichtig, dass sich bereits innerhalb der Produktion an sich Produktions-, Zirkulations- und Distributionsprozesse beständig abwechseln, deren inhärente Krisenerscheinungen, für die Konzerne ausgemittelt, für die Arbeiter*innen jedoch individualisiert werden. Kapitalisten können in diesem System kaum noch als Industrielle oder CEOs beschrieben werden, die ihren Konsumfond aus den Profiten speisen, sondern Mezzadri nennt sie „Regional Lords“, die Profite, Renten und Zinsen auf sich vereinigen. Die Bewältigung der Krisen auf der untersten Stufe der ökonomischen Reproduktion erfolgt dann beispielsweise auf Kosten der intergenerationalen Reproduktion, indem Kinder zuhause und sicher vor den Augen jeder Überwachung mit produzieren müssen oder durch die Muslime der untersten Kasten, deren Leiderfahrungen so von der Mehrheitsgesellschaft marginalisiert werden können, die nur in den muslimischen Solidaritätsstrukturen Hilfe erfahren und so notwendigerweise die gesellschaftlichen Parallelstrukturen aufbauen, die wiederum zum Ziel der Repression der hindunationalistischen Regierung werden.

Mezzadri legt mit diesem Ansatz eine Gegenerzählung zu bürgerlichenn Interpretationen der Sweatshops vor, welche diese als ein gesellschaftlich isoliertes System darstellen, das gegen vermeintlich geteilte Werte verstößt. Mezzadri hält dieser Auffassung Sweatshops ein offenes System entgegen, die – um in marxistischer Terminologie zu sprechen – real unter dem nationalen Reproduktionssystem subsummiert werden und von der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion somit nicht zu trennen sind. Aber auch marxistischen Wertschöpfungskettenanalysen schreibt sie eine Kritik ins Stammbuch. Durch die Informalisierung der Arbeit und die Integration mannigfaltiger Produktions-, Zirkulations- und Distributionsprozesse bereits innerhalb der Produktion verwechseln viele die Profite und Renten, die westliche Markenfirmen mit den Endprodukten machen mit dem eigentlich generierten Mehrwert. Der Mehrwert wird jedoch nicht erst mit dem Verkauf des Fußballtrikots realisiert, sondern es gibt viele Realisierungsschritte zwischen dem untersten Glied der Heimarbeit und dem Verkauf im Laden, die stärker in die Analyse mit einbezogen werden müssen. Viel marxistische Kritik an Wertschöpfungsketten würde sonst eher einem neoklassischen Denken verfallen.

Zusammenfassung

Alessandra Mezzadri arbeitet an der Schnittstelle zwischen Ökonomie, der politischen Oberfläche und den ideologischen Formen, an der jede*r Arbeiter*in die Anforderungen an ihre eigene Reproduktion bewältigen muss. Sie interpretiert das Motto Rosa Luxemburgs – dass die revolutionärste Tat sei, zu sagen, was ist – nicht in einem naiven Realismus, sondern innerhalb einer materialistisch eingebetteten Methodologie. Die Social Reproduction Theory ist heute vielleicht der fruchtbarste Ansatz für Marxist*innen, um sich das Fortbestehen des Patriarchats oder die Emergenz klerikaler Herrschaftsformen auf Grundlage des modernen Kapitalismus zu erklären. Und Mezzadri hat ihren Anteil an der Ausformulierung dieses Konzepts. Kritik könnte man daran anbringen, dass die ökonomischen Zusammenhänge nicht bis auf die theoretische Tiefe des dritten Kapitalbandes ausbuchstabiert sind. Aber Mezzadris Arbeit ist durchaus anschlussfähig, die Erscheinungen des modernen globalen Kapitalismus logisch-adäquat innerhalb der marxistischen Systematik zu artikulieren.

Literatur:

Mezzadri A. (2016): The Sweatshop Regime: Labouring Bodies, Exploitation, and Garments Made in India. Cambridge: Cambridge University Press.

Mezzadri, A. (Hrsg., 2021): Marx in the Field. London, New York, Melbourne, Delhi: Anthem Press.