Am Puls der Zeitreihenanalyse

⋄ 2003 gewannen die Professoren Sir Clive W. J. Granger and Robert F. Engle den Nobelpreis für ihre Weiterentwicklung der Zeitreihenanalyse zur Interpretation und Vorhersage ökonomischer Daten.

⋄ Das
Journal of Economic Surveys fragte in seiner aktuellen Ausgabe, wie weit die Forschung der Auswertung zeitlicher Entwicklungslinien gekommen ist.

⋄ Unter anderem lassen sich Spekulationsblasen und der Einfluss von Insiderwissen in ökonomischen Datensätzen identifizieren.

⋄ Machine Learning stellt eine wesentliche Neuerung in den letzten Jahren dar, wodurch lineare und nicht-lineare Zusammenhänge aufgedeckt werden könnten.

⋄ Marxist*innen können dank dieser Entwicklungen auf einen gut handhabbaren Methodenkasten zugreifen, der bei der Kritik der bestehenden und Planung einer kommenden Gesellschaft nützlich sein kann.

2003 gewannen die Professoren Sir Clive W. J. Granger and Robert F. Engle den Nobelpreis für ihre Weiterentwicklung der Zeitreihenanalyse zur Interpretation und Vorhersage ökonomischer Daten. Eine Zeitreihe kann man sich wie eine Pulslinie vorstellen, aus deren Entwicklung man Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand de*r Patient*in anstellt. So lässt sich analysieren, ab welchem Grad der Veränderung der Zahlen ein qualitativer Umschwung einsetzt. 20 Jahre später legte das Journal of Economic Surveys den Finger an den Puls der Zeit und fragt, wie weit die Wirtschaftswissenschaften seither gekommen sind. Schließlich haben sich Computeralgorithmen und Machine Learning seither rasant weiterentwickelt. Wie viel ist also seriöse Statistik und wieviel ist Glaskugel? Und was ist auch für Marxist*innen interessant?

Preisblasen an der Wurzel packen

Als Mutter aller Spekulationsblasen gilt die Tulpenmanie in den Niederlanden, welche 1637 ihren Höhepunkt erreichte. Bis zu vier fette Ochsen, dazu Getreide, Fässer voll Wein und Bier, sowie ein ganzes Bett wurden damals für eine einzige Tulpenzwiebel getauscht. Der Preis kletterte innerhalb weniger Monate um das Zweihundertfache, um innerhalb weniger Wochen wieder auf das herkömmliche Niveau zu fallen. Und auch heute kennen wir Spekulationsblasen rund um Aktien, den Immobilienmarkt oder Kryptowährungen. Dabei ist es nicht immer leicht, diese Blasen von Preissteigerungen zu unterscheiden, die zum Beispiel durch Verbesserung der Produkte oder ein reguläres Angebotsdefizit erklärt werden können.

Es gibt jedoch eine statistische Methode, welche solche Blasen gut identifizieren kann: den rechtsseitigen Einheitswurzeltest nach Phillips. Die Einheitswurzel ist dabei ein Maß, welches angibt, wie gut sich ein statistischer Wert aus dem vorangegangenen ableiten lässt. Liegt ein berechneter Koeffizient dabei außerhalb der Einheitswurzel, dann lassen sich die Daten gut aus den vorangegangenen ableiten, liegt er innerhalb, zeigen die Daten chaotisches Verhalten und deuten auf eine Spekulationsblase hin. Je länger die Daten, zum Beispiel Preise, in einer Zeitreihe vorher stabil waren, desto besser funktioniert der Test.

Das Verfahren ist mittlerweile zu einem Standard in der Ökonometrik geworden. Der Autor Yang Hu zeigt in seinem Artikel am Beispiel des Eisenbahnbooms im England des 19. Jahrhunderts auf, wie man mit R und dem Package psymonitor Phasen massiver Preisspekulation erkennen kann. Empirisch hat sich wenig überraschend gezeigt, dass der Aktien- und Immobilienmarkt besonders anfällig für Spekulationsblasen sind, während viele Lebensmittel- und Rohstoffteuerungen eher anderen Ursachen zugerechnet werden müssen. Für Marxist*innen ist dieses Instrument nicht uninteressant, folgt auf die krisenhafte Entladung von Spekulationsblasen häufig eine politische instabile Situation, in denen die Empfänglichkeit für grundsätzliche Gesellschaftskritik steigt. Eine frühzeitige Identifizierung solcher Spekulationsblasen kann erstens einen Vorsprung zur Vorbereitung auf anstehende Klassenkämpfe bedeuten oder auch bei der korrekten Analyse eines ökonomischen Phänomens helfen.

The Inside Out

Wei Hu und Luke Bennett haben unter die Lupe genommen, ob sich Insider Trading alleine aus Datensätzen erkennen lässt. Dass Problem am Insider Trading ist, dass Insider meist konspirativ vorgehen und sich ihr Einfluss im Nachhinein schwer beweisen lässt. Hierzu haben die Autoren Methoden vorgestellt, die man grob in die Kategorie Filtration Enlargement einsortieren könnte. Diese Methoden schauen, ob bestimmte Muster alleine aus den vorliegenden Daten erklärt werden können, oder ob die Einbeziehung externer Variablen Trends und Muster besser erklärt. Besonders berücksichtigt wird hierbei, dass jede Insider-Information nur eine gewisse Lebenszeit besitzt. Sobald beispielsweise das Interesse an einer Aktie auf Grund einer Insiderinformation auch für die Masse der Anleger*innen erkennbar ist, besitzt diese Information keinen Nutzen mehr. Diese Information Life Span lässt sich nutzen, um Insider Informationen von anderen Spekulationseffekten zu trennen. Nachteilig ist natürlich, dass jede Information einen bestimmten Inhalt hat, der aus der rein quantitativen Analyse nicht ersichtlich wird.

Für bürgerliche Expert*innen und den Staat besitzen solche Methoden einen Hebel, um illegale Absprachen zu identifizieren und Indizien für konkrete Strafverfolgung zu haben. Für Marxist*innen sind eher allgemeine Trends interessant. So kann die Identifizierung von Insidern auf monopolistische oder kompradorische Charakteristika von nationalen Ökonomien hinweisen, die zu einer Anpassung des Marxschen Modells einer kapitalistischen Ökonomie in ihrem idealen Durchschnitt führen müssten. In R können beispielsweise die Packages anomaLyDetection, surveillance oder arules genutzt werden, um atypisches Verhalten von Datensätzen zu identifizieren.

ML stands for Machine Learning

Wenn es um das Thema moderne Datenanalyse geht, dann kommt man aktuell auch am Machine Learning nicht vorbei. Ricardo P. Masini, Marcelo C. Medeiros und Eduardo F. Mendes schauten sich Machine Learning speziell zur Zeitreihenanalyse an. Machine Learning ist mittlerweile ein Modebegriff geworden, mit dem mal ein unbegrenztes Potential des Wissens, mal das dystopische Ende der menschlichen Kreativität verbunden wird. Die Autoren definieren jedoch Machine Learning recht nüchtern als einen Algorithmus, der versteckte Muster in großen Datensätzen aufzeigen kann. Dabei gibt es drei „Lern“modi: überwachtes, nicht überwachtes und Reinforcement Learning. Beim überwachten Machine Learning ordnet ein Programm einem Sample gewisse Eigenschaften zu und ein Supervisor kontrolliert, ob die Zuordnung einem Erwartungsbild entspricht. Möchte man Muster identifizieren, die man nicht erwartet, dann lässt man einen Algorithmus unüberwacht lernen. Reinforcement wiederum ist das, was bei OpenAI passiert. Ein Programm wählt eine Antwort aus mehreren in Frage kommenden aus und bekommt ein Feedback über die Qualität der Auswahl. Darüber hinaus unterscheidet man lineare und nicht-lineare Ansätze. Bei linearen Ansätzen wird ein direkter Zusammenhang zwischen einer Eingabevariable und einer Ausgabevariable vermutet und das Programm nutzt ML, um die fehlenden Koeffizienten zu optimieren. Liegen solche linearen Zusammenhänge allerdings nicht vor, gibt es andere Methoden, wie neuronale Netze oder den Random Forest. Bei letzterem wird eine große Zahl an Simulationen zufälliger Stichproben erstellt und das Ergebnis als das Wahrscheinlichste ausgewählt, das am Häufigsten eintritt. Mit solch einem Random Forest lässt sich beispielsweise der Preisbildungsmechanismus nach Marx (Näheres hier) oder die Auswirkung von Produktivitätsunterschieden bei der Herausbildung von Monopolen untersuchen. Neuronale Netzwerke bestehen hingegen aus miteinander verbundenen simulierten Knotenpunkten, die voneinander Informationen erhalten und auf diese an Hand bisheriger Informationen reagieren. Auch neuronale Netzwerke wurden im Rahmen von agentenbasierten Untersuchungen auch schon von marxistischen Wissenschaftler*innen eingesetzt, jedoch noch ohne ein ML-Training an empirischen Daten. Insbesondere der Marxismus, der die Ökonomie auf die sozialen Beziehungen zurückführt, kann von solchen neuronalen Netzen profitieren. Die Komponente des Machine Learning könnte Klassenmodelle mit real existierenden kapitalistischen Gesellschaften vergleichen und vielleicht irgendwann über explizite Strukturen der Klassenformationen Auskunft geben; ein Bereich, der heute noch eher Philosophie ist.

In einem Vergleich der verschiedenen Methoden zur Vorhersage von Aktienkursen fanden die Autoren des vorliegenden Artikels heraus, dass ein lineares ML-Verfahren die besten Resultate lieferte, während der Random Forest am schlechtesten abschnitt. Insgesamt sehen die Autoren noch viele Forschungsfelder. So würde bei der Auswahl passender Variablen noch zu wenig verstanden. Vieles liefe noch auf Raten oder Augenschein hinaus. Zudem müssten bessere Algorithmen zur Strukturierung unstrukturierter Daten entwickelt werden und instabile Muster, in denen Quantitäten schnell in Qualitäten umschlagen, bereiteten noch große Probleme.

Zusammenfassung

Das aktuelle Journal of Economic Surveys hat seinen Finger an den Puls der Zeitreihenanalyse gelegt und neben einigen mathematischen und methodischen Fachfragen stehen die Identifikation spezieller Muster, seien es Anomalien durch Preisblasen oder durch Insiderwissen, sei es durch Machine Learning im Fokus der bürgerlichen Ökonom*innen. Diese Forschung basiert auf sehr viel mathematischer und informatischer Grundlagenforschung, die von Marxist*innen nicht mehr geleistet werden muss. Vielmehr können Kritiker*innen der politischen Ökonomie mit den geschaffenen Methoden selbst auf Höhe der Zeit die Wirtschaft und Gesellschaft erforschen und Theorien, die seit den ersten politökonomischen Schriften von Marx noch reine Hypothesen waren auf empirische Beine stellen. Natürlich muss man sich um die Grenzen bewusst sein. Datensätze genügen häufig nur den Interessen bürgerlicher Analyst*innen. Computer können keine dialektische Bewegung verarbeiten. Und letztendlich bedarf jedes Ergebnis einer rechnergestützten Simulation einer Interpretation vor dem Hintergrund des historischen Materialismus. Aber ausgerüstet mit der richtigen Methodenkompetenz schafft die bürgerliche Wissenschaft fleißig einen Apparat, der in der Lage ist, ihre grundsätzliche Kritik voranzutreiben und der neuen Gesellschaft Instrumente an die Hand zu geben, um demokratisch, partizipativ und effektiv für gesellschaftliche Bedürfnisse planen zu können.

Literatur:

Bennett, L. M., & Hu, W. (2023): Filtration enlargement-based time series forecast in view of insider trading. In: Journal of Economic Surveys, Jahrgang 37. Ausgabe 2. S. 112–140.

Chan, F., & Oxley, L. (2023): A pulse check on recent developments in time series econometrics. In: Journal of Economic Surveys, Jahrgang 37. Ausgabe 2 S. 3–6.

Hu, Y. (2023): A review of Phillips-type right-tailed unit root bubble detection tests. In: Journal of Economic Surveys, Jahrgang 37. Ausgabe 2. S. 141–158.

Masini, R. P., Medeiros, M. C., & Mendes, E. F. (2023). Machine learning advances for time series forecasting. In: Journal of Economic Surveys. Jahrgang 37. Ausgabe 2. S. 76–111.

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