Traue keiner Statistik, die deine Klasse nicht selbst gemacht hat

⋄ Umfragen und Statistiken sind meist aufwendig und können nur durch bürgerliche Geldgeber oder an bürgerlichen Universitäten erstellt werden.

⋄ Die beiden Arbeiterzeitungen
La ruche populaire und L’atelier versuchten in den 1840 Jahren durch eigene Studien bürgerliche Vorurteile über die Arbeiterklasse zu widerlegen.


⋄ Laure Piguet untersuchte in der Labor History, wie und ob sich die Arbeiterstatistik von den bürgerlichen Statistiken unterschied.

⋄ Da bürgerliche Ökonomen sich ausschließlich auf die Daten von Unternehmern oder Ministerien stützten, lieferten die Arbeiterstatistiken nicht nur neue, sondern auch qualitativ hochwertige Daten, welche die offiziellen Zahlen mit der Realität konfrontierten.

⋄ Da zudem der gesamte Produktionsprozess organischer gestaltet war, konnten Arbeiterstatistiken mehr Kontext anbieten und leisteten Pionierarbeit in der Feldforschung.

Den Aphorismus, dass man keiner Statistik trauen solle, die man nicht selbst gefälscht habe, gehört zu den eher vulgären Kritiken an empirischer Forschung. Dabei ist gar nicht zu leugnen, dass selbst objektive Fakten einen Klasseninhalt haben. Nicht nur sind Zahlen die abstrakte Form des Tauschwerts, des allgemeinen Äquivalents, auf dessen Besitz die Bourgeoisie ihre Herrschaft gründet. Welche Art epistemologischen Zugangs zur Welt überhaupt als Wissen anerkannt wird, ist eine Frage der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Statistik als Inbegriff objektiven Wissens setzt dabei nicht nur methodologische Ausbildung voraus, sondern auch die Mittel zu ihrer Erhebung, die meist durch dutzende oder hunderte Arbeitskräfte erfolgt. Statistik war und ist also ein Feld, dass fest in der Hand der besitzenden Klasse ist. Doch bereits in der frühen Arbeiterbewegung versuchten Sozialisten, die Bourgeoisie auf diesem, dem eigenen, Feld zu schlagen. Laure Piguet untersuchte in der Labor History die Umfragen, Studien und Statistiken der Arbeiterzeitungen La ruche populaire und L’atelier.

Der Stein des Anstoßes

Im Dezember 1840 veröffentlichten Pariser Möbelmacher einen Artikel über ihre Lebensbedingungen. Anlass war das Erlebnis eines Genossen, der von einer Zusammenkunft mit Leuten höheren Standes berichtete. Diese, aufgeschreckt von einer Streikwelle, zogen fleißig über die Arbeiter*innen her. Sie seien fett und lahm, geschmacklos gekleidet und jammerten viel trotz hoher Löhne und niedriger Preise. Das wollten die Möbelmacher nicht auf sich sitzen lassen und nutzten die Anekdote, um eigene statistische Erhebungen einzuleiten. Ohne „über die Eloquenz der Bourgeoisie“ zu verfügen, zeigten sie auf, dass vielleicht die Brotpreise gering seien, doch nicht ohne die Löhne ebenso gering zu halten und das Geld kaum Leben reichte. Die Studie war dabei nur eine unter vielen zeitgenössischen Arbeiterstudien, also Studien von Arbeitern über Arbeiter*innen für Arbeiter*innen.

Die Geschichte der Arbeiterstatistik beginnt dabei bereits im Vorfeld der Französischen Revolution. So veröffentlichten die Seidenspinner*innen zwischen 1779 und 1789, also Heimarbeiter*innen, von Lyon ihre Budgets, die festhielten, wie viel sie für das gelieferte Rohmaterial bezahlten, wie viel Stunden sie arbeiteten und was sie für die gesponnene Seide erhielten. Von 1799 bis 1819 führten die Weber von Manchester Statistik über Durchschnittslöhne, Fabrikgrößen und Arbeitsbedingungen, um Lohnkonkurrenz zu begegnen und das Britische Parlament zu Arbeitsschutzgesetzen zu bewegen. Bemerkenswert ist, dass Arbeiter*innen auch in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts viele statistische Erhebungen durchführten, als die herrschenden Klasse bis zu den arithmetischen Innovationen der 1830ern davon Abstand nahm. Besonders beliebt waren Statistiken zur Untermauerung von Streikforderungen.

In Frankreich ist dabei der Einfluss der utopischen Sozialisten nicht zu vernachlässigen. Es gab viele Reformer, die durch gesellschaftliche Gegenentwürfe, wie kollektive Betriebe oder Vertriebswege, soziale Einrichtungen oder moralisch-idealistische Programme den Lebensstandard der Arbeiter*innen zu heben versuchten. Da die Urheber meist selbst aus der bürgerlichen Klasse stammten, sahen sie im Bürgertum auch den wesentlichen Ansprechpartner, der mittels Statistiken in der eigenen Wissensdomäne überzeugt werden solle.

Die Gründung der Arbeiterzeitungen in Paris

1830 gründete sich in Paris die erste Arbeiterzeitung L’artisan – Der Handwerker. Zu dieser Zeit schloss sich auch der in vielfältigen Berufszweigen tätige Handwerker Jules Vinçard der Reformbewegung um Saint-Simon an. Er gründete die Zeitung La ruche populaire im Dezember 1939, die zehn Jahre lang monatlich erscheinen sollte. Der Untertitel lautete „Eine Arbeiterzeitung, gemacht von ihnen selbst“ und sie erschien monatlich. Der Redaktion gehörten auch einige Fourieristen an, die das Ziel, den Ruf Arbeiter*innenklasse im aufgeklärten Bürgertum zu verbessern, teilten. Die Typographen, welche La ruche populaire zunächst für den Druck gewinnen konnte, trennten sich jedoch bald von der Redaktion und riefen eine eigene Zeitung ins Leben: L’atelier. Sie waren unzufrieden mit der Adressierung der Zeitung und wollten lieber die Arbeiter*innenklasse selbst ansprechen, was im Untertitel: „Ein Zeitung von Arbeitern und für Arbeiter“ zum Ausdruck kam. Zwischen 1840 und 1848 veröffentlichten beide Zeitungen zusammen 24 Studien zu den Arbeitsbedingungen des Proletariats mit dem Schwerpunkt Paris.

Die erste Umfrage wurde am 27. August 1940 in La ruche populaire veröffentlicht. Als Urheber gab sich ein „Schacherer der Ältere“ zu erkennen, der auf die Frage der französischen Regierung eine Antwort suchte, wie viel Geld denn Arbeiter zu einem ordentlichen Leben bräuchten. Wie viele folgende Studien verbanden die Autoren dabei quantitative Erhebungen mit deskriptiven Darstellungen der miserablen sozialen Zustände innerhalb des Proletariats. Die Überschriften referierten häufig auf die Unwissenheit des Bürgertums über diese, wie etwa der Titel der Serie ‘Mystères des ateliers’ – Die Geheimnisse der Werkstätten verrät. Manchmal wurden die Daten in Geschichten über fiktive Durchschnittsarbeiter*innen eingesponnen oder massiv emphatische Sprache verwendet, um Interesse in der Leser*innenschaft zu wecken. Häufig wurden Berufsstände auch personifiziert und es traten „die Schuhmacher“ oder die „Wäscher“ auf. Mit diesen Stufen der Abstrahierung wurden am Ende vieler Artikel auch Reflexionen über die eigene Identität als Klasse angestellt.

L’atelier antwortete eher direkt auf bürgerliche Studien oder Meinungsbekundungen. Der Mathematiker Charles Dupin belehrte beispielsweise nach Unruhen mit einem „Rat an die Pariser Arbeiter“ diese und argumentierte, der Wohlstand der Arbeiter*innen stürze mit der öffentlichen Ordnung. Die guten dürften sich nicht von den schlechten Arbeitern verführen lassen. Als Beweise für seine Behauptungen führte er gesunkene Brotpreise und gewachsene Sparguthaben unter den Arbeiter*innen an. Die Reduzierung des Arbeitstages von 14 auf 12 Stunden hingegen sei schlichtweg unrealistisch. Die Typographen von L’atelier ließen das nicht unkommentiert. Dabei zogen sie nicht nur Statistiken, wie die Anzahl der Bankenkonkurse samt Vernichtung der Sparguthaben an, sondern widersprachen in einer sehr prinzipiellen Art und Weise. Dem Hunger nach mehr und mehr Arbeit, stellten sie die Abnutzung der proletarischen Körper und des Intellekts des Volkes entgegen, um zu fragen, was denn der Wert einer Nation ausmache.

Methodologische Avantgarde

Beeindruckend ist, wie die Arbeiter*innen sehr methodologisch kontrolliert vorgingen. So erstellten sie nicht nur chiffres, also reine Zahlenstatistiken, sondern darüber hinaus definierten sie die enquete als Prozess der vollständigen Prozess der Datenerhebung und den etat als Gesamtdarstellung aller Erkenntnisse aus der quantitativen und qualitativen Realitätserschließung. Dennoch verbargen sie nicht ihren politischen Charakter. So schlug Schacherer der Ältere vor, die Löhne flexibel an einem gesellschaftlich akzeptierten Warenkorb auszurichten, so wie es die statistische Forschung zur Begründung eines Mindestlohns ja auch tat. Zudem erhielten die Zeitungen durch die Kommunikation mit ihren Leser*innen Informationen darüber, welche Forschung als nächstes lohne. Leser*innen wurden aufgefordert, bestimmte statistische Angaben zu machen und die Redaktion konnte daraus Stoff für ein interessiertes Publikum generieren. Manchmal schickten Belegschaften komplette eigene Erhebungen ein, über deren methodische Geschichte heute nicht mehr viel bekannt ist.

Durch die vielen eigenen Primärdaten waren die Zeitungen zusätzlich in der Lage, bürgerliche Statistiken auch ganz direkt zu kritisieren. So zeigten sie auf, dass der Philantrop Joseph-Marie de Gérando in seinem Buch über öffentliche Wohlfahrt die Preise für Lebensmittel und Kindererziehung deutlich unterschätzte und konnten auch vermutete Begründungen für die Fehler anbieten. Mit fortschreitender Sicherheit in der wissenschaftlichen Arbeit zogen die Autoren letztlich auch internationale Studien heran, um die Lebensverhältnisse der Pariser Arbeiter*innen mit denen der Welt zu vergleichen. Auf diese Weise artikulierten sie ganz praktisch ein internationalistisches Klassenbewusstsein, dass nicht nur nationale Ressentiments infrage stellte, sondern auch rassistische. Schacherer der Ältere forderte die Arbeiter in Anbetracht der Homogenität ihrer Lage dazu auf, sich nicht in Feindseligkeiten zwischen den Ländern hineinziehen zu lassen und nicht dem Militär beizutreten.

Militantes Wissen und Klassenstandpunkt

Arbeiterstatistiken lassen sich unter dem Begriff militanten Wissens fassen. Sie wurden erstellt, um dominanten Narrativen, aber auch Wertvorstellungen Paroli bieten zu können. Während die ersten politischen Statistiken Reichtum als Aggregat aller Klassen verstanden und den Fortschritt durch die bürgerliche Gesellschaft zu belegen versuchten, zeigten die Arbeiter*innen auf, dass der Reichtum zwar wächst, aber die Arbeiter*innenklasse weiter verarmt. Gerade aus dem Vergleich des prinzipiellen Wachstums des Reichtums der Gesellschaft und den inadäquanten Löhnen gewannen Arbeiter*innen ihre Rechtfertigungsgründe für Streiks.

Die Statistiken der Arbeiter unterschieden sich im 19. Jahrhundert noch viel wesentlicher von denen der bürgerlichen Institutionen als es heute der Fall ist; vor allen Dingen in den genutzten Quellen. Bürgerliche Wissenschaftler befragten tatsächlich fast ausschließlich Industrielle und Staatsbeamte. Damit hatten sie Zugriff auf diejenigen Informationen aus den Bilanzbüchern, zu denen die Kapitalisten Auskunft gewähren wollten. Die Daten des Staates als ideeller Gesamtkapitalist spiegelten zwar eine breitere Klassenbasis wider, wurden aber vorrangig aus dem Interesse am Wirtschaftswachstum erstellt und weniger an den Lebensbedingungen der armen Klassen. Diesen Studien wurde bis hin in die wissenschaftlichen Kreise nicht zu Unrecht häufig nur geringe Qualität bescheinigt. Die Arbeiter*innen hingegen rühmten sich der Authentizität ihrer Berichte. Sie verfügten meist über gute Netzwerke in verschiedene Stadtteile und Berufsgruppen und brachten alsbald einen so ungeheuren Reichtum an Studien und Datenmaterial hervor, dass selbst die bürgerlichen Wissenschaftler nicht mehr umhin kamen, darauf zurückzugreifen.

Die Studien unterscheiden sich auch darin, wer an den einzelnen Arbeitsschritten beteiligt war. Schließlich müssen Leitfragen gestellt, Fragebögen entwickelt, Erhebungen durchgeführt, die Ergebnisse zusammengestellt, interpretiert und veröffentlicht werden. Während sich die akademischen Studien durch eine starke Trennung von Hand- und Kopfarbeit auszeichneten, arbeiteten die Arbeiterstatistiker wesentlich interdisziplinärer. Das macht sich bereits daran bemerkbar, dass sich etwa die Typographen, also die Zeichensetzer besonders hervortaten. Denn sie besaßen das praktische Handwerkszeug, Daten überhaupt übersichtlich darzustellen und zu verbreiten, ohne extra Verlage dafür zu bezahlen. Oft erhoben sie auch die Daten, da die Anzahl der im Arbeitsprozess involvierten Personen begrenzt war. Der entscheidende Vorteil war, dass damit die Interpreten der Daten auch über das Zustandekommen der Daten Bescheid wussten. Sie kannten nicht nur die Höhe der Ausgaben für Lebensmittel; sie haben auch die abgemagerten Personen, die ihre Suppe immer mehr verdünnen mussten, persönlich getroffen. Während häufig die Studie zu den „Arbeitslosen von Marienthal“ oder Engels’ „Lage der arbeitenden Klassen in England“ als Ursprünge der Feldforschung bezeichnet werden, leisteten diese Pariser Typographen bereits implizit die Feldforschung.

Der „Statactivism“ der Arbeiter forderte das Bürgertum in ihrem ganzen Selbstbild hinaus. Fakten und Zahlen galten ihnen als Inbegriff der Objektivität. Und auf Objektivität sollte sich auch ihre Herrschaft gründen, nicht auf Zufälligkeiten personaler Herrschaft. Mit ihren Studien brachten die Arbeiter aber nicht nur andere Zahlen. Sie bewiesen, dass die Erhebung von Statistik eine Klassenfrage ist. Bürgerliche Politiker, die sich ihrer Neutralität und Sachlichkeit rühmten, gerieten entweder aus der Fassung oder mussten tatsächlich eingestehen, den Arbeitern Zugeständnisse zu machen.

Zusammenfassung

Die Arbeiter*innenstatistik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat ein komplettes Forschungsfeld erschlossen. Dass die Art und Weise der Erschließung der Wirklichkeit performativ für die tatsächliche Realität wirkt, haben von Karl Marx über Georg Lukacs bis hin zu modernen feministischen Wissenschaftler*innen immer wieder revolutionäre Linke berücksichtigt. Der Kampf darüber, was als objektiv gilt und welche Zugangsweisen zur Objektivität gesellschaftlich geteilt werden, ist praktischer Klassenkampf. Wenn heutige Soziolog*innen fragen, warum historische Abrisse sich meist auf die Statistiken der Bourgeoisie stützen und die Arbeiterstatistik heute eine so geringe Rolle spielt, dann liegt das auch an entsprechenden Niederlagen. Die Erinnerung an die Macht von Arbeiter*innen selbst erhobenen Datenmaterials sollte da motivieren, diese Tradition wieder stärker ins Leben zu rufen.

Literatur:

Piguet, L. (2025): Knowledge as a weapon. Parisian workers quantitative surveys and epistemic theory (1840–1848). In: Labor History. Online First. DOI: 10.1080/0023656X.2025.2479714.

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