⋄ Seit acht Jahren gibt es in Deutschland einen branchenübergreifenden Mindestlohn. Seit Oktober letzten Jahres beträgt er nunmehr 12 Euro. ⋄ Ziel war die Reduzierung der Armut und der Einkommensungleichheit. ⋄ Teresa Backhaus und Kai-Uwe Müller untersuchten mit Hilfe der Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Journal of European Social Policy, ob der Mindestlohn seine Ziele erreichen konnte. ⋄ Sie fanden heraus, dass der Mindestlohn weder Armut, noch Einkommensungleichheit reduzieren konnte, da die Gruppe der Betroffenen zu stark in den Haushaltseinkommensgruppen gestreut ist. ⋄ Auch Simulationen mit alternativen Mindestlohnmodellen konnten zeigen, dass der Mindestlohn alleine, selbst in der Höhe von 12 Euro, nur wenig Verbesserung für unteren Einkommensgruppen bedeutet. |
Wenige politische Forderungen genießen im kompletten Spektrum der politischen Linken einen guten Ruf. Der Mindestlohn ist eine solche Forderung. Ob SPD, Linkspartei, DKP, MLPD oder SGP … uneinig mag man sich in Höhe oder Ausnahmeregelungen sein; dass er an sich eine gute Sache ist, bezweifelt niemand. Die wichtigsten Argumente sind, dass er die größte Armut beseitige und mehr Einkommensgleichheit schaffe. Aber stimmt das überhaupt?
Teresa Backhaus von der Universität Bonn und Kai-Uwe Müller vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung haben sich auf Grundlage demoskopischer Untersuchen mit der Frage beschäftigt, ob unter den besonderen Bedingungen einer progressiven Einkommenssteuer und eines differenzierten Sozialstaats der Mindestlohn überhaupt zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit taugt. Untersuchungen über die tatsächliche Wirkung des Mindestlohns lagen nämlich bisher noch nicht vor. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie vor wenigen Tagen im Journal of Eurpean Social Policy als Online First.
Der real existierende Mindestlohn – keine Erfolgsgeschichte
Am 1. Januar 2015 führte die Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Arbeitsministerin Andrea Nahles einen branchenübergreifenden Mindestlohn von damals 8,50 € ein, der zuletzt im Oktober 2022 auf 12 Euro stieg. Vorausgegangen war eine jahrelange Diskussion, in der sich vor allen Dingen die Linkspartei als zunächst einzige Befürworterin profilieren konnte. Die Rechte formierte sich ebenfalls entlang der Mindestlohnfrage, indem sie die Zustimmung Merkels als Sozialdemokratisierung der Christdemokratie inszenierte. Dass der Mindestlohn von Ausnahmen gespickt und nicht einmal zur reinen Subsisdenz ausreichte, störte die Rechte nicht.
Auch in der internationalen Forschung wurde der Mindestlohn heiß diskutiert. Zwar gab es international immer politische Vorbilder, aber die Rahmenbedingungen in den einzelnen Ländern unterschieden sich zu stark, um allgemeine Rückschlüsse ziehen zu können. Insbesondere die Kopplung von niedrigen Löhnen und niedrigen Haushaltseinkommen variierte von Land zu Land und führte zu ganz unterschiedlichen Voraussagen hinsichtlich der Wirkung eines Mindestlohns.
Daher untersuchte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, ob die beiden großen Ziele – Reduzierung der Armut und Reduzierung der Einkommensungleichheit – durch den Mindestlohn unter den konkreten Bedingungen Deutschlands auch erreicht wurden. Das DIW gilt als ein eher nachfragepolitisch orientiertes Institut, das für eine Stärkung des Binnenmarktes und keynesianische Eingriffe des Staates in den Markt eintritt. Auf der Grundlage des sozio-ökonomenischen Panels, einer Wiederholungsbefragung in deutschen Haushalten durch das DIW selbst, überprüften die Autor*innen zunächst, welchen Einfluss der Mindestlohn auf die Einkommensverteilung, die Ungleichheit und die Armutsquote in den Jahren 2015/16 gehabt hat. Zwei positive Effekte konnten zunächst festgestellt werden. Durch die Einführung des Mindestlohns verschob sich die Kurve der Einkommensverteilung leicht, aber signifikant in Richtung höherer Löhne und das durchschnittliche verfügbare Haushaltseinkommen stieg moderat.
Allerdings stellten sich andere beabsichtigte Effekte nicht ein. So veränderte sich der Atkinson-Koeffizient, wie der Gini-Koefizient ein Maß für die Ungleichheit, das aber besser auf imperialistische Wohlfahrtsstaaten anwendbar ist, nur von 0,20 auf 0,19. Zwischen 2014 und 2016 stieg das Haushaltseinkommen im zehnten Perzentil gerade einmal um 7 Euro oder einen Prozent. Im fünften Perzentil sank das verfügbare Einkommen sogar von 664 auf 650 Euro. Im gleichen Zeitraum stieg die Armutsrate um einen Prozent. Auch wenn die Löhne also allgemein gestiegen waren, konnte also weder Armut noch Ungleichheit reduziert werden. Von negativen Effekten wie Teuerungen wurde von den Autor*innen sogar abgesehen.
12 Euro Mindestlohn – ein bisschen mehr ist noch immer zu wenig
Aber ginge es denn auch besser? Zum Beispiel, in dem Ausnahmen abgeschafft und der Mindestlohn angehoben würden. Die Autor*innen stellten zur Beantwortung dieser Frage zwei alternative Mindestlohnmodelle auf: einmal durch die Abschaffung aller Ausnahmen bei einer Höhe von 8,50 € oder einmal durch eine Erhöhung auf 12 € die Ergebnisse beeinflussten. Hierzu nutzten sie ein Simulationsmodell, dass aus der Feder einer Forschungsgruppe um V. Steiner stammte, die ebenfalls im Auftrag des DIW arbeiteten.
Die Ergebnisse sind eher ernüchternd. Ein Mindestlohn ohne Ausnahmen würde den Atkinson-Koeefizienten gerade einmal von 0,20 auf 0,17 senken. Die verfügbaren Haushaltseinkommen würden in allen Perzentilen gerade einmal um fünf bis sieben Euro pro Monat steigen. Ein Mindestlohn von 12 € brächte zwar deutliche Verbesserungen. Der Atkinson-Index würde immerhin um 30% auf 0,13 fallen und die durchschnittlichen Einkommen würden um ca. 30 Euro pro Monat steigen. Aber ausgerechnet die ärmste Bevölkerungsgruppe würde am wenigsten profitieren. Sie würden gerade einmal vier Euro im Monat mehr haben und auch hier sind eventuelle negative Effekte, wie die Umlage des Mindestlohns auf die Verbraucher*innen nicht eingerechnet. Der im letzten Jahr großspurig von der SPD erhöhte Mindestlohn reicht also selbst bei den Haushalten, die am meisten profitieren, gerade einmal dazu aus, die Hälfte der diesjährigen Inflation zu kompensieren.
Gründe – wenig Lohn ist nicht gleich wenig Einkommen
Wie kann man sich diese Befunde nun erklären? Erstens ist die vom Mindestlohn betroffene Gruppe gar nicht so groß. Gerade einmal 11% der Bevölkerung verdienten vor Einführung des Mindetslohns weniger als 8,50 € und fast zwei Drittel dieser Betroffenen fielen ohnehin unter die Ausnahmen. Der gewichtigste Grund jedoch ist, dass die Mindestlohnempfänger*innen unter den Haushaltseinkommen sehr stark verteilt waren. Die Dezile mit den höchsten Anteilen an Mindestlohnempfänger*innen sind das dritte bis das siebte mit Anteilen zwischen 20% und 10%. Im einkommensschwächsten Dezil erhalten nicht einmal 3% Mindestlohn, womit der Anteil sogar geringer ist als im reichsten. Das lässt sich wiederum auch leicht erklären. Mehr als die Hälfte aller Personen lebte mit eine*r Zweitverdiener*in zusammen, die ein deutlich höheres Gehalt beanspruchen konnte. Viele Haushalte benutzten die Mindestlohneinkommen also als Ergänzung und nicht als Haupteinnahmequelle, wodurch die Erhöhung des Mindestlohn vorrangig den mittleren Einkommensgruppen zu Gute kam. Positiv gelesen kann es in der Hinsicht, dass die Zweitverdiener*innen durch den Mindestlohn etwas unabhängiger von de*r Hauptverdiener*in wurden, aber auf Grund der steuerlichen Belastung schlug sich die Umverteilung nicht in wesentlich höheren verfügbaren Einkommen nieder.
Und gerade die Haushalte, die der Mindestlohn hätte stärken sollen, wurden kaum besser gestellt. Der Mindestlohn verrechnete sich mit Lohnzusatzzahlungen oder Sozialleistungen wie Aufstockungen oder Wohngeld und führte nicht dazu, dass die verfügbaren Einkommen an sich stiegen. Der große Gewinner des Mindestlohns ist also der Staat, der weniger Ausgaben zu leisten hatte. Das mag man nicht als gering erachten, da das Geld anders investiert werden kann, aber die Gewinner waren eben nicht die Armen.
Zusammenfassung
Man darf nun nicht den verkehrten Schluss ziehen, dass der Mindestlohn an sich eine verkehrte Sache ist und war. Von der eigenen Arbeit leben zu können, ohne beim Amt noch zusätzliche Hilfen beanspruchen zu müssen, kann psychisch entlastend wirken, auch wenn der monetäre Vorteil eher gering ist. Aber der Mindestlohn war und ist kein geeignetes Instrument, um Armut und Einkommensungleichheit entgegenzutreten. Die Vorschläge, die Teresa Backhaus und Kai-Uwe Müller zur Ergänzung machen, zeigen die bürgerliche Prägung der beiden Autor*innen. Die Korrelation zwischen geringen Löhnen und geringen Einkommen solle gestärkt werden, indem die momentan vom Staat durchgefütterten Arbeitslosen in den Niedriglohnsektor integriert werden, während sich die momentanen Mindestlohnverdiener am besten fortbilden. Eigentlich fehlt nur noch der Vorschlag, dass am besten nur noch Geringverdiener heiraten und gemeinsame Hausstände bilden, weil dann der Mindestlohn die Einkommensungleichheit am besten addressieren würde.
Die Linke muss natürlich andere Schlussfolgerungen ziehen. Um tatsächlich zu greifen, muss der Mindestlohn schon Höhen von 14 bis 15 Euro erreichen. Erst dann werden signifikant viele Haushalte erreicht. Weiterhin müssen die Sozialleistungen steigen und zwar nicht nur um die wenigen Euro des neuen Bürgergelds und nur die Bedingungslosigkeit des Bürgergelds kann die Kampfkraft der unteren Lohngruppen unterstützen. Die Lohnsteuern sollten später einsetzen, aber dafür hohe Löhne und insbesondere andere Einkommensarten stärker besteuert werden. Die gewerkschaftliche Organisation muss gestärkt werden. Die Gewerkschaftsgesetzgebung muss auf demokratische Mindeststandards gehoben und alle Arbeitgeber wieder auf Tarifverträge verflichtet werden. Zu guter Letzt haben die Menschen tatsächlich mehr verfügbares Einkommen, wenn die Preise für Wohnung, Energie und Mobilität sinken, indem die entsprechenden Industrien in öffentliche Hand überführt werden. Das meiste davon ist mit der aktuellen SPD nicht zu machen, die lieber zahnlose soziale Leuchtturmprojekte wie den Mindestlohn besetzt. Der Mindestlohn von 12 Euro ist aber wortwörtlich das Mindeste, was zu tun ist.
Literatur:
Backhaus, T. & Müller, K.-U. (2022): Can a federal minimum wage alleviate poverty and income inequality? Ex-post and simulation evidence from Germany. In: Journal of European Social Policy. Online First. DOI: 10.1177/09589287221144233.