It´s Big in Japan

⋄ Das vierte Kapitel des dritten Kapital-Bandes zum kaufmännischen Kapital führt eher ein randständiges Dasein.

⋄ Nicht so in Japan, wo seit den 50er Jahren die Rolle des Kaufmannskapitals im Gesamtreproduktionsprozess des Kapitals heiß diskutiert wird.

⋄ Shinya Shibasaki und Kei Ehara haben die Debatte in der Capital&Class zusammengefasst.


⋄ Sie dreht sich im Wesentlichen darum, ob das industrielle Kapital das kommerzielle diktiert oder umgekehrt.

⋄ Bedeutende Vertreter der Debatte sind hierbei Kozo Uno und Shikegatsu Yamaguchi.

Kaufmannskapital … das klingt irgendwie nach früher Neuzeit, Merkantilismus und vielleicht noch nach dem kleinen Kinder-Krämerladen. Dabei sind zwei der zehn bedeutendsten Unternehmen der Welt kaufmännische Konzerne: amazon und apple. Wir haben in unserem Alltag auch eher selten mit dem industriellen Kapital zu tun. Wer weiß schon, wie die Firma heißt, in der mein Sportnikki hergestellt wird. Wir kennen nur den Namen des kommerziellen Unternehmans: adidas, NIKE oder Puma. Dass wir den Käse billig bei ALDI bekommen wissen wir, aber wer diesen herstellt in der Regel nicht.

Das Kapitel zum kaufmännischen Kapital haben Marx und Engels auch sehr unprominent imvierten Abschnitt des dritten Bandes des Kapitals versteckt. Dort fällt es zwischen dem tendenziellen Fall der Profitrate und der trinitarischen Formel auch nicht weiter auf. Nicht so in Japan. Hier liefert sich der akademische Marxismus seit 50 Jahren eine intensive Debatte über die Rolle des kaufmännischen Kapitals in der Gesamtreproduktion des Kapitals. Shinya Shibasaki von der Hokusei Gakuen Universität und Kei Ehara von der Universität in Oita haben die Debatte in der Capital&Class Revue passieren lassen. Sie verfolgen diese vom bekannten japanischen Marxisten Kozo Uno über seinen Schüler Shigekatsu Yamaguchi bis hin zu aktuellen Ansätzen. It´s a big thing in Japan.

Kaufmannskapital im vierten Kapitel des dritten Bandes

Nicht jeder wird immer gleich auswendig wissen, was eigentlich im vierten Abschnitt des dritten Kapital-Bandes steht. Daher eine kurze Zusammenfassung:

Das kaufmännische Kapital für sich wurde von Marx und Engels im Zweiten Band bearbeitet, mitsamt allen Spitzfindigkeiten, welche Funktionen wertbildend sind und welche nicht. So setzt das kaufmännische Kapital durch den Transport der Ware Wert zu, da die Ware nur an ihrem Bestimmungsort auch Gebrauchswert besitzt, aber nicht durch die Distribution, also den rein Akt des Verkaufens.

Im dritten Band wird die Aufgabe des kaufmännischen Kapitals im Gesamtprozess der kapitalistischen Reproduktion diskutiert. So dient es zum Beispiel dazu, dem industriellen Kapital in verlässlichen Zeiten die hergestellten Waren abzukaufen, damit der Produktionsrhythmus eingehalten werden kann. Gäbe es das kaufmännische Kapital nicht, müsste das industrielle Kapital höhere Auslagen tätigen, um die Produktion kontinuierlich am laufen zu halten.

Zur Frage, wie das kaufmännische Kapital sein Stück vom Kuchen bekommt, räumen Marx und Engels hier mit einem Missverständnis auf. Es ist nämlich keinesfalls so, dass dieses die Waren zu ihrem Produktionspreis abkauft und dann die allgemeine Durchschnittsprofitrate draufschlägt. Es ist vielmehr so, dass die Profite des kaufmännischen Kapitals selbst mit in die Bildung der Durchschnittsprofitrate eingehen. Der Produktionspreis setze sich daher nicht aus Kostpreis + Profit (gemäß der Durchschnitsprofitrate) zusammen, sondern aus Kostpreis + industriellem Profit + Handelsprofit. Das war im Kapitel über die Durchschnittsprofitrate noch nicht klargestellt.

Darüber hinaus diskutieren Marx und Engels die Frage nach der Stellung des kommerziellen Lohnarbeiters. Dieser produziere zwar nicht direkt Mehrwert, sondern helfe nur, die Realisierungskosten des Mehrwerts zu vermindern. Er werde aber wie jeder andere Lohnarbeiter zu den Kosten seiner Reproduktionsmittel – zum Lohn – bezahlt, „während die Ausübung dieser Arbeitskraft, als eine Anspannung, Kraftäußerung und Abnutzung, wie bei jedem andren Lohnarbeiter, keineswegs durch den Wert seiner Arbeitskraft begrenzt“ (MEW 25, S.311) sei. Auch wenn Engels hier nicht den einfachen Kassierer im Supermarkt vor Augen hat, sondern eher den angestellten Buchhalter, sieht er auf Grund der zunehmenden Differenzierung und Vereinfachung der Arbeit den Lohn tendenziell auf und unter das Niveau der Lohnarbeiter sinken.

Die beiden wichtigen Bemerkungen, welche in Japan die Diskussion eröffnen sind folgende:

„Es findet also eine Verdoppelung statt. Einerseits sind die Funktionen als Warenkapital und Geldkapital (daher weiter bestimmt als kommerzielles Kapital) allgemeine Formbestimmtheiten des industriellen Kapitals. Andrerseits sind besondre Kapitale, also auch besondre Reihen von Kapitalisten, ausschließlich tätig in diesen Funktionen; und diese Funktionen werden so zu besondren Sphären der Kapitalverwertung.“

MEW 25, S.312

und

„Keine Kapitalgattung hat größre Leichtigkeit, ihre Bestimmung, ihre Funktion zu ändern, als das Kaufmannskapital.“

MEW 25, S.293

Nicht nur, dass die Funktionen des kaufmännischen Kapitals verdoppelt sind – einmal als Agent des allgemeinen Kapitals, einmal als besondere Sphäre der Kapitalverwertung -, die Funktionen ändern sich auch noch so leicht, wie bei keiner anderen Kapitalgattung.

Kaufmännisches Kapital: die Diskussion in Japan

Shibasaki und Ehara unterteilen die Debatte in Japan in drei Phasen. Die erste Periode von 1950 bis in die 70er Jahre sei geprägt gewesen von der Schule um Kozo Uno. In der zweiten Phase, die in den 70er Jahren den Faden aufnahm und bis etwa 2000 weiter sponn, stand die Shikegatsu Yamaguchi von der Universität von Tokyo im Mittelpunkt. Eine dritte Periode lässt sich ab 2000 feststellen. Hier gibt es mehrere Stimmen, welche das Kaufmannskapital eher unter postmarxistischen Gesichtspunkten analysieren.

Kozo Uno

Die Schule nach Kozo Uno, dem wohl bekanntesten japanischen Marxisten des 20. Jahrhunderts, teilte die politische Ökonomie in „Prinzipien“ ein: das Prinzip der Zirkulation, das Prinzip der Produktion und das Prinzip der Distribution. Diese Prinzipien entsprächen nicht den Bänden des Kapitals, sondern seien von Uno neu arrangiert worden, um den Gedankengang verständlicher zu machen. Schließlich kämen Menschen zuerst und am häufigsten mit der Zirkulation, also dem Kauf und Verkauf von Waren, in Berührung.

Auf Grund dieser sehr strikten Trennung betrachte Uno das Kaufmannskapital getrennt vom industriellen und behaupte sogar mehr: es sei dem industriellen als Agent der Zirkulation vorgelagert. Der berühmte Akt G-W-G’ werde durch das Kaufmannskapital vollzogen, wohingegen das industrielle Kapital nur einen Zwischenschritt G-[W … P … -W’]-G’ vollziehe. Das Kaufmannskapital sei also Anfangs- und Endpunkt der gesamten kapitalistischen Reproduktion. Es sei der kommerzielle Profit, aus dem sich die einzelnen Revenuen speisten: Profit, Lohn und Grundrente. Daher sei das kaufmännische Kapital auch in der Lage, wesentliche Bedingungen der Produktion, wie Zeit, Umfang und Kosten, zu bestimmen.

Der Charakter des Kaufmannskapitals, Anfangs- und Endpunkt der Produktion zu sein, schlage sich auch in der historischen Entwicklung des Kapitalismus nieder. Er beginne mit dem Merkantilismus, indem das Handelskapitel unter den Bedingungen des Noch-nicht-Weltmarktes am einen Ort Waren billiger kaufte als es diese an anderen Orten verkaufte. So sei das Kapital akkumuliert worden, welches zum Take Off des Kapitalismus notwendig war. Die folgende Ära des Liberalismus sei dann von einer nur zeitweiligen Herrschaft des industriellen Kapitals geprägt gewesen. Im Imperialismus habe das Kaufmannskapital seine Vorherrschaft zurückgewonnen, insbesondere in seiner Form als Finanzkapital. Dieser Rückgewinn sei ein Zeichen für den Niedergang des Kapitalismus.

Shikegatsu Yamaguchi

Shikegatsu Yamaguchi war einer der Schüler Kozo Unos und einer seiner härtesten Kritiker. Yamaguchi kritisierte seinen Lehrer dafür, dass seine Theorie der Trennung der Einzelkapitale zu nah an der fetischisierten Erscheinungsform des Kapitalismus liege. Der Kapitalismus sei noch immer eine Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat, welche durch die Konkurrenz der Einzelkapitale nur verschleiert werde. Daher verfolgte er den Ansatz des „Kapitals im Allgemeinen“. Ganz konkret kann das industrielle kein direktes Interesse an einer geringeren Profitrate des Kaufmannskapitals haben, da es ansonsten die allgemeine Durchschnittsprofitrate nach unten drücke und somit auch die Profite des industriellen Kapitals.

Methodisch geht Yamaguchi dabei von der hypothetischen Situation aus, dass zunächst nur das industrielle Kapital existiere, um dann Probleme von diesen in der Zirkulation abzuleiten, deren Lösung neue Fraktionen des Kapitals schaffe. Diese Funktionen seien die Gestaltung des Marktes und die Erhaltung der Beständigkeit des Produktionsprozesses. Diese Methode werde die „Methode der Differenzierung und Entwicklung“ genannt.

Somit versuche Yamaguchi die Funktionen des kaufmännischen Kapitals aus den Bedürfnissen des industriellen Kapitals herzuleiten. Während diese Theorie dem Fetischcharakter der bürgerlichen Herrschaftsweise größere Rechnung trage, mache sie Abstriche in der Analyse der Einzelkapitale untereinander. Yamaguchi verteidige dieses Vorgehen dadurch, dass Marx in seinem Sechs-Bücher-Plan die Analyse des „Kapitals im Allgemeinen“ der Analyse des Wettbewerbs vorangestellt habe.

Die dritte Generation

Der Diskussionfaden, der seit den 2000er Jahren gesponnen werde, fixiert sich auf die Rolle des Kaufmannskapitals als Organisator des Marktes. Herausstechende Vertreter dieser Debatte seien Hideaki Tanaka und Masashi Shimizu. Nsch ihnen werde das Kaufmannskapital als zu vielfältig angesehen, als dass es in direkte Beziehung mit dem industriellen Kapital gesetzt werden könne: Lagerung, Transport, Verkauf, Werbung, Nachfrageermittlung, Kreditfinanzierung, Spekulation und, und und. Analytisch lasse sich das Kaufmannskapital daher am besten fassen, wenn es als Organisator des Marktes aufgefasst werde.

Alle Einzelprozesse hätten die Aufgabe, ein vorhersehbares Geschäftsumfeld zu schaffen, in dem sich die Metamorphosen des Kapitals reibungsfrei vollziehen können. Dieser Markt sei ein multidimensional verknüpftes Netzwerk vielfältiger Einzelprozesse, dessen autonomer und interdisziplinärer Organisator das kommerzielle Kapital sei. Das Bild vom Plattform-Kapitalismus wird hier theoretisch ausgereizt. Die Grenze dieser relativen Autonomie bilde natürlich die Leistungsfähigkeit des industriellen Kapitals.

Historisch falle der Beginn dieser neuen Rolle des Kaufmannskapitals mit der Krise der fordistischen Produktionsweise in den 70er und 80er Jahren zusammen. Statt großer Einzelkapitale werde ein Großteil des Anlagevermögens durch Fonds und andere kollektive Finanzierungsformen gespeist. Deregulation und neue Informationstechnologien seien Katalysator dieses Prozesses gewesen. Die moderne offene Struktur des Kapitalismus mache es allerdings auch schwer, diesen in klassisch marxistischen Begriffen und Konzepten zu fassen.

Konsequenzen aus den Theorien

Illustrieren wir die Differenzen der drei japanischen Strömungen an einer ganz konkreten politischen Frage: Sollte man amazon boykottieren? Tatsächlich würde jede der drei Strömungen eine andere Antwort darauf geben.

Nach Kozo Uno ist das kaufmännische Kapital der Taktgeber der Produktion, an dessen Profiten sich auch das industrielle Kapital orientieren muss, soll nicht alles Kapital aus diesem Sektor im Zuge der Bildung der Durchschnittsprofitrate abfließen. Eine Verminderung der Profite von amazon durch einen Boykott, würde also zu einem geringeren Profitdruck des industriellen Kapitals führen und damit zu größerem Spielraum für das variable Kapital, also für gewerkschaftliche Klassenkämpfe.

Nach Shigekatsu Yamaguchi ist die Trennung zwischen kaufmännischem und industriellem Kapital eine fetischisierte Sichtweise, welche die Herrschaft der Gesamtbourgeoisie über das Gesamtproletariat verschleiere. Da das kaufmännische Kapital nur eine Funktion des Gesamtkapitals übernimmt, würden durch einen Boykott die Profite sowohl von amazon, als auch des zuliefernden industriellen Kapitals angegriffen, sodass die Durchschnittsprofitrate allgemein fällt. Dieser Fall hat geringere Spielräume für gewerkschaftliche Klassenkämpfe im Allgemeinen zur Folge, verschlechtert also die systemimmanente Verhandlungsposition des Proletariats.

Nach der dritten Strömung würde durch einen Boykott der Organisator des Marktes allgemein angegriffen. Es käme weniger auf das Verhältnis der Einzelkapitale untereinander und zum Gesamtkapital an, sondern darauf, dass die gesamte Zirkulation und Reproduktion ins Stocken geraten kann. Dies liefe auf eine krisenhafte Zuspitzung hinaus, deren progressives Potential sich darin bemisst, wie weit das Klassenbewusstsein des Proletariats vorangeschritten ist und wie stark revolutionäre Tendenzen sind.

Zusammenfassung

Shinya Shibasaki und Kei Ehara geben einen interessanten Einblick in ein Stück marxistische Debattengeschichte, welcher Lust macht, selbst nochmal die MEW 25 aufzuschlagen. Diktieren amazon, apple und co. die Wirtschaft, werden sie von der Industrie diktiert oder strukturieren sie unseren Konsum und unsere Umgebung? Uno, Yamaguchi und die zeitgenössische Strömung reizen hierbei den Interpretationsrahmen aus, welchen Marx und Engels hinterlassen haben. Als historischer Materialist ist man geneigt anzunehmen, dass die Höhepunkte der einzelnen Strömungen auch ihr Gegenstück in den ganz konkreten Klassenbeziehungen während der 60er, 80er und 2000er in Japan haben. Leider reißen die Autorinnen diesen Aspekt nur an.

Aus der Vogelperspektive kann man festhalten: Industrielles und kaufmännisches Kapital müssen als widersprüchliche Einheit aufgefasst werden. Einheitlich in ihrer antagonistischen Stellung zum Proletariat, aber widersprüchlich in ihrem Kampf um die Anteile am Gesamtprofit. Welcher der beiden Aspekte dominiert, entscheidet sich ganz konkret historisch. Und momentan sieht es tatsächlich eher danach aus, dass das kommerzielle Kapital den Takt der gesamten Produktion angibt. Es möchte on demand und individuell anbieten, die Industrie muss sich dem anpassen. Es erzielt scheinbar leicht die hohen Profite, die Industrie streckt sich mühevoll nach diesen. Für Klassenkämpfe scheint jedoch folgendes klar: Nur wenn industrielle und kommerzielle Arbeiter*innen zusammen kämpfen, sind sie effektiv in der Lage, das Gesamtkapital zu schwächen.

Literatur:

Ehara, K. & Shibasaki, S. (2022): What is commercial capital? Japanese contributions to Marxian market theory. In: Capital & Class. Jahrgang 46. Ausgabe 2. S.235–256.

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