Der einen Freud, des anderen Leid: Das Buch Anderswo

(China Mieville/ Keanu Reeves; historisch materialistische Science-Fiction 3/X)

⋄ China Mieville ist ein marxistischer Fantasy-Autor, der unter anderem für die Bas-Lag-Serie, in der mehrere Topoi aus der revolutionären Geschichte verarbeitet werden, gefeiert wird.

⋄ Keanu Reeves, der als Schauspieler aus Matrix und John Wick bekannt ist, hat auch eine sehr erfolgreiche Comic-Serie namens BRZRKR herausgebracht.

⋄ Beide arbeiteten nun gemeinsam an einer Roman-Adaption der Reihe um einen unsterblichen Krieger, der von der Suche nach Sterblichkeit getrieben wird.


⋄ Neben Themen wie Einsamkeit und der Dialektik von Tod und Leben geht es in dem Roman sehr wesentlich um Traumata.

⋄ Die vorliegende Rezension fokussiert sich auf den Zusammenhang zwischen Trauma, Marxismus und der vorliegenden Fantasy-Erzählung.

Wenn China Mieville einen neuen Roman herausbringt – ein Autor, der im „Eisernen Rat“ so wunderbar den trotzkistischen Panzerzugmythos ins Fantastische übersetzte -, dann ist das schon mal ein Grund für hohe Erwartungen. Wenn als Co-Autor auch noch Keanu Reeves – Hollywoodstar aus Matrix und John Wick – auftaucht, dann verringert das die Spannung nicht. Wie passen der imaginative Reichtum Mievilles und die eindimensionalen Charakterdarstellungen Reeves zusammen? Und kann Mieville wie in anderen Büchern historisch-materialistische Erkenntniswerte schaffen? Eine Rezensentin meinte jedenfalls, es gäbe nur wenig Marx, aber viel Freud. Der Maßstab ist jedoch nicht, wie viel Marx jetzt im Buch steckt, sondern wie viel das Buch Marxist*innen sagen kann. Eine Rezension über The Book of Elsewhere (dt.: Das Buch Anderswo).

Das Buch und die Autoren

The Book of Elsewhere beruht auf der Comic-Vorlage BRZRKR, die Keanu Reeves 2021 zusammen mit Matt Kindt ins Leben rief. Die Comicserie war kommerziell ein Riesenerfolg und die erste Ausgabe von BRZRKR ist mit Abstand das meistverkaufte Heft dieses Jahrzehnts. Die Kritik nahm die Comicreihe mit gemischten Bewertungen auf. Auf der einen Seite erkannte man das riesige Potential, dass in der Geschichte eines 80.000 Jahre alten unsterblichen Kriegers auf der Suche nach Sterblichkeit steckt, auf der anderen Seite warf man ihr insbesondere handwerkliche Mängel vor: facettenarme Charaktere, zu wenig entwickelte Spannungsbögen, lieblos eingeführte Figuren; die Kritik an der ausufernden Gewaltdarstellungen war da nur die plumpeste.

Jetzt könnte man natürlich bösartig vermuten, dass sich Keanu Reeves im Bewusstsein dieser Schwächen, an einen der anerkanntesten Erzähler des Genre wandte, um quasi zeitgleich zum Erscheinen der Netflix-Adaption der Geschichte und den Charakteren mehr Tiefe zu geben. Eine kleine Anspielung könnte man aus dem Buch selbst entnehmen, wo B. bei der Beschreibung seines Tagebuchs sagt, dass es „von den endlosen Geisterbildern dessen begleitet (wird), was ich nicht festhalte. […] Ja, und die Aufgabe des Schreibenden, des Notierenden, besteht darin, die wichtigsten dieser Möglichkeitsgeister von den unwichtigen zu unterscheiden“ (S.427, alle Zitate nach der deutschen Ausgabe, siehe Literatur). Das deutet die etwas positivere Erzählung an, dass die Geschichten in Comic-Universen nicht selten gegenüber ihren Autor*innen verselbstständigen. Jede Heftreihe wird dabei als Interpretation einer fiktiven Begebenheit aufgefasst, wobei andere Autor*innen gerne Dinge ergänzen, weglassen oder ganze Stimmungen ändern können. Jedenfalls trat Reeves direkt an Mieville mit der Anfrage heran, ob dieser ein auf BRZRKR beruhendes Buch schreiben könne, wobei ihm bei der Ausgestaltung freie Hand gegeben wurde. Der Berliner Gutkind-Verlag hat sogar sehr zeitnah eine deutsche Übersetzung vorgelegt, die aktuell auch in den größeren Buchhandlungen ausliegt.

Die Frage ist nun, ob China Mieville, dessen marxistischer Hintergrund ja nicht nur in seinen Sachbüchern, essayistischen Besprechungen (z.B. den Kommunistischen Manifests) oder seiner Fantasy deutlich zutage tritt, den noch rohen Stoff mit viel Potential mit einem historisch-materialistischen Gehalt anreichern konnte oder ob es auf einen Marketingtrick hinausläuft, bei dem Mieville sich dank Reeves’ Popularität noch zentraler in den Feuilletons platzieren kann, während Reeves seinen Figuren durch einen linken Vorzeigeintellektuellen neues Leben einhaucht.

Um was es geht

Die Hauptfigur ist der 80.000 Jahre alte unsterbliche Krieger Unute oder B. Unsterblich ist er in dem Sinne, dass er anderen Menschen körperlich enorm überlegen ist, schnell heilt und große Verletzungen aushalten kann. Getötet werden kann er, aber dann ziehen sich seine Überreste zu einem Ei zusammen, aus dem er erneut schlüpft, um in unnatürlicher Geschwindigkeit wieder zu reifen. Unute erinnert sich dabei an sein gesamtes Leben, auch wenn er wie normale Menschen manchmal keinen akuten Zugriff auf sein Bewusstsein hat. Einzig die Zeiten, in denen er in eine Art Raserei verfällt, in der seine Augen blau aufleuchten und er alle umgebenden Menschen – ob Freund oder Feind – auf brutale Weise umbringt, entziehen sich seiner Erinnerung. Unute arbeitet in dem Buch mit einer geheimen Spezialeinheit der Vereinigten Staaten zusammen, die abwechselnd Guerillakämpfer im Nahen Osten oder bewaffnete Drogenbanden durch Himmelfahrtskommandos vernichtet. Als Preis für seine Kooperation mit der Armee verlangt Unute Erkenntnisse über die Herkunft seiner Unsterblichkeit und Auswege in die Sterblichkeit.

Unute entstammt einem längst vergessenenen Dorf in einer zwischenneolithischen Epoche (historische Entwicklungen wiederholen sich im Buch immer mal wieder), das sich rein friedlich organisierte und immer wieder Opfer einbrechender Kriegerstämme wurde. Als die Zerstörungen Überhand nahmen und die Reproduktion des Stammes gefährdeten, zeugte Unutes Mutter ihn mit einem Mix aus Kräutern und Gebeten, die einen Blitz auf die Erde niederfuhren ließen. Mit nur wenigen Jahren war Unute in der Lage, das Dorf zu beschützen und die umgebenden Stämme auszurotten. In der Folge sah Unute nicht nur den Untergang einer Heimatwelt, sondern das Aufsteigen und Absteigen ganzer Zivilisationen, sowie die Entdeckungen und Neuentdeckungen in Wissenschaft und Kultur. Unute betrachtet hierbei die moderne Wissenschaft als ebenbürtig gegenüber vergangenen oder alternativen heuristischen Methoden, wobei jedoch noch keine dem Rätsel Unutes auf die Spur kommen konnte.

Unute hat zwei ähnliche mächtige Kontrahent*innen. Eins davon ist ein hawaiianisches Warzenschwein, dessen Mutter es zum Schutz vor anderen Schweinerotten in einem ähnlichen Ritus zeugte und das Unute über alle Zeiten und Kontinente folgt, um ihn pro Jahrtausend entweder hasserfüllt zu bekämpfen oder vor Gefahren zu warnen. Unute lässt dabei aufblitzen, dass es wohl noch andere Geschöpfe geben könnte, die aus ähnlichen Motivationen und Verhaltensweisen entstanden seien. Aber ein unsterblicher Regenwurm fällt halt selbst mit dem Zehnfachen an Kraft nicht auf. Daneben gibt es noch Vayn, die selbst zumindest nicht natürlich stirbt und Dinge zu Leben erwecken kann. Die um sie herum gescharte Sekte betrachtet Unute als den Tod persönlich und führt einen Krieg gegen den Tod, zuletzt durch einen frankensteinartigen Klon.

Trauma

Um die Geschichte nicht nur als schön erzähltes Märchen zu verstehen, achten wir zunächst auf das Genre. Hier empfiehlt sich für fantastische Literatur die Einteilung von Dietmar Dath (Näheres hier), welche Genres dadurch unterscheidet, durch welche Methode sie den Unglauben in die Geschichte aufheben. Bei der Science Fiction ist das die wissenschaftliche Plausibilität, mit der aus einem fantastischen Setting gefolgert wird. Beim Horror ist es die unmittelbare Empfindung des Ekels, der Furcht, etc., also die Aufhebung des Glaubens durch den Sinneseindruck. Und bei der Fantasy ist es die nachvollziehbare Interaktion zu in Symbolen verdichteter Sachverhalte, welche die Leser*in die Geschichte glauben lässt. Nach dieser Einteilung wäre das Buch – wie eigentlich jedes Mieville-Buch – klassische Fantasy, unterstützt durch Horrorelemente.

Doch für was ist Unute ein Symbol. Viele Antworten bieten sich an. Durch Unsterblichkeit manifestierte Göttlichkeit scheidet aus materialistischer Sicht schon einmal aus, weil Götter selbst nur Symbole sind, die auf etwas anderes in der realen Welt verweisen (vgl. Feuberachthesen). Es könnte sich natürlich um den personifizierten Wunsch nach Unsterblichkeit handeln, welcher durch die Umkehrung in den Wunsch nach Sterblichkeit karikiert wird. Auch die Einsamkeit, die einen Unsterblichen, der nur eine Erzfeindin und ein Warzenschwein zu seinesgleichen zählen kann, bietet sich als Interpretationsfolie an. An dieser Stelle soll aber das vielleicht plausibelste Motiv diskutiert werden. Unute wurde geboren, um eine Gesellschaft, die dazu in ihrem normalen Reproduktionsmodus anderweitig nicht in der Lage wäre, vor plötzlich hereinbrechenden existenziellen Krisen zu bewahren und er verselbstständigt sich gegen seinen ursprünglichen Zweck. Die Rede ist hier offenkundig von einem Trauma.

Um es möglichst kurz und generell zu definieren, ist ein Trauma die Übergeneralisierung einer Krisenbewältigungsstrategie durch irgendein reproduktives System. Slavoj Zizek beschrieb dabei Traumata in der Psychoanalyse als dramatische Erlebnisse, die nicht nur einen an sich neutralen psychischen Zustand verletzen und dauerhaft dysfunktional gestalten, sondern selbst als prägende Elemente symbolischer Räume prägend für das sind, was überhaupt als verletzend gesellschaftlich akzeptiert wird. Als beispielsweise ein feindlicher Stamm Unutes Heimatdorf überfällt und nicht nur seine Mutter, sondern auch seinen Vater vergewaltigen, wird nur Schweigen über die zweite Gewalttat verordnet. Traumaanalyse hat daher die Funktion, einschneidende und sich dysfunktional auf ein Reproduktionssystem auswirkende Ereignisse auch dann zu identifizieren, wenn sie eigentlich als gesellschaftlich akzeptiert und normal wahrgenommen werden.

Trauma und Marxismus

In der historisch-materialistischen Analyse kann der Begriff des Traumas nun nach zwei Seiten hin ausgebreitet werden. Einmal als Trauma eines Subjekts und einmal als Trauma einer Gesellschaft. Zunächst einmal stellt die Entfremdung der Arbeiter*innen von den Mitteln ihrer Reproduktion eine permanente Krise der Reproduktion von Menschen dar. Waren es in vorkapitalistischen Zeiten natürliche Einflüsse, wie Hochwasser, Dürren oder Schädlingsbefall, die Reproduktionskrisen auslösten, werden die modernen durch die Gesellschaft selbst verursacht. Der Kapitalismus ist also eine permanente Reproduktionskrise der Ware Arbeitskraft, die nur durch eine permanente unnatürliche Handlung, den Verkauf der Ware Arbeitskraft und die Produktion genau jener Waren, die man gerade nicht braucht, bewältigt werden. Unter einem entwickelten Klassenbewusstsein könnte man daher auch ein Bewusstsein über diesen permanenten traumatischen Prozess verstehen, wobei Krisen oder die Besonderheiten von Race und Gender zusätzliche Tramata hervorbringen.

Nach Slavoj Zizek besteht die Funktion der Ideologie, diese permanenten Traumata symbolisch zu besetzen. Dass es den Leuten häufig recht dreckig geht, das braucht man eigentlich keinem erklären. Der Kampf wird über die Bedeutung der Ursachen geführt. Wenn zum Beispiel ein Arbeiter aus persönlicher Not heraus dazu gezwungen ist, als Streikbrecher zu fungieren, dann besetzen die rechten Kräfte diese Krise des Klassenbewusstseins mit dem Topos der individuellen Freiheit, der bei der Bewältigung hilft. Wenn du die Wahl zwischen selbstgewählter und fremdbestimmter Einsamkeit hast, nimm doch das erste.

Wenn man den Begriff des Traumas aber auf reproduktive Systeme im Allgemeinen anwendet, dann können auch Gesellschaften Traumata erleiden und nicht selten wird dieser Begriff ja auch benutzt. Mann könnte etwa das gesellschaftliche Trauma nehmen, das aus der Weltwirtschaftskrise 1929 entstanden ist und beim Monopolkapital eine übertriebene Skepsis vor der Reintegration in den Weltmarkt geweckt hat, wobei Autarkie in dessen Interesse nur durch Krieg und Versklavung zu erreichen war. Und natürlich muss auch berücksichtigt werden, dass natürlich Revolutionen kollektive Traumata auslösen. Trotzkis Konzept der permanenten Revolution wollte traumatische Erfahrungen verstetigen, sodass sich einmal ausgebildete dysfunktionale Strategien gar nicht verfestigen. Stalin wollte durch die Betonung der Kontinuität – so viel hat sich doch gar nicht geändert, Familie, Traditionen und Vaterland sind doch bewahrt worden – Bewältigung durch Verdrängung der tiefgreifenden Umwälzung schaffen. Während allerdings heute eher die Erkenntnis vorherrscht, dass sich Traumata akkumulieren und nicht ablösen, hilft Verdrängung als natürlicher Mechanismus wenigstens zeitweise,

Trauma im Buch

Mieville stellt in The Book of Elsewhere die Frage, ob eigentlich Unute die Triebkraft hinter der Entwicklung der Menschheit war oder umgekehrt: ob Unute nur jeweils immer ein Produkt der jeweiligen Gesellschaft ist, einer der an Mystik glaubt, wenn die Produktivkräfte nicht mehr hergeben und einer, der an Wissenschaft glaubt, wenn eben Elektronenmikroskop und Quantenanalysatoren gebaut werden können. Nehmen wir Unute hier als Metapher ernst, ist die Frage: Werden Traumata durch Gesellschaften und ihre Krisen erst geprägt oder prägen Traumata die jeweiligen Gesellschaften.

Die Lösung bei Mieville ist – sonst wäre er nicht der gute Geschichtenerzähler und Gleichnisarchitekt, der er ist – komplex. Unute hat natürlich Einfluss auf die Entwicklung der Produktivkräfte, aber eben nicht unmittelbar: Er haut nicht Newton den Apfel auf den Kopf oder schreibt Einstein die Relativitätstheorie auf. Vielmehr treibt das Symbol Unute die Produktivkräfte voran. Die Menschen entwickeln erstaunliche intellektuelle und technische Fähigkeiten und Werkzeuge, um Unute zu fangen, zu observieren oder zu bekämpfen. Der Witz an der Geschichte ist, dass sie dazu Unute eigentlich nicht gebraucht hätten und die Jäger mit ihren jeweiligen Produktionsmitteln das Leben der Menschen viel einfacher hätten gestalten können. Die Jagd nach Unute beflügelt somit gleichzeitig die Entwicklung der Produktivkräfte, aber lähmt sie, da sie einem Zweck dient, dessen Erfüllung zwischen Unerreichbarkeit und völliger Inhaltsleere fungiert. Die Gruppe, die Unute fängt, hat den Tod zwar symbolisch besiegt, die Leute sterben aber weiterhin. Diese Performativität wird heutzutage zum Beispiel dem Profit zugeschrieben. Die Produktivkräfte entwickeln sich auf der Jagd nach ihm und nützen den Gesellschaften jeweils nur wenig, da das Kapital in den Händen weniger akkumuliert bleibt. Unute bildet hier also einen symbolischen Konnex zwischen Profit und Trauma.

Umgekehrt legt – und hier macht das Mieville sehr charmant – Unute viel Wert auf die Details seiner Epoche legt. Wer meint, einem Jahrtausende alten Krieger sei es egal, von welcher Marke sein Bürostuhl ist oder ob ein Klavierstück auf Vinyl wärmer klingt, der fehlt. Und Unute kann es jeweils nicht egal sein, ob er seinem Ziel der Sterblichkeit durch Magie oder Quantenphysik näher kommt; er bleibt immer von den historisch gebundenen Zeitgenossen abhängig und kann seine Aufgabe nicht „allein“ bewältigen. Der Unterschied zwischen Unute und den Sterblichen ist einfach, dass erstere dem Telos ihrer Zeit unterliegen, während Unute sich jeweils seine eigenen jahrhundertelangen Projekte schaffen kann, bei denen er jedoch immer an die Produktivkräfte der jeweiligen Epoche gebunden ist.

Der wohl provokanteste Teil des Buches, der auch in vielen Rezensionen, insbesondere aus der Linken besprochen wurde, ist der pragmatische Umgang mit Traumatherapie. So lässt Mieville den alten Haudegen und faktischen Vorgesetzten Unutes Keever sprechen:

„Vielleicht sollten Sie mal von ihrem hohen Ross steigen“, sagte er schließlich. „Ma’am. Glauben Sie zu wissen, wie ich ticke?“ Seine Stimme war immer noch leise. „Ich bin ein Soldat, und deshalb denke ich, dass Therapie etwas für Mimosen und Weicheier ist? Ein Soldat bin ich, da haben Sie verdammt Recht, und ich will das Beste für meine Leute, und wir leben nicht mehr in den 80ern. Haben Sie mal Karl Marlantes gelesen? Was wissen Sie über die Geschichte der Militärpsychiatrie?Denken Sie, dass ich nicht an Traumata glaube? Denken Sie, dass Trauer meiner Meinung etwas für Schwächlinge ist oder so? Denken Sie, meine Leute gehen mir am Arsch vorbei? […] Ich bin von der alten Schule, das stimmt schon. Ich gehöre zu einer Generation, die ihre Gefühle für sich behält. Ob ich finde, dass die Leute heutzutage ein bisschen komisches Zeug reden? Klar. Ich bin andere Trigger gewöhnt und an andere Vorwarnungen. Aber nur ein Trottel bildet sich ein, dass die Art, auf die er ausgebildet wurde, automatisch die beste ist.“

S.76f.

Karl Marlantes, auf den hier angespielt wird, ist ehemaliger Vietnam-Besatzer und hat zwei populäre Bücher über posttraumatische Belastungsstörungen geschrieben. Bei PTBS fällt es Soldat*innen schwer, die Überlebensmechanismen des Krieges nicht in den zivilen Alltag hinein zu verlängern. Genauso kann man, wie oben angemerkt fragen, auf welche Strategien eigentlich nach der Revolution zurückgreifen, wenn die Mittel der Revolution nicht mehr die Mittel nach dem revolutionären Sieg sein können.

Wer jetzt denkt, dass Mieville für Gruppentherapien, Aggressionstrainings oder New-Age-Quatsch argumentiert, wird sich enttäuscht sehen. Sämtliche auftretenden Therapeutinnen setzen Unute als Trauma nur Gegentraumata entgegen oder stehen der Situation mehr oder weniger hilflos gegenüber; diese Hilflosigkeit wurde in der Kritik häufig als Überflüssigkeit der Figuren negativ bewertet. Stornier, der oberflächlich den Verlust seines Ehemannes bewältigt hat, schließt sich der irrsinnigen Jagd auf den „Tod“ an. Mieville bietet einfach keine Lösung an. Das Buch endet mit einem recht banalen „einfache Negation: buh; prozessierender Widerspruch: yeah.“ und der Feind des Lebens ist nicht der Tod, sondern der Stillstand. All das hilft beim gestellten Problem nicht. Und so kann auch Mieville nicht verhindern, dass die Geschichte merkwürdig auserzählt abschließt. Man müsste meinen, dass es über einen 80.000 Jahre alten Krieger mehr zu erzählen gäbe, aber jeder neue Dreh und Wink in der Geschichte scheint nichts mehr beizusteuern.

Zusammenfassung

Sollten Marxist*innen sich darauf besinnen, ihre Gesellschaftsanalyse nur noch durch das Brennglas des Trauma-Begriffs zu durchleuchten? Keineswegs. Sollten Traumapsycholog*innen nur noch harten Materialismus pflegen? Sicher nicht. Beide sollten lieber auf das Handwerkszeug der anderen zugreifen, wo die eigenen Mittel ihre jeweiligen Probleme zu lösen nicht mehr imstande sind. Der unmittelbare Bezug setzt beide in eine unproduktive Konkurrenz, die sich zum Beispiel in der fruchtlosen Debatte um den Freudomarxismus ausdrückte.

Und hier erfüllt die Fantasy ihre Funktion. Sie erlaubt beiden – Traumapsychologie und historischem Materialismus –, sich jeweils auf etwas Drittes zu beziehen, über das der Vergleich um Stärken und Schwächen zu leisten ist. Mievilles Fantasy erlaubt es uns aber, etwas anders über Interpretationen der gesellschaftlichen Realität zu sprechen, als wir es im marxistischen Standardvokabular machen werden. Und darin erfüllt das Buch eine Funktion, die über eine Auflistung der Mängel und Vorzüge oder irgend eine Benotung hinaus reicht.

Literatur:

Mieville, C. & Reeves, K. (2024): Das Buch Anderswo. orig.: The Book of Elsewhere. Aus dem Englischen von Jakob Schmidt. Berlin: Gutkind.

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