Gendern auf Chinesisch

⋄ Die Debatten um Gendern und Identitätspolitik sind in Deutschland hoch polarisiert.

⋄ Ian Liujia Tian hat in der
Rethinking Marxism die Antwort des Chinesischen Sozialistischen Feminismus auf diese postmodernen Debatten dargestellt.

⋄ Sowohl die falsche Gleichheit im Maoismus als auch die marktkonforme Diversität werden kritisiert.

⋄ Vielmehr müsse die Frauenfrage repolitisiert werden und zum Gegenstand der Frauen selbst gemacht werden.

⋄ Der beste Ort hierzu sei die Kommune, in der Individualität und Gemeinschaftlichkeit ihren gleichberechtigen Platz finden könnten.

Es benötigt manchmal nicht mehr als ein kleines Sternchen, um eine handfeste Diskussion zu entfachen. Gendern sei unverständlich, nütze überhaupt nichts und ihre Befürworter*innen betrieben eine Identitätspolitik, die Arbeiter*innen vergesse und in die Arme der AfD treibe. Letztere argumentieren, dass Macht durch Sprache transportiert werde, das generische Maskulinum nachweislich nicht generisch wirke und besonders der prekäre Teil des Proletariats vorrangig weiblich sei. Die Debatte ist dabei so extrem polarisiert, dass viele Menschen nicht mehr bereit sind, Texte mit der falschen Genderform auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Die Benutzung oder Auslassung eines einfachen Stilelementes kann schnell zur Abqualifizierung eine*r Autor*in führen.

Der internationale Blick fällt zunächst in die USA, wo mit they/theirs ein geschlechtsneutrales Personalpronomen zur Debatte steht. Die Staaten sind auch das Mutterland der Identitätspolitik. Aber wie sieht es beispielsweise in China aus? Gibt es eine Debatte um Gendern und Identitätspolitik in der Volksrepublik und wer führt sie? Ian Liujia Tian hat in der aktuellen Rethinking Marxism den Chinesischen Sozialistischen Feminismus CSF für ein westliches Publikum zugänglich gemacht. Sie argumentiert für eine Repolitisierung der Frauen*frage.

Ein knapper historischer Überblick

In den letzten 20 Jahren hat die Genderdebatte auch in China Fuß gefasst. Zahlreiche NGOs haben sie mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf die Tagesordnung geholt. Ian Liujia Tian
beklagt jedoch einen eklatanten Mangel an Strategie. Während auf der einen Seite zwar der akademische Diskurs angestoßen wurde, habe man der politischen Frauenbewegung mehr geschadet. Mehr Öffentlichkeit hieße halt auch mehr Angreifbarkeit durch im Parteiapparat verankerte patriarchale Strukturen. Im Westen ernte man zwar Applaus, aber dem Anschluss an die proletarischen und bäuerlichen Klientel sei kaum geholfen. Die Autorin erwägt daher ein Umdenken hin zu einer repolitisierten, sozialistischen Frauen*bewegung.

Im 20. Jahrhundert artikulierte sich die Frauenfrage in China in drei wesentlichen Ausprägungen. Zunächst in einer antikolonialistischen, die fragte, welchen Platz Frauen im Kampf um die nationale Selbstbestimmung Chinas einnehmen könnten, auch wenn dieser am Herd sei. In den Anfangsjahrzehnten der Volksrepublik wurde sie radikal egalitär verstanden, in dem prinzipielle Unterschiede zwischen den Geschlechtern geleugnet wurden und maskulinisierte Frauen Vorbildfunktionen einnahmen, zeitgleich aber die politische Führung am Ende kaum mit Frauen besetzt wurde. So blieben in breiten Bevölkerungsschichten Vorurteile weitestgehend deshalb bestehen, weil sie nicht offensiv thematisiert wurden. Im postsozialistischen China (Anm.: Die Autorin bezeichnet die Phase seit der Öffnung Chinas gegenüber dem Weltmarkt als das postsozialistische China. Diese Bezeichnung wird in der Folge übernommen, ohne dadurch darüber urteilen zu wollen, ob China noch sozialistisch ist oder nicht) habe zwar die Debatte um konkrete Ungleichheit und die Bedürfnisse von Frauen* wieder an Fahrt gewonnen, jedoch seien die Antworten darauf zunehmend klassistischer und rassistischer Natur. So habe eine chinesische Parlamentsabgeordnete vorgeschlagen, auf die Doppelbelastung der Frau zuhause und auf Arbeit durch billiges Pflegepersonal aus dem Ausland zu reagieren. Solche Vorschläge ließen natürlich Zweifel daran aufkommen, ob mit dem Staat eine emanzipatorische Bewegung zu machen sei.

Der Chinesische Sozialistische Feminismus

Der an die neomaoistische Neue Linke angelehnte Chinesische Sozialistische Feminismus (CSF) sucht hingegen nach Antworten auf Genderfragen, die nicht auf Kosten schwacher Bevölkerungsgruppen gehen. Vielmehr suche er nach einer Synthese aus dem egalitären Ansatz der Mao-Zeit und der Differenzsensibilität des Postsozialismus unter den Bedingungen des imperialistischen Konkurrenzkampfes und zur Überwinderung von letzterem.

Während der CSF in der Regel die Definition von Gender als sozialer Konstruktion akzeptiert, leitet nur eine Minderheit daraus eine Denaturalisierung des Geschlechtes ab. Gendermainstreaming im Sinne einer vollständigen Trennung des Genders vom biologischen Geschlecht depolitisiere und dehistorisiere die Frage um Gleichstellung. Der Begriff des Gender (Shehui Xingbie, 社会性别) sei kein indigener Begriff aus der chinesischen Sprache, sondern durch die Feministin Li Xiaojiang in den Diskurs gekommen. Durch transnationale Projekte habe sich der Begriff dann verfestigt. Allerdings merkten die chinesischen kritischen Feminist*innen, dass der transnationale Diskurs mit dem Westen postkoloniale Muster widerspiegelte. Frauen in der Volksrepublik wurden einseitig unter dem Apekt der Unterdrückung und der Rückständigkeit wahrgenommen. Der Sozialismus unter Mao wurde zur Ursache der heutigen Ungleichheiten erklärt, was der Analyse der chinesischen Feminist*innen diametral zuwider lief. Die Sache der Frauen wurde degradiert zu einer einzigen Anklage gegen die Kommunistische Partei und ihren Herrschaftsanspruch und wurde somit der Komplexität der Verhältnisse nicht mehr gerecht. Dadurch entkoppelte sich der chinesische Diskurs teilweise vom westlichen und suchte nach einem eigenständigen Weg.

„Von Anfang an war der Feminismus in China sehr verschieden vom Feminismus in den nicht-sozialistischen Ländern, denn der Anfang der chinesischen Feminismus liegt im Klassenkampf und in der Leugnung der Geschlechtsunterschiede. Diese Unterschiede sind aber so politisch, wie sie biologisch sind. Daher sollte die Übernahme der Gender-Theorie in der Zeit nach den Reformen und Öffnung verortet werden, die den Sozialismus nur noch als totalitäres System verstand, das die menschliche Natur unterdrückte. Die Gender-Debatte wurde in China dadurch auf die Tagesordnung geholt, weil der historische Revisionismus die Genderunterschiede als Teil der menschlichen Natur verstand. Weiblichkeit aus den Ruinen des Sozialismus zu bergen galt als Menschenrechtsfrage. Auf Grund dieses historischen Fehlkonzepts des chinesischen Sozialismus kann man den Aufstieg des Gender-Begriffs nicht losgelöst vom Abschied des Staatssozialismus und der Klassen- zur Identitätspolitik verstehen.“

Dong Limin, zit. nach S.527, eigene Übersetzung

Dong Limin leitete aus diesen Erfahrungen einen scharfe Widerspruch ab. Die Gendertheorie entfremde Frauen von ihren konkreten Problemlagen, sowie von der Geschichte ihres Kampfes um Gleichberechtigung. Sie führe dazu, dass Frauen ihren Kampf von den ökonomischen Bedingungen, von der Klassenfrage und von der Machtfrage entkoppelten und sich das Menschenbild der gleichförmigen, in hübschen individualistischen Blasen gepolsterten Proletarier*innenmassen des Neoliberalismus zu eigen machten.

Song Shaopeng argumentierte in ähnlicher Richtung, aber etwas historischer. Nach ihr sei es kein Zufall, dass der Aufstieg der genderzentrierten NGOs mit der zunehmenden Privatisierung der chinesischen Wirtschaft zusammenfiele. Private Unternehmen beförderten auf der Suche nach neuen Profitmöglichkeiten den Individualismus der Konsument*innen und trieben daher auch die geschlechtliche Diversifizierung voran. Allerdings bedeute die Erhöhung der Produktpalette für die neuen Ansprüche auch eine Zunahme an gesellschaftlicher Arbeitszeit, welche auf diese verwendet werden müsse. Anstatt also die Produktion so zu organisieren, dass die Reproduktionsarbeit ihren gerechten Platz bekomme, würde sich durch die Diversifizierung der Widerspruch zwischen den beiden Polen eher erhöhen. Die Reproduktion wurde ebenso wie die Produktion privatisiert, während sie früher Aufgabe der Gesellschaft war. Dadurch würden Frauen vielmehr alleine gelassen in einem Subkosmos, der dann auf dem individuellen Verhältnis gegenüber dem Mann beruhe. Sie stellt zu Recht in Frage, ob dies die Emanzipation sei, die sich moderne Feminist*innen vorstellten.

Das heißt jedoch alles nicht, dass der CSF die Zeit unter Mao idealisieren und romantisieren würde. Vielmehr wird argumentiert, dass die reale verbliebene Ungleichheit zwischen Geschlechtern das Einfallstor für die Privatisierungswellen der 90er gewesen sei.

Die Zukunft liegt in der Kommune

Wenn der CSF den Hebel für die Emanzipation der Frau also nicht im postsozialistischen Staat und nicht in der atomisierten Individualität erblickt, wo liegt er dann? Die Antwort lautet: in der Kommune. Und in dieser Antwort liegt begründet, warum der chinesische Feminismus für westliche Belange so inkommensurabel ist. Auf der einen Seite ist der kritisch gegenüber der konkreten Politik der CCP und ihrer internen Machtstrukturen. Auf der anderen Seite besitzt er zahlreiche Verbindungen zur Partei und der Ruf „Stärkt die Kommune!“ wird zunehmend ein Element der Staatspolitik (siehe dazu etwa Wen Tiejuns Beiträge zur ökologischen Landwirtschaft). Indem der CSF wiederum einen innerparteilichen Diskurstrang aufgreift, betreibt er doch eine Politik, die den Fokus weg von der Staatspartei lenkt und deren Emphase des Beitrags der Frauen in der nationalen Ökonomie unterläuft. Das passt alles nicht in das Bild eines Leviathans, das im Westen von Volksrepublik und kommunistischer Partei gezeichnet wird.

Die Kommunen seien der Ort, an dem sowohl Gemeinschaftlichkeit stattfände, Individualität und konkreten Geschlechterinteressen jedoch ebenso Rechnung getragen werden könne. Hier wäre weibliche Selbstorganisation möglich, beispielsweise in Initiativen zum Selbstschutz. Reproduktionsarbeit könnte nach Ressourcen und Bedürfnissen verteilt werden. Bei weitgehender Autonomie könnten Frauen auch Kommunen wechseln, um diejenigen mit passenden Organisationsprinzipien zu finden. Diese Konzeption liegt jedoch nur im Ansatz vor und insbesondere die Vernetzung von überregionalen Produktionsprozessen wäre noch zu diskutieren.

Der CSF im globalen Diskurs

Der kritische sozialistische Feminismus wird sowohl von bürgerlichen NGOs in China als auch westlichen dafür kritisiert, dass der positive Bezug auf den Maoismus den Anschein eines Parteifeminismus erwecke. Darauf antwortet der CSF, dass seine Theorie nicht im ursprünglich Maoismus verwurzelt sei, sondern in der postsozialistischen Erfahrungswelt der Frauen. Er befinde sich weiterhin im Einklang mit einer gesamtasiatischen Bewegung, welche auch außerhalb Chinas im Sozialismus eine politische Notwendigkeit zur Überwindung patriarchaler Strukturen erkenne. Durch die Verortung des Sozialismus in der Kommune, unterlaufe die Zielsetzung sowohl den westlich zentrierten Neoliberalismus als auch geopolitische Zielsetzungen der CCP. Dadurch gerate man nicht in Interessenwidersprüche innerhalb der transnationalen Frauenbewegung. Vielmehr seien die Vorbilder feministische Kommunen der Zapatistas, indigener Völker oder schwarzer Communities. Die Kommunistische Partei sei genau deshalb nicht der Ort für ein feministisches Projekt, da sie momentan strukturell depolitisiert sei und in einem funktionalistischen Verwaltungsapparat mit patriarchalem Sozialstaat aufgehe.

Exkurs: Gendern auf Chinesisch

Man sieht, dass die Debatte um die Sprache eine völlige Nebenrolle spielt, auch wenn sie insbesondere im akademischen Diskurs vorkommt. Das Wort Gendern ist im Mandarin mit „Baohan Yin-Yang-Xing de Shuxie Fangshi“ etwas länger und bedeutet soviel wie „Methode des Schreibens, die Yin und Yang Eigenschaften beinhaltet“. Dabei besitzt die Sprache keine Artikel und Substantive besitzen außerhalb der Eigenschaften des Bezeichneten keinen Genus. Begriffe wie Mond, Arzt oder Katze werden ohne ein Geschlecht gelesen. Die Personalpronomen er, sie und es gibt es zwar, sie werden jedoch gleich gesprochen – nämlich ta – und unterscheiden sich nur in der Schreibweise. Zur geschriebenen Form gibt es jedoch tatsächlich eine Debatte. Die sächliche Form als abwertend, da sie in der Regel für Tiere verwendet wird. Nun könnte man sich ein neues geschlechtsneutrales ta als Zeichen ausdenken, aber hier wird es kompliziert. Während sich mit lateinischen Buchstaben jedes beliebige Wort auch auf Tastaturen schreiben lässt, müsste ein neues Zeichen erst seinen Weg in den Schriftsatz finden. Chines*innen geben, wenn sie z.B. auf einer Handytastatur schreiben, die lateinische Umschrift ein und wählen aus den von der Software angebotenen Zeichen. Ein möglicher Ausweg wäre, generell einen lateinisch geschriebenen Begriff zu wählen, aber dies würde wohl ebenso als unschön oder schwer lesbar interpretiert, wie deutsche Sternchen oder Doppelpunkte.

Auch stellt sich in China die Frage nach der Lesart der Berufe. Jeder Beruf wird zwar grundsätzlich neutral bezeichnet, aber es gibt immernoch typisch weibliche und männliche Berufe. Man kann zwar etwas wie „Herr Arzt“ oder „Frau Arzt“ bilden, doch hier scheiden sich die Geister. Während sich die einen durch die explizite Nennung des Geschlechts stigmatisiert fühlen, betonen andere die Notwendigkeit der Sichtbarkeit. Die Problematik liegt als nicht in der Spezifik der Sprache begründet. Auch eine prinzipiell neutrale Sprache führt zu ähnlichen Problemen wie im Deutschen. Allerdings muss auch gesagt werden, dass die Debatte in China längst nicht so gesellschaftlich verankert und polarisiert ist. Das bleibt ein deutscher Sonderweg.

Zusammenfassung

Ian Liujia Tian zeigt auf, wie eng die Sexismus-Debatte in China mit dem dialektischen und historischen Materialismus in Einklang steht. Historisch wurde die Frage entsprechend der Erfordernisse der jeweiligen Verhältnisse formuliert. In der frühen Republik: Was kann die Frau tun, um die Nation im antikolonialen Kampf zu stärken? Diese Frage stellt die Partei bezeichnenderweise unter Xi Jinpin wieder auf höherer Stufenleiter neu. Unter Mao: Was kann die Frau tun, um dem Mann möglichst gleich zu sein? Seit Deng: Was ist an Frauen besonders, das sich vermarkten lässt? Der Chinesische Sozialistische Feminismus sucht jedoch nach einer Synthese durch Repolitisierung dieser Fragen, indem er formuliert: Was können wir Frauen tun, um uns entsprechend unserer Bedürfnisse zu organisieren? Für liberale Identitätspolitik, die Frauen nur als von der kommunistischen Diktatur zu befreiende Objekte wahrnehmen kann, ist diese Fragestellung nicht mehr anschlussfähig.
Es ist dabei erstaunlich, wie viele Parallelen die chinesischer Debatte zum Umgang mit dem Erbe der DDR aufweist. Wie in der Nachwendezeit wurde die infrastrukturelle Verbesserung der Lage von arbeitenden Frauen allein unter dem Blickwinkel eines totalitären Herrschaftsanspruchs und gesellschaftlicher Notwendigkeiten betrachtet, als ob die moderne Identitätspolitik nichts mit Ideologie und ökonomischen Zwängen zu tun habe. Dadurch werden hier wie dort Leistungen von Frauen im Sozialismus strukturell mit einem neokolonialen Habitus entwertet. Doch eine Frauenbewegung, die aus der Pose des siegreichen Kapitalismus – samt seiner patriarchalen Trennung von Reproduktion und Produktion – agiert, fällt hinter sich selbst zurück. Bruchlinien mit der Konsum- und Verwertungslogik sind im aktuellen queeren und feministischen Diskurs jedenfalls rar gesät.

Literatur:

Ian Liujia Tian (2022) Critical Socialist Feminism in China: Xingbie (Gender), the State, and Community-Based Socialism. In: Rethinking Marxism. Jahrgang 34. Ausgabe 4. S.519-537.

Vidal, I. (2022): Ta, ta oder doch lieber ta? – Vom “Gendern” auf Chinesisch. Link: https://www.chinahirn.de/2022/12/29/gesellscjhaft-i-ta-ta-oder-doch-lieber-ta-vom-gendern-auf-chinesisch-von-imke-vidal/

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