| ⋄ Ende September hat die Jury des Tamara-und-Isaac-Deutscher-Preises, des bekanntesten Preises für marxistische Literatur, ihre Shortlist veröffentlicht. ⋄ Bruno Leipold setzt sich in „Citizen Marx“ mit der Frage auseinander, wie der Republikanismus des jungen Marx sich im weiteren Werk fortsetzte. ⋄ So zeigt er, wie die Debatten um die möglichen Gestalten einer Republik, etwa das Kommunistische Manifest prägten. ⋄ Das Manifest leutete aber auch die kritische materialistische Auseinandersetzung mit der „bourgeoisen Republik“ bei Marx ein. ⋄ In den Klassenkämpfen in Frankreich ergriff Marx jedoch wieder Partei für eine neue Form der Republik: die „soziale Republik“. |

War Marx Republikaner? Die Frage riecht ein wenig nach Verbürgerlichung, als sei es Marx um eine Art Verbesserung der Demokratie gegangen, anstatt seine fundamentale Kritik am Kapitalismus ernst zu nehmen. Die Frage verweist aber auch darauf, dass die Gesellschaft, deren Herrschaftsweise Marx im Kapital schonungslos offen legte, zu seinen Lebzeiten kaum etabliert war. In den Vereinigten Staaten tobte noch der Bürgerkrieg um einen Staat, vor dem alle Menschen gleich waren. In Frankreich wechselten sich Revolutionen und Gegenrevolutionen ab. In Großbritannien überformten Kolonialismus und Ständegesellschaft noch das republikanische Skelett. Und in den deutschen Staaten herrschten den Großteils von Marx’ Lebzeit noch Monarchen in Reinkultur. War Marx also Kämpfer für die Gesellschaftsform, deren Übel und Ablaufdatum er bereits voraussagte?
Vor zwei Wochen veröffentlichte die Jury des Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preises ihre Shortlist für den diesjährigen Wettbewerb. Darunter befindet sich auch Bruno Leipolds „Cititzen Marx“, dass sich mit der oben gestellten Frage auseinandersetzt.
Republikanismus im 19. Jahrhundert
Heute verbinden viele Menschen das Wort „Republikaner“ mit der konservativen Partei der USA. Republikaner waren im 19. Jahrhundert zuallererst Intellektuelle und Politiker, welche die Monarchie stürzen wollten. Eine Republik bezeichnet ja zunächst einmal jede Form nicht vererbter Herrschaft, unabhängig davon, ob die Machthaber diktatorisch regieren oder sich durch Wahlen bestätigen lassen und partizipative Angebote schaffen. Für einen Großteil der Republikaner gehörte aber die demokratische Teilhabe zum Programm untrennbar dazu.
Der linke Flügel der Republikaner forderte nicht nur das Wahlrecht für alle Bürger*innen, sondern auch jährliche Wahlen und bindende Voten. Sie strebten „wahre Volkssouveränität“ an, die insbesondere mit einem Freiheitsbegriff vor dem Staat einherging, der eigentlich nichts weiter tun sollte als das allgemeine Gesetz zu repräsentieren und durchzusetzen. Viele Republikaner erkannten aber auch, dass ein rein negativer Freiheitsbegriff ohne einen positiven zu scheitern drohte. Würde nicht auch das Proletariat die Mittel erlangen, um sich umfassend zu bilden und nicht nur unter Herrschaft der privaten Produktionsmittelbesitzer zu stehen, so gleite die Republik in Despotie und Sklaverei ab. Vorschläge, wie gemeinschaftlicher Besitz oder Umverteilung wiederum griffen aber gerade in die scheinneutrale Rolle des Staates ein.
In diesem Widerspruch sieht Leipold eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Marxens zum Liberalismus aus zwei Gründen für wertvoll an: Erstens erkläre dies den historischen Kontext, in dem Marx seine Theorien entwickelte, sich von bürgerlichen Ideen abgrenzte und selbst politisch intervenierte. Und zweitens ist der Republikanismus immer noch eine vorherrschende Ideologieform, mit der sich auch der zeitgenössische Marxismus auseinanderzusetzen habe, wolle er nicht zwischen Verbalradikalismus und Opportunismus pendeln.
Republikanismus
Kein Wunder also dass das Verhältnis von Karl Marx zu Fragen der Demokratie und des Republikanismus aktuell durch einige Bücher thematisiert wird. In Deutschland kann man etwa auf das Buch Marx als Demokrat von Alex Demirovic verweisen, der erst letzte Woche hierzu ein Interview in der Kommunistenkneipe gegeben hat (Link hier). Leipold stellt in der Einleitung in Frage, ob Lenins Bestimmung der Quellen des Marxismus – deutscher Idealismus, franzöischer Materialismus und britische politische Ökonomie – so überhaupt haltbar sei oder ob nicht auch der britische Republikanismus hier zu nennen sei. So sei das Kommunistische Manifest hier sehr wohlwollend aufgenommen worden, da die Bedeutung des Besitzes in Großbritannien so offenbar den politischen Einfluss bestimmte, dass die Frage nach Gemeineigentum als Voraussetzung einer Republik selbst in bürgerlichen Kreisen virulent war.
Dialektischer Dreischritt
Dass Marx’ Haltung zu Demokratie und Republik Änderungen unterlag, dürfte unbestritten sein. Unterschiede gibt es in der Einteilung der einzelnen Phasen. So macht etwa Michael Heinrich die wertkritische Wende Mitte/Ende der Fünfziger als entscheidende Zäsur geltend, während Demirovic in sechs Phasen unterteilt. Leipold geht einen Mittelweg und löst in drei Etappen auf. Überschrieben sind sie ganz neckisch mit „Die demokratische Republik“, „Die bourgeoise Republik“ und „Die soziale Republik“. Kaum verkennbar ist hier der dialektische Weg von These, Antithese zur Synthese.
Die Phase datiert er zwischen 1842 und 1848, wo Marx im Wesentlichen als junghegelianischer Diskutant und politischer Journalist aktiv ist, dessen Republikanismus sich in erster Linie aus der Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat und seinem ideologischen Überbau speist. Ab 1848, als sich Marx noch strenger auf die wissenschaftliche Durchdringung der Klassengesellschaft konzentrierte, nahm er eher als Beobachter politischer Prozesse teil. Auf der einen Seite sah er immer noch die politische Emanzipation der Arbeiter*innenklasse als Voraussetzung des Sozialismus an, da andernfalls nur idealistische Entwürfe in der politischen Arena Eingang fänden. Auf der anderen Seite kritisierte er republikanische ideale Gesellschaftsentwürfe, welche eine besondere Form dieser politischen Emanzipation als Ziel und nicht als Schritt bewarben. Die kleinen Erfolge und großen Niederlagen solcher Reformversuche, ordnete er zunehmend in einen allgemeinen historischen Gang zwischen Feudalismus und Kapitalismus ein.
Die letzte Zäsur waren Marx’ Erfahrungen mit der Pariser Commune, die radikaldemokratische Experimente wagte. Nach Leipold sei hier die Erkenntnis gewachsen, dass die Revolution nicht einfach eine Staatsmaschinerie übernehmen könne, sondern politische Grundlagen brauche, auf der sie aufbauen könne und die bereits vorher verwirklicht sein müssten. Hier ging es etwa um Fragen der Deprofessionalisierung der Politik oder der Bindung der Repräsentant*innen an den Volkswillen.
Die demokratische Republik
Ließ der alte Hegel noch alle Widersprüche der Welt und Geschichte in dem verallgemeinerten Willen eines Herrschers kulminieren, inszenierten sich die Junghegelianer als radikale Demokraten. Selbst die konstitutionelle Monarchie konnte nichts anderes als ein Übergangsstadium zur wahren Volkssouveränität sein. Auch Marx schlug in seiner ersten politischen Schrift 1842 mit dem Bonmot in diese Kerbe, dass sich res publica nicht einmal ins Deutsche übersetzen ließe; ein deutscher Sonderweg also irrsinnig sei. Die Rheinische Zeitung der Junghegelianer hatte insbesondere mit der preußischen Zensur zu kämpfen und forderte daher als pars pro toto die Pressefreiheit. Aus den täglichen Berichten über die Entscheidungen der Provinziallandtage filtrierte Marx dann allmählich seine Distinktion zwischen repräsentierten Partikularinteressen, allgemeinen Volksinteressen und den Interessen eines menschlichen Gattungswesens heraus. Eindrücklichstes Dokument dieser Zeit ist sicherlich die Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Anstatt wie Hegel die Ordnung der Welt in der Monarchie gipfeln zu lassen, ließ Marx den historischen Prozess durch das revolutionäre Subjekt Proletariat diese Ordnung beseitigen:
„In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.“ (MEW 1, S.391)
Dass trotz der scheinbaren Radikalität hier noch kein wirklich kommunistisches Projekt gemeint ist, verrät die abschließend Referenz auf das französische Nationaltier. Marx warf Hegel vor, eine Ordnung aus dem Kopf praktisch durchsetzen wollten, anstatt die realen historischen Prozesse zu antizipieren und darin zu wirken. Und diese reale Bewegung war etwa der Schlesische Weberaufstand 1844, über den Marx ins Schwärmen geriet (Näheres hier), oder der bürgerliche Revolutionsversuch 1848, in denen Marx und Engels maßgeblich intervenierten. Die Abschaffung des Privateigentums und der Kampf um die bürgerliche Demokratie waren für Marx nichts ausschließendes, weil der Republikanismus sich selbst noch uneinig war, ob er sich als Herrschaft der Bourgeoisie oder als Klassenbündnis mit dem Proletariat durchsetzen könne. Es war das Scheitern der bürgerlichen wie der proletarischen Republikaner an der preußischen Reaktion, die Marx nicht nur ins Exil nach London trieben, sondern auch seine republikanischen Tendenzen vorerst begruben.
Die bourgeoise Republik
Ikonischerweise erfolgte Marx’ vorläufige Abkehr vom Republikanismus zeitgleich mit dem Aufstieg eines Symbols, das bis heute das Symbol der Arbeiterklasse ist: der roten Fahne. Während im Juni 1848 die Pariser Arbeiter*innen blutig durch die eigentlich verbündeten Bürger zusammengeschossen wurde, rollten in London die ersten Bögen des „Kommunistischen Manifests“ durch die Druckerpressen. Hier stellte Marx dar, dass das Proletariat das revolutionäre Subjekt sei, während die Republik, deren Subjekt das Volk ist, allenfalls eine kurzfristige Übergangsstufe darstellen könne. Das allgemeine Wahlrecht blieb zwar als Forderung erhalten, aber nur unter dem optimistischen Kalkül, dass dieses unvereinbar mit der bürgerlichen Herrschaft sein müsse und bereits kurzfristig die eigenen engen durch das Privateigentum gesetzten Grenzen sprenge. Leipold interpretiert hier das Manifest als antipolitisch im dreifachen Sinne. Erstens in dem Sinne, dass die zeitgenössische bürgerliche Politik den materiellen Klassenwiderspruch weder erfassen und aufheben konnte. Zweitens in dem Sinne, dass das Proletariat eine autonome politische Sphäre brauche, um die eigenen Interessen zu vertreten und nicht die bürgerlichen Institutionen. Und drittens, dass der Kommunismus die Bewegung zur Aufhebung der Klassen und damit seiner Parteien ist und damit das Politische im bürgerlichen Sinne aufhebt.
Für Marx bedeutete dieser Apolitismus die Aufhebung des politischen Kampfes durch die Wissenschaft von den historischen und gesellschaftlichen Gesetzen. Und diese wurden in Klassengesellschaften bestimmt durch die Form der Aneignung des durch Arbeit geschaffenenen Mehrwerts, der Ausbeutung. Im Kapital bleibt wenig übrig von der Kampfgemeinschaft der Bürger und Arbeiter*innen gegen Despoten. In bildreichen Vergleichen analogisiert Marx die kapitalistische Gesellschaft mit Feudalismus und Sklaverei, wenn sie vom Standpunkt der Arbeiter*innenklasse aus betrachtet werde. Die Objektivierung in der Warenform ist nur der entwickelteste Fetisch über die Herrschaft des Menschen über den Menschen. In den Fabriken Londons, den Arbeitshäusern von Paris oder den Webstuben Schlesiens zeigte sich, dass die Republiken nur bourgeoise Republiken seien: mit der Bourgeoisie als herrschender Klasse, der bourgeoisen Ökonomie als Bestimmendes aller Sphären und einer bourgeoisen Verfassung.
Natürlich wurde diese Ansicht von Republikanern herausgefordert und hier zeigt sich auch das größte Manko der Buches auf. Auf der Suche nach wirklichen Neuigkeiten verbeißt sich Leipold sehr stark in eine Debatte zwischen Karl Marx und Karl Heinzen, die er bisher für unterbeleuchtet hält. Leider wurde diese Debatte selbst so persönlich und oberflächlich geführt, dass sie kaum dazu geeignet ist, alle Facetten der Dialektik zwischen bürgerlicher Freiheitsideologie und der daraus resultierenden realen Ungleichheit der Klassen zu erfassen. Es scheint, dass dieser Zweikampf zwischen Marx und Heinzen mit Recht nur hätte eine Fußnote bleiben sollen. Als roter Faden trägt er nicht.
Die Soziale Republik in den „Klassenkämpfen in Frankreich“
So sehr sich Marx auch gegen die „bourgeoise Republik“ wendet, das Prädikat deutet schon an, dass es durchaus auch andere Formen der Republik gibt und geben kann. So erkennt Marx etwa in royalistischen Republiken die Alleinherrschaft des Bürgertums durch ein Bündnis mit dem Landadel beschränkt. In demokratischen Republiken sei das Kleinbürgertum die führende Klasse, dessen abwechselnd bourgeois- oder arbeiter*innenfreundlichen Tendenzen zu wechselnden politischen Ausrichtungen führten. Die Unpersönlichkeit der „reinen Republik“ habe auch dabei geholfen, konkurrierenden Adelshäusern gleichermaßen einen Anteil an der Herrschaft zu verschaffen. Es gibt aber nur eine Form der Republik, die Marx auch bereit ist, politisch zu verteidigen: die soziale Republik.
Und deren praktische Verwirklichung erkennt Marx in der Pariser Kommune von 1871. In den Klassenkämpfen in Frankreich, in denen Marx die Kommune vor einem erschreckten bürgerlichen Publikum verteidigt, stellt Marx fest:
„Der Bürgerkrieg hat die letzten Illusionen über die „Republik“ zerstört, wie das Kaiserreich die Illusion des unorganisierten „allgemeinen Wahlrechts“ in den Händen des Staatsgendarmen und des Pfaffen. Alle lebenskräftigen Elemente Frankreichs erkennen, daß eine Republik in Frankreich und Europa nur als „Soziale Republik“ möglich ist, das heißt als Republik, die der Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse die Staatsmaschine entreißt, um sie durch die Kommune zu ersetzen, die die „soziale Emanzipation“ offen als das große Ziel der Republik bekennt und so jene soziale Umgestaltung durch die kommunale Organisation garantiert.“ (MEW 17, S.554)
Die Pariser Kommune sieht Marx nicht als Anti-Republik, sondern als eine Republik, deren erklärtes Ziel ihre Selbstaufhebung in der sozialen Emanzipation sei. Eine soziale Republik Frankreich sei eine, in der die Kommunen Frankreichs deshalb nicht von einer zentralistischen Hauptstadt Paris regiert würde, weil sich Paris unter Führung der Werktätigen selbst zur Kommune mache. Die „soziale Republik“ war für Marx noch kein Sozialismus und auch noch keine Diktatur des Proletariats, aber drei politische Formen erkannte er als maßgeblich Übergangsinstrumente an: imperative Mandate, permanente Abwählbarkeit, kurze Legislaturperioden. Auch die Einführung von Volksmilizen anstelle stehender Heere schwäche die Macht der Bourgeoisie.
Leipold arbeitet dazu sehr illustrativ heraus, dass Marxens Begeisterung für die Kommune auch in einem Debattenkontext innerhalb des republikanischen Lagers stand, von denen eine Seite das „Chaos“ der Kommune als Verbrechen gegen den Republikanismus geißelten, während andere im Mut der Kommunarden die zivile Courage zur Durchsetzung einer wahren Demokratie erblickten. Marxens Intervention kann also auch als Positionierung jenseits der Analyse aller realen Widersprüche gewertet werden.
Der Gedanke, dass die soziale Emanzipation als Ziel der sozialistischen Revolution in einer sozialen Republik eines Vorläufers bedarf, ist mehrfach politisch aufgegriffen worden. Demokratische Sozialist*innen, die mehr sein wollen, als linke Sozialdemokrat*innen, berufen sich auf transformative Projekte und Programme. Der Operaismus formulierte in Italien als Reaktion auf die in der Staatsmaschinerie zerriebenen KPI hier ansetzende Gedanken über Autonomie und Multitude. Und auch das Konzept der antimonopolistischen Demokratie der DKP kann als Neuformulierung der Idee Marxens der „Sozialen Republik“ verstanden werden. Und hat Marxens Begeisterung für die Deprofessionalisierung des Staates nicht auch viel mit dem Kommuniarismus gemeinsam? Leipold jedenfalls sieht hier eine Rückbewegung des Marxschen Denkens zum junghegelianischen Geist auf höherer Stufenleiter, wo das Absterben der Staatskaste in der „sozialen Republik“ zur Grundlage des Absterben des Staates wird, anstatt der Staateskaste nur die richtigen Regen vorzuschreiben.
Zusammenfassung
So interessant Marxens Einlassungen zum Republikanismus sind, insbesondere zur „Sozialen Republik“. Die Grätchenfrage beantwortet Leipold leider nicht. Ist die „Soziale Republik“ nach dem Imperialismus überhaupt möglich? Die Frage kann theoretischer Natur gestellt werden, dass Marx die Erweiterungen durch Hilferding und Lenin durch den Abbruch des Kapitals noch nicht vorausdenken konnte. Sie kann historischer Natur gestellt werden: Verhindert die Faktizität des Imperialismus die reale Durchsetzung einer „sozialen Republik“? Oder ist gar Lenins These vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus falsch und er ist nur ein Sonderweg, der von den allgemeinen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus abführte und grundsätzlich eine Übergangsgesellschaft für die Übergangsgesellschaft erlaubt? Was Opportunisten gerne hören möchten, ist selbstredend. Was wahr ist, steht auf einem anderen Blatt.
Citizen Marx ist flüssig geschrieben. Historische Erzählung und Einstiege in zeitgenössische Debatten wechseln sich harmonisch miteinander ab. Ganz nebenbei entwirft Leipold eine thematische Biographie Marxens, sowie eine Vertiefung in das Abiturwissen zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, wenn man es nicht mehr parat hat. Auch liefert das Buch sehr viel Kontext zu den politischen Strömungen, die im Kommunistischen Manifest kritisiert werden und ist daher als Begleitlektüre zu einem Manifest-Lesekreis durchaus empfehlenswert. Den roten Faden spinnt Leipold wunderbar mit dem Dreischreitt aus Republik, bourgeoiser Republik und sozialer Republik. Er kann Relevanz erzeugen, ohne sie durch Kommentare auf aktuelles Geschehen explizieren zu müssen. Allein: etwas Neues findet sich wahrlich nicht im Buch. Weder faktisch, noch ideengeschichtlich. Maximal werden verstaubte Kapitel des Marxschens Denkens neu poliert oder dunkle Ecken beleuchtet. Dennoch ist „Citizen Marx“ in der Shortlist des Deutscher-Preises mit einiger Berechtigung zu finden, vielleicht sogar als Siegertitel.
Literatur:
Leipold, B. (2024): Citizen Marx. Republicanism and the Formation of Karl Marx’s social and political Thought. Princeton: Princeton University Press.
