David Harvey begleitet in die Abgründe der Grundrisse

⋄ Die Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie sind ein Scheiß-Buch: bruchstückhaft, inkonsistent, widersprüchlich, langweilig und schwer verständlich.

⋄ Dennoch kommt Marx der Totalität der kapitalistischen Produktionsweise nirgends näher als in den Grundrissen.

⋄ David Harvey legte jüngst seinen
Companion to Marx’ Grundrisse vor, um die Leser*innen an seiner jahrzehntelangen Erfahrung mit dem Werk teilhaben zu lassen.

⋄ Herausgekommen ist nicht die Art von Begleiter, der einem Gepäck abnimmt, um den Weg zu erleichtern, sondern einer der unterhält, um dem Weg einen Sinn zu geben.

⋄ Harvey überreizt die Grundrisse nicht auf der Suche nach Antworten, sondern trägt dem fragmentarischen Charakter hervorragend Rechnung.
Die schillerndste Person des amerikanischen Marxismus: David Harvey

Die Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx nehmen in dessen Werk etwa die Stellung von Episode 1 im Star Wars-Universum ein. Die alte Trilogie war nicht optimal und enthielt einige Widersprüche, aber man hat sie kennen und lieben gelernt. Sie war in sich stimmig und bot einen fruchtbaren Kanon für ein weitverzweigtes Fandom. Die Grundrisse wurden erst nach dem Kapital rezipiert, obwohl sie zeitlich diesem vorangingen. Sie bilden dessen Ausgangspunkt, aber sie enthalten wesentliche Differenzen und führen viele neue Topoi ein. Einige wirken organisch, andere eher gekünstelt. Am wichtigsten ist jedoch, dass beide den Türöffner für allerlei neue Einflüsse spielten, die stark von der traditionellen Lesart abwichen. Und wie der Star Wars-Traditionalist plötzlich mit Midi-Chlorian-Messungen und Darth Vader als Konstrukteur von C3PO konfrontiert wurde, so öffneten die Grundrisse das Tor für Operaismus oder Wertformanalyse.

Die Grundrisse sind eigentlich nur ein Rohentwurf der Kritik der politischen Ökonomie, den Karl Marx 1857 und 1858 in London anfertigte. Sie waren in dieser Form nicht für die Veröffentlichung bestimmt und wurden erstmals von Karl Kautsky 1903 aus Marx’ Nachlass herausgegeben. Bei der Aufarbeitung hat sich insbesondere der Trotzkist Roman Rosdolsky einen Namen gemacht und wesentlich zur Verbreitung im westlichen Marxismus beigetragen.

Der Stellenwert der Grundrisse ist seit ihrer Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von der einen Seite unterschätzt und von der anderen Seite überschätzt worden. Seit mehreren Jahrzehnten hält der amerikanische Marxist und kritische Geograph David Harvey universitär wie außeruniversitär Vorlesungen und Seminare, die jungen und alten Menschen die Grundrisse näher bringen sollen. Anfang diesen Jahres hat er nun seinen Companion to Marx’s Grundrisse vorgelegt, in welchem er diesen reichhaltigen Erfahrungsschatz bündelte.

Warum man die Grundrisse nicht lesen sollte?

In der Einleitung zu seinem Companion schreckt Harvey die Leser*innen zunächst davon ab, die Grundrisse in die Hand zu nehmen. Das beginne mit der Sprache. Es schreibe hier nicht der Theoretiker Marx oder der Journalist Marx, sondern der forschende, analysierende und lernende Marx. Die Sprache ist eigentlich nur für ihn selbst bestimmt. Der Text sei quasi ein experimenteller Dialog mit sich selbst. Die vorgegebene Struktur werde ständig gebrochen. Argumentationen wiederholten sich bis zur Erschöpfung, würden teilweise wieder verworfen und dafür treten an anderer Stelle Widersprüche auf. Manchmal änderten sich auch innerhalb einer Beweisführung konzeptionelle Ansätze. Der Satz “Damit beschäftigen wir uns später” taucht mehrmals auf. Manchmal wartet man auf die spätere Beschäftigung vergebens. Marx’ wirke wie ein Messi. Er sammle alles, was er in der British Library finden konnte und versuchte, es in seine bisherige Theorie einzuordnen, verwerfe davon aber auch vieles wieder. Hegel und Proudhon stehen neben Ricardo und Smith und vielen heute vergessenen Autor*innen, die vergessen geblieben wären, hätte sie Marx nicht in den Grundrissen erwähnt. Die Grundrisse hintereinander lesen zu wollen, erfordere strenge Disziplin, denn die Durchdringung nur weniger Seiten könne Tage und Wochen benötigen.

Durch alle diese Sachbestände haben die Grundrisse auch nicht nur Gutes in der marxistischen Debatte bewirkt, sondern es war leicht, in ihnen passende Zitate für allerlei stichhaltige oder auch abwegige heterodoxe Lesart zu finden. Einige Autor*innen gingen so weit, die Grundrisse höher zu wichten als das Kapital, wenn es der eigenen Beweisführung dienlich war.

Warum man es tun sollte?

Den Mehrwert der Grundrisse kann Harvey auf einen Begriff bringen: Totalität. Totalität bedeutet, dass der Verwertungsprozess des Kapitals alle Bereiche der Ökonomie, der Politik, der Psychologie und des Umgangs mit der Natur real unter sich selbst subsummiert. Marx fasst alle diese Aspekte als verschiedene Sphären der Zirkulation zusammen: Warenzirkulation, Geldzirkulation, Kapitalzirkulationen, aber auch materielle Zirkulationen. Jede dieser Zirkulationen ist ein Ausdruck des Kapitalverhältnisses. Allerdings bedingen sich alle Zirkulationen und wechselwirken miteinander. Und dies lässt sich im Begriff der Totalität, der wesentlich für die Grundrisse ist, ausdrücken.

David Harvey vergleicht dies sehr treffend mit dem menschlichen Stoffwechsel. Es gibt verschiedene Kreislaufsysteme, die Sauerstoff, Nährstoffe, Botenstoffe, aber auch Informationen im Körper transportieren. Jedes Organ profitiert anders davon und trägt anders dazu bei. Die Medizin hat zwar eine Kategorisierung in Teildisziplinen vorgenommen – Kardiologie, Urologie, Neurologie, usw. –, die den Stoffwechselprozess alle mit unterschiedlichen Methoden und Blickpunkten untersuchten. Letztendlich repräsentieren jedoch alle Kreislaufprozesse eine Totalität des allgemein menschlichen Stoffwechsels. Alles hängt von allem ab. Ein Krebsgeschwür kann in einem gestörten Nervensystem begründet sein. Depressionen können aus Problemen der Darmflora resultieren. Natürlich verführt der Blick in die Totalität dazu, in Beliebigkeit zu verfallen (man denke an die vielen unseriösen Wege der ganzheitlichen Medizin), aber er ist notwendig, um zu begreifen, was in der bürgerlichen Gesellschaft passiert.

Im Kapital trägt Marx dem Umstand der Komplexität und Totalität dadurch Rechnung, dass es so angelegt, dass man es mindestens zweimal lesen muss. Man beginnt beim ersten Lesen mit einem jungfräulichen Warenbegriff, der sich mit der Lektüre entfaltet. Beim zweiten Lesen kann man vom entfalteten Warenbegriff ausgehen und wird Erkenntnisse auf höherer Stufenleiter erhalten. Die Grundrisse hingegen tragen der Totalität durch Rechnung, dass sie fragmentarisch diese immer wieder explizit thematisieren. Deshalb sind die Grundrisse auch eine einzige große Zitatmine. Sie füllen die Lücken, welche das Kapital in seinem Systematisierungsprozess – Marx beschränkt sich im Kapital auf die innere Logik von Produktion, Konsumtion, Realisierung und Distribution des Kapitals und ließ exogene Aspekte weg – aufreißen musste. Beispielsweise der krisenhafte Stoffwechselprozess mit der Natur musste im Kapital (Näheres hier) ausgelassen werden, während sich in den Grundrissen hierzu Verweise finden.

Wie Harvey helfen kann?

Die Grundrisse widersprechen sich nicht nur selbst, sie stehen teilweise auch im Widerspruch zu den für die Veröffentlichung bestimmten Werken wie dem Kapital. Es bedarf einer sehr tiefgehenden Lektüre und umfangreicher Kenntnis des gesamten Marxschen Werkes, sowie der Entstehungsgeschichte der einzelnen Texte, um Analysen der Grundrisse richtig einordnen zu können. David Harvey gibt nun seit mehreren Jahren Kurse zu den Grundrissen, aber auch zu den einzelnen Bänden des Kapitals (siehe Literatur). In dieser Zeit hat er tausende von Fragen seiner Schüler*innen sammeln können. Harvey gibt deshalb nicht nur Einblick in Fragen der Edition, der Entstehungsgeschichte der Grundrisse, Begriffsgeschichten, Querverweise mit der weiteren marxistischen Literatur und des Überblicks über die aufgegriffene Literatur. Harvey zeigt auch auf, welche Fragen man an die Grundrisse überhaupt stellen kann.

Die Anwendung des Buch ist ein wenig der Knackpunkt. Es macht wenig Sinn, dass Buch freiweg von der Leber zu lesen, ohne die Grundrisse hinreichend gut zu kennen. Sich zuerst durch die Grundrisse zu quälen, ist nach Harveys eigener Auffassung ebenfalls unfruchtbar weil Masochismus. Also sollte man es parallel lesen. Aber zu welchem Zweck? Wer die Grundrisse aus akademischen Motiven heraus studiert, dem werden die ersten Kapitel mit allerlei Hintergrundwissen zu Editionen und Wirkungsgeschichte weiter helfen. Aber je länger das Buch wird, desto mehr gerät Harvey ins Anekdotische. Daher ist ist das Buch schon für einen sehr speziellen Leser*innenkreis bestimmt.

Harveys Leitlinien

Was sind nun Leitlinien des Buches? Was erwartet die Leser*in? Harvey ist Zeit seines Lebens nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein unermüdlicher Organisator der Linken in den Vereinigten Staaten und weltweit gewesen. Das spiegelt sich im Buch wieder. Wo es nur geht, versucht Harvey, Brücken zu aktuellen feministischen, ökologischen, antirassistischen und gewerkschaftlichen Diskursen zu schlagen. Es finden sich Verweise auf Covid oder die Wohnungskrise, bis hin zur Industrie 4.0. Das Buch liest sich häufig als Plädoyer dafür, was Marx den sehr diversifizierten sozialen Bewegungen im 21. Jahrhundert noch sagen kann. Zu diskutieren wäre, ob nicht etwas zu viel Kohärenz versucht wird herzustellen. Verkommt Marx hierdurch vielleicht zu einem weiteren Zeugen, den jeder nach Belieben aufrufen kann, ohne eben die substanzielle Kritik am Kapital zu teilen? Weniger tolerant ist Harvey gegenüber den realsozialistischen Systemen, deren innere Widersprüchlichkeit er leider nicht mit der selben Empathie begegnen kann, wie den modernen sozialen Bewegungen. Positiv gewendet greift Harvey immer wieder anschauliche Beispiele aus der politischen, sozialen und ökonomischen Realität heraus, um einzelne Argumentationsstränge zu veranschaulichen. Harvey nimmt hier die Totalität sehr ernst, die sich quasi in allen Beziehungen zwischen Menschen, Natur und Räumen zeigen lässt.

Man sollte allerdings das Kapital gelesen haben, bevor man Harveys Companion liest. Harvey sagt zum Beispiel, dass sich der Kapitalismus von allen anderen Formen der Klassenherrschaft dadurch unterscheide, dass er die lebendige Arbeit direkt ausbeute (S.57). Der Begriff der Ausbeutung wurde jedoch von Harvey noch gar nicht erklärt und lädt daher zu Missverständnissen ein, wenn er nicht schon bekannt ist. Überhaupt würde man sich etwas mehr Foreshadowing auf das Kapital wünschen. Harvey listet einige Fehler auf, die in den Grundrissen enthalten sind, gibt jedoch selten darüber Auskunft, ob die mit ins Kapital übernommen wurden. Während Harvey die Rezeption einiger Fragmente in einer sehr breiten Literaturauswahl des 20. Jahrhunderts darstellt, findet das Spätwerk von Marx wenig Beachtung.

Während manchmal die Anzahl der Referenzen auch ein wenig überfordern, gibt es einige Perlen, in denen Harvey auf einer Seite oder in einem Bild komplexe Argumentation großartig zusammenfasst. Hier denke man an das zweite Schaubild in der Einleitung oder die Definition des Kapitals auf den Seiten 109/110. Das Narrativ des Buches pulsiert quasi, indem es manchmal Kernelemente fokussiert und manchmal den Blick öffnet.

Ein absoluter Trumpf des Buches erscheint zunächst als Mangel. Während Harvey ganz viele Fragen und Probleme anreißt, werden wenige geklärt. Harvey tut den Grundrissen keine Gewalt an, indem er versucht, auf eigene Faust die Widersprüche zu lösen, welche die Grundrisse aufmachen. Anders als Kohei Saito (Näheres hier) benutzt Harvey nicht kleine Textstellen, um aus Marx einen wachstumskritischen Umweltaktivisten zu machen, sondern erläutert die Differenz zwischen dem umweltfeindlichen beobachteten System und Marx’ eigener Haltung, die auf die materielle Überwindung dieser Gesellschaft zielte. Am Ende bleiben die Grundrisse eben, was sie sind: eine Sammlung von Fragen, Exzerpten, Plänen, unvollständigen, unsystematischen und teilweise verworfenen Theoriefragmenten. Und Harvey suggeriert dankenswerterweise nicht, dass sie mehr seien.

Am Ende hat das Buch jedoch auch eine zentrale Message: die Menschen im Kapitalismus mögen all den dargestellten Zirkulationsprozessen zustimmen wollen, weil sie genug Geld und Zeit haben. Sie mögen als revolutionäre Marxist*innen alle verwerfen wollen. Oder sie werden, wie der Großteil der Menschheit, einige Prozesse in Ordnung finden, während sie andere kritisieren. Am Ende sind sie alle Teil der gleichen Totalität. Die Umweltaktivist*in, die sich einer Veränderung des Stoffwechselprozesses zwischen Mensch und Natur verschrieben hat, kratzt an der Totalität der kapitalistischen Gesellschaft, ob ihm das bewusst ist oder nicht, sobald er seine Aufgabe ernst nimmt. Die Totalität der Ausbeutung führt objektiv alle sozialen Bewegungen zusammen, ob sie das subjektiv erkennen mögen oder nicht. Der implizite Vorschlag von Harvey ist folgender: Na, dann lass uns doch gleich zusammenarbeiten.

Zusammenfassung

Der Theoretiker David Harvey wurde für Widersprüche seiner Accumulation by Dispossession an früherer Stelle eingehend kritisiert (Näheres hier). In seinem Companion to Marx’s Grundrisse ist der Lehrer David Harvey voll in seinem Element. Zu den Grundrissen wurde in den letzten fünfzig Jahren unglaublich viel publiziert. Aber man kann sicher einen Case dafür machen, dass Harvey hier das führende Standardwerk vorgelegt hat. Dass Harveys eigener Hintergrund als postdogmatischer, aus der kritischen Geographie stammender und bewegungsorientierter Marxist mit in die Interpretationen einfließt, mag man kritisieren, ist aber nicht vermeidbar. Dadurch, dass der Companion aber selbst einen den Grundrissen angemessenen ergänzenden, fragenden, problematisierenden und diskursiven Charakter trägt, nivelliert sich dieser Einfluss bereits. Durch viele aktuelle Verweise verliert das Buch womöglich an Zeitlosigkeit, aber kann auch die Aktualität vieler Fragen deutlich machen. Wer aus immer welchen Gründen, die Grundrisse studieren muss, wird in Harveys Companion einen wahrhaften Begleiter finden. Es ist jedoch nicht die Art von Begleiter, die einem Gepäck abnimmt und damit den Weg erleichtert. Es ist die Art von Begleiter, der sich mit einem unterhält, damit man nicht vor Langeweile auf dem Weg abstirbt.

Literatur:

Harvey, D. (2023): A companion to Marx’s Grundrisse. London, New York: Verso.

Der Audio-Kurs von David Harvey zu den Grundrissen, sowie zu den Kapitalbänden, findet sich hier: http://davidharvey.org/2020/01/reading-marxs-grundrisse/

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