Der ungleiche Tausch (2/5)

Miniserie zu Value and Unequal Exchange in International Trade (2021)

Was ist Imperialismus?

Manche Länder sind arm, andere reich. Das weiß jedes Kind. Doch warum dies so ist, darüber ist sich selbst die Linke uneins. Rechte sagen, dass es kulturelle Gründe habe und die Menschen in den armen Ländern eben nicht die deutschen Werte Fleiß und Pünktlichkeit teilten. Oder dass die Regierungen in armen Ländern schlicht und einfach korrupt seien und es fehle an Good Governance. Viele Linke hingegen sehen dies als Folge des Imperialismus, wobei die Vorstellungen darüber, was Imperialismus eigentlich ist, weit auseinandergehen. Häufig wird dieser als neue Form des Kolonialismus verstanden: Die westlichen Länder überfallen ein Land und reißen sich die Naturschätze unter den Nagel. Das trifft sich jedoch nicht mit der Wirklichkeit. Auch wenn jetzt BP Öl im Irak fördert, so tut es dies doch mit einheimischen Arbeitskräften, zahlt im Land (ein wenig) Steuern und verkauft das Öl zum Weltmarktpreis. Der häufig unterstellte Raubimperialismus trifft das Problem also nicht. Aber was bedeutet dann Imperialismus?

1972 veröffentlichte der griechisch-französische Ökonom Arghiri Emmanuel das Buch „The Unequal Exchange“ – „Der ungleiche Tausch“, welches zur damaligen Zeit schnell großen Einfluss gewann. Sie passt sich elegant an das Werk von Karl Marx ein und seine Theorie der Bildung der Durchschnitssprofitrate an und erweitert diese auf den Weltmarkt. Angegriffen wurde die Theorie in der Regel von westlichen Kommunist*innen, die sie nicht prinzipiell ablehnten, aber die Implikationen fürchteten. Die anti- und postkoloniale Bewegung griff sie jedoch begierig auf. In Deutschland spielt die Theorie bis heute kaum eine Rolle und es existiert trotz des großen Einflusses des Werks bis heute keine Übersetzung. Die Theorie des ungleichen Tauschs erlebte international in den letzten Jahren mit dem Aufstieg Chinas und der zunehmenden Möglichkeit zur Verarbeitung großer Datenmengen in der marxisitschen Forschung eine Renaissance. Die Grundgedanken des Buches möchte ich nun kurz vorstellen:

Der ungleiche Tausch

Die Grundidee ist sehr einfach: Es gibt keinen Grund, warum sich auf dem Weltmarkt keine allgemeine Durchschnittsprofitrate bilden würde, wenn das Kapital mobil ist. Und Letzteres ist ganz eindeutig der Fall. Chinesische Aktien können genauso in Deutschland gekauft werden, wie argentinische, indische, US-amerikanische oder französische. Häufig bleiben Anleger nur aus Bequemlichkeit und Ortsverbundenheit bei deutschen Unternehmen. Die Durchschnittsprofitrate wirkt dann auf die Profitraten der Länder genauso, wie es Marx für verschiedene Gewerbe eines Landes in Kapital III darstellt. Einzig die Wechselkurse zwischen den Währungen erweitern das Problem.

Unter dem „ungleichen Tausch“ versteht Emmanuel dabei zwei Wirkungen des Welthandels, welche kurz an seinen eigenen Zahlenbeispielen erläutert werden sollen:

Bei seinem etwas weiter gefassten Begriff des ungleichen Tauschs vergleicht er zwei Länder: Land A ist ein Land des kapitalistischen Zentrums mit hoher organischer Zusammensetzung, dass bedeutet viel Technik im Vergleich zu menschlicher Arbeitskraft. Als kapitalistisches Zentrum bezeichnet man die starken Indutriezentren des Westens und Japan. Land B ist ein Land der kapitalistischen Peripherie, wo viel menschliche Arbeitskraft genutzt wird und der Grad an Technik gering ist. Der Begriff kapitalistische Peripherie kennzeichnet die Region, die man auch „Dritte Welt“ nennt, zum Beispiel das China der 80er und 90er Jahre, als es die „Werkbank der Welt“ war:

Die Tabellen sind denen im letzten Beitrag sehr ähnlich. Wer sich also nicht mit der Bildung der allgemeinen Profitrate, den Abkürzungen und der Berechnung auskennt, lese den vorangegangenen Artikel. p´ steht hier für die Profitrate und p für den Profit an sich. P für den Preis, zu dem das Produkt unter regulären Marktbedingungen verkauft werden kann. Dieser wird in Einheiten allgemeiner Arbeitskraft ausgedrückt, was entweder Geld oder Arbeitsstunden entspricht. Land B hat, wie nicht anders zu erwarten eine höhere Profitrate als die Durchschnittsprofitrate – da mehr Arbeitskraft ausgebeutet wird – , Land A eine niedrigere. Soweit ist das nicht überraschend.

Wird unter den Bedigungen eines freien Marktes zu Weltmarktpreisen getauscht, so setzt sich auch die allgemeine Profitrate durch. Da die Durchschnittsprofitrate 25% beträgt, kann Land A 5% draufschlagen, während Land B 8,3% einbüßt. Vergleicht man die Preise, sieht man, dass offensichtlich Wert bzw. Geld im Umfang von 30 Einheiten von der kapitalistischen Peripherie in das Zentrum geflossen sind. Es hat also Raub stattgefunden, obwohl kein Raub stattgefunden hat. Allein durch das Wirken der Durchschnittsprofitrate hat die Peripherie kostenlos für das Zentrum gearbeitet. So entsteht ein Wertfluss von der Peripherie ins Zentrum, von der die imperialistischen Zentren profitieren und für den die Peripherie die Rechnung bezahlt.

Emmanuel betrachtet allerdings noch eine zweite Form des ungleichen Tauschs. Diesmal sind die organischen Zusammensetzungen gleich, jedoch ist die Mehrwertrate unterschiedlich, etwa indem in der kapitalistischen Peripherie die Löhne niedriger sind. Als praktisches Beispiel stellen wir uns einen Konzern wie VW vor, der zwar die gleiche Fabrik wie in Deutschland in Rumänien baut, dort aber nur 1/5 der Löhne zahlt. Wir schauen uns das neue Schema an:

Auch hier passiert auf den ersten Blick nichts verwunderliches. Da die Arbeitskraft in Land B weit mehr ausgebeutet wird, ist auch die Profitrate entsprechend höher. Aber durch das Wirken der Durchschnittsprofitrate

erzielt Land A eine deutlich höhere Profitrate und fast zwei Drittel des eigentlich in Land B erzielten Profits werden in Land A erzielt. Um noch einmal zu verdeutlichen, was hier passiert: Niedrige Löhne in der Peripherie steigern die Profitraten im Zentrum ganz unmittelbar über den Weltmarkt. Die Bourgeoisie in Land A hat ein direktes Interesse an niedrigen Löhnen in Land B, selbst wenn sie in Land B garkeine Firma besitzen, sondern nur zu Weltmarktpreisen mit diesem Land handeln. Da es sich bei den Werten um Quanta abstrakter Arbeit handelt, ist dabei auch vollkommen egal, ob in Land B landwirtschaftliche Erzeugnisse angebaut werden, die Rohstoffe geplündert oder in Fabriken produziert wird. Das Märchen, dass Investitionen in der Peripherie helfen, diese zu entwickeln, enttarnen sich als Märchen, da der erzielte Gewinn gerade nicht im Land bleibt, sondern ins Zentrum abfließt.

Implikationen

Diese beiden Schemata führen zu einigen Implikationen über das Verhalten imperialistischer Ländern, von denen jede*r selbst entscheiden kann, ob sie/er sie in der realen Politik wiedererkennt:

Die Resultate sind ganz erstaunlich und ich habe sie mal in überspitzter Form dargestellt:

1. Da in Land B weniger Kapital akkumuliert wird, stehen diesem Land weniger Ressourcen zur Finanzierung staatlicher Sozial-, Bildungs- oder Infrastruktur zur Verfügung. Die Folgen: Diese Länder bleiben rückständig und der Rückstand zum Zentrum wird sogar immer größer. Ohne staatliche Sozialsysteme werden die Klassenwidersprüche größer. Menschen müssen sich auf andere Solidaritätssysteme stützen, etwa Fürsorgesysteme von Warlords oder extremistischer Verbände. Die Bürgerkriegsgefahr steigt. Menschen wenden sich von der Moderne ab, da sie begreifen, dass sie in der kapitalistischen Moderne vor allen Dingen für die Zentren arbeiten und bekämpfen auch die positiven Aspekte der kapitalistischen Moderne, etwa Frauenemanzipation oder Freiheitsrechte.

2. Die Zentren hingegen erhalten mehr Waren als sie selbst erarbeiten oder an Waren eintauschen. Die durch die steigende organische Zusammensetzung tendenziell sinkende allgemeine Profitrate kann auf Kosten der Peripherie hoch gehalten werden. Dies ist einer der Gründe, warum der tendenzielle Fall der Profitrate empirisch nur global nachzuweisen ist, aber nicht in den einzelnen Ländern der Zentren.

3. Der zusätzlich in die Zentren geflossene Wert kann dort unter den Klassen verteilt werden. Die Bourgeoisie kann so immer noch gute Gewinne machen, auch wenn sie Zugeständnisse an die Arbeiter*innen machen muss. Die Klassenkämpfe werden milder, der Klassenkompromiss wird auf Kosten der kapitalistischen Peripherie organisiert.

4. Es stehen mehr Gelder für die staatliche Verteilung zur Verfügung. Dies ist für das Kapital enorm wichtig, wenn es die Produktivität der Arbeiterschaft weiter steigern möchte. Wird die Arbeitskraft durch das Kapital zu stark beansprucht, kann sie andere Funktionen der Reproduktion nicht mehr in der Freizeit erledigen, etwa Angehörige pflegen. Übernimmt der Staat jedoch diese Aufgaben oder bezuschusst er sie, kann die Arbeitskraft so stark genutzt werden, als ob diese keine weiteren Verpflichtungen zur Reproduktion hätte. In Indien wäre es nicht möglich, die Arbeitskraft so stark zu nutzen oder auch alle Frauen dem Kapital zugänglich zu machen, da hier der Staat nicht die Mittel besitzt, Kinder-, Alten- und Krankenpflege mit zu übernehmen. Der Extramehrwert ist also eine Bedingung für eine höhere Produktivität.

5. Die staatlichen Gelder können natürlich auch zum Aufbau der Militärmacht in den Zentren genutzt werden, die dafür sorgen, dass entweder über militärische Interventionen freie Märkte erzwungen werden können, wo sich Länder weigern oder um Insituttionen wie den IWF zu finanzieren, der Ländern Kredite genehmigt, unter der Voraussetzung, dass sie ihre Märkte öffnen.

6. Der Verkauf der Ware über den Wert erlaubt es Land A auch, bei Bedarf den Preis ihrer Waren zu ihrem Wert abzusenken, um konkurrenzfähig zu sein und damit unliebsame Konkurrenz im Ausland auszuschalten. Beispielhaft können wir hier den Argrarsektor anführen, wenn durch den Export verbilligten, durch Subventionen gestützten Getreides die einheimischen Bauern in den Ruin getrieben werden.

7. Die Arbeit in Land B wird entwertet, die Arbeit in Land A wird überwertet. In einer Gesellschaft, in welcher Gesellschaft über abstrakte Arbeit und Waren vermittelt wird, sinkt somit auch der Wert der Menschen. Dies führt zum Beispiel dazu, dass angenommen werden kann, dass ein der kapitalistischen Peripherie zugeschriebener Mensch als Besitzer*innen einer geringerwertigen Arbeit gilt, da dies im weltweiten Tausch seine Berechtigung findet. Etwas mehr dazu im letzten Artikel dieser kleinen Serie.

8. Dass die Zentren überhaupt über den technischen Vorsprung verfügten, durch höhere organische Zusammensetzung die kapitalistische Peripherie extraauszubeuten, hat seinen Ursprung in der Beraubung der einstigen Kolonien. So lebt der Kolonialismus in seinen Konsequenzen bis heute weiter, auch wenn es keine Kolonien mehr gibt.

9. Rückläufige Effekte würden entstehen, wenn das Proletariat selbst mobil wäre und sich den Ort des höchsten Wertes ihrer Arbeitskraft suchen könnte. Damit das Schema wirken kann, wie es das tut, muss das Kapital mobil sein, die Arbeitskraft darf es aber nicht. Daher hat das Kapital auch ein Interesse (welches zugegebermaßen im Widerspruch zum Interesse des Kapitals an billigen Arbeitskräften steht) an geschlossenen Grenzen und ein „Deutschland den Deutschen“. So kosmopolitisch, wie sich das Kapital gern gibt, ist es nicht.

10. Das Ziel des Imperialismus ist allein die Ausdehnung des Weltmarktes, d.h. der kapitalistischen Sphäre, in der bürgerliches Recht und Warenfreiheit herrschen. Imperialistische Länder müssen keine Kolonien mehr direkt ausbeuten. Sie müssen Länder nicht länger als nötig besetzen. Sie haben ein ernsthaftes Interesse an Menschenrechten und Freiheit, da Menschenrechte im Wesentlichen das Recht beinhalten, frei über die eigene Arbeitskraft zu entscheiden und damit freie*r Lohnarbeiter*in zu sein, die entsprechend des Schemas ausgebeutet werden können. Imperialisten können es also ehrlich mit ihren Werten meinen und trotzdem Profit herausschlagen.

11. Das revolutionäre Subjekt wäre nicht mehr in den kapitalistischen Zentren zu suchen, sondern in der Peripherie, da das Proletariat vom Imperialismus profitiert. Dies wurde bereits in den 60er Jahren gegen Emmanuel eingewandt. 50 Jahre später sehen wir, dass das Proletariat in den Zentren tatsächlich nationalistischer geworden ist. Man sollte daraus nicht schließen, dass das Proletariat der imperialistischen Länder keine Revolution machen könne, aber es hilft zu verstehen, warum a) die nationalistische Ideologie des Proletariats eine materialistische Grundlage in der globalen Wirtschaft hat und b) dass Kommunist*innen tatsächlich ideologische Arbeit gegen die Tendenzen des Kapitals zu tun haben. Sie können eben nicht am Alltagsverstand der Menschen ansetzen, insofern es die Nationalökonomie betrifft, sondern nur dort, wo es das direkte Ausbeutungsverhältnis betrifft.

Kritik

Natürlich gab es auch einige Kritik an den Gedanken Emmanuels und diese möchte ich hier kurz andiskutieren:

1. Gerade die westlichen Kommunisten und Marxisten lehnten das Schema ab, da die politischen Konsequenzen als desaströs erschienen. Die Arbeiterklasse der kapitalistischen Zentren hätte gemeinsam mit der Bourgeosie eine Interesse am Imperialismus. Das revolutionäre Subjekt wäre also nicht mehr im Proletariat der Zentren zu suchen, sondern im Proletariat der Peripherie. Aber dies hätte einen erheblichen Bedeutungsverlust für die kommunistischen Parteien des Westens bedeutet. Nun kann eine Kritik jedoch nicht halten, wenn sie rein normativ ist. Und beobachten wir die Konsequenzen nicht tatsächlich, auch wenn es uns schmerzt?

2. Viele Theoretiker*innen begründen die Lohn-, Profit- und Lebensqualitätsunterschiede lieber mit Produktivitätsunterschieden zwischen den Ländern. Dazu muss gesagt werden, dass eine höhere Produktivität den Wert der Ware Arbeitskraft nicht steigert, sondern senkt, da die Waren zur Reproduktion preiswerter werden. Überhaupt wird die Arbeitskraft ja nicht nach ihrer Produktivität bezahlt, sondern nach der Höhe der Kosten für die Reproduktion, was ein Unterschied ist. Der sich einstellende Effekt ist die Entstehung von Wettbewerbsvorteilen durch die produktiveren Länder, was nichts anderes ist als eine andere Formulierung des ungleichen Tauschs. Oder wie bereits Emmanuel im Einklang mit Marx feststellte: „Intensivere Arbeit schafft mehr Gebrauchs- und mehr Tauschwert, produktivere Arbeit schafft mehr Gebrauchswert, aber nicht mehr Tauschwart,“ (Emmanuel 1972, S.100)

3. Die gewichtigste Kritik ist sicher die, dass der Welthandel nicht den Umfang am BIP der einzelnen Länder habe, um so weitreichende Implikationen zu rechtfertigen. Diese Kritik war zu Emmanuels Zeiten sicher berechtigter als heute. Damals war ein gewichtiger Teil der Erde dem Weltmarkt entzogen und der Kapitalismus hatte sich noch nicht so totalitär durchgesetzt wie heute. Doch auch, wenn der Anteil des Außenhandels am BIP gering wäre, was er nicht mehr ist, wissen wir zunächst nicht, wie groß ihre Wirkung ist. Für kommunizierende Röhren in der Physik ist es egal, wie groß die Verbindung zwischen den einzelnen Gefäßen ist, um das hydrostatische Paradox zu erzeugen. Dennoch brauchen wir empirische Untersuchungen, um die Wirkung des ungleichen Tauschs belegen zu können. Und genau dazu möchte ich im nächsten Beitrag eine Studie vorstellen, die für mich die erhellendste des letzten Jahres war.

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