Grenzbereiche des Marxismus

⋄ Neben Gabriel Winant und Ilya Budraitskis wurden auch Silvia Federici und Kolja Lindner für den diesjährigen Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preis nominiert.

⋄ Silvia Federici behauptet in
Patriarchy of the Wage, dass Marx das informelle Bündnis aus Bourgeoisie und männlichen Arbeitern unterschätzt hätte.

⋄ Das Buch fasst einige Beiträge Federicis aus ihrer Zeit als „Lohn für Hausarbeit“-Aktivisitin zusammen.


⋄ Kolja Lindner untersuchte in
Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism, ob die Theorie von Karl Marx eurozentristisch gewesen ist.

⋄ Er zeigt auf, dass es erhebliche Unterschiede zwischen Früh- und Spätwerk gibt.
Wie eurozentrisch ist die marxistische Bewegung?

Zum Abschluss der kleinen Serie über die Nominierungen des diesjährigen Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preises sollen die letzten beiden Bücher kurz angerissen werden, welche die Jury in Betracht gezogen hat. Bei beiden Büchern handelt es sich um um die Teilmenge von Marxismus und anderen linken Diskursen. Silvia Federici wollte ausloten, was der Marxismus dem Feminismus sagen kann und was nicht. Kolja Lindner stellte sich die Frage, ob der Marxismus eurozentristisch sei und wenn ja, was an ihm.

Silvia Federicis “Patriarchy of the Wage”

In Silvia Federicis Patriarchy of the Wage versammeln sich diverse Essays, die über die Jahre im Rahmen ihrer aktiven Arbeit für die “Lohn für Hausarbeit”-Kampagne verfasst hat. Sie hält dabei die Kritik der politischen Ökonomie durch Karl Marx zwar für anschlussfähig bis notwendig, um wichtige theoretische Fragen der feministischen Bewegung zu klären. Sie bezichtigt Marx jedoch, das informelle Bündnis aus Bourgeoisie und männlichen Arbeitern, die über den Lohn die Reproduktion innerhalb der Familie kontrollieren können, übersehen zu haben. Einher ginge die doppelte Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft durch die Männer beider Klassen, deren Folgen für die Betroffenen teils schwerwiegender seien als die durch den Kapitalismus. Nur eine radikale Veränderung des Arbeitsbegriffs durch die Entlohnung aller produktiven und reproduktiven Tätigkeiten könne Frauen aus ihrer doppelten Unterdrückung befreien und gleichzeitig ein fragiles Männlichkeitsverständnis beheben. Eine zweiter Fokus liegt auf der Ungleichheit zwischen dem entwickelten kapitalistischen Zentrum und der Peripherie.

Patriarchy of the Wage ist das ein Werk der Aktivistin Federici, nicht der Theoretikerin. Und wie eine Aktivistin auf der Suche nach Bündnispartnern zwischen den politischen Strömungen verhandeln muss, so laviert sich das Buch zwischen Marxismus und den verschiedenen Schattierungen des Linskradikalismus hindurch. Die Geländegewinne eines Lohns für Hausarbeit werden auf einer sehr abstrakt-philosophischen beschrieben, eine Auseinandersetzung auf der spannenderen konkreten Seite findet leider kaum statt. Es wäre zum Beispiel interessant, wie dieser Lohn gezahlt werden solle: über eine staatliche Umlage oder direkt aus der Tasche des Kapitalisten. Nur die Beantwortung solcher Details ließe am Ende ein qualifiziertes Urteil zu, ob die Herrschaft der Bourgeoisie damit tatsächlich angegriffen würde. Überhaupt kommt der historische Materialismus, zu dem Federici durchaus schon Nennenswertes beigetragen hat, zu kurz. Die Marxschen Texte werden bestenfalls im Wortlaut interpretiert, jedoch nicht aktiv und kreativ angewandt. Einige Behauptungen über die Marxsche Theorie sind darüber hinaus schlichtweg falsch.

Während Federicis Buch Caliban und die Hexe zwar den ein oder anderen fachlichen Mangel aufwies, aber dennoch eine originelle und konsistente Erklärung der Entstehung des modernen Sexismus im Zeitalter der frühen Neuzeit zustande brachte, ist dieses Buch eher ein theoretischer Selbstbedienungsladen, aus dem das Narrativ stützende Fragmente beziehungslos aneinandergereiht werden. Man könnte Patriachy of the Wage sogar als Gegenerzählung zum Deutscher-Preis-Gewinner Gabriel Winant lesen, der an Hand ganz konkreter Lebensberichte eher nahelegte, dass Männer wie Frauen gleichermaßen vom Ausbeutungsregime des Kapitals betroffen seien. Für das Buch spricht letztendlich, dass es die Ansichten einer Linken, deren Lebenswerk ohne Zweifel Anerkennung verdient, auf wenig Raum dokumentiert. Leider trivialisiert es die marxistische Debatte um Race, Gender und Klasse so stark, dass es kaum mehr als Vertreter der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gezählt werden kann.

Kolja Lindners “Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism”

Mit Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism tritt der Autor Kolja Lindner nach eigenen Aussagen allen auf die Füße. Den postkolonialen Theorien attestiert er eine zu starke Identifikation mit mit ihrem Untersuchungsgegenstand, zu dem sie – festgemacht am Beispiel der “islamolinken” Bewegung – die kritische Distanz verlören. Aber auch orthodoxe Marxist*innen würden einen Eurozentrismus Marxens verneinen, da ihre Geschichtsteleologie, nach der am Ende aller Klassenkämpfe der die Menschheit einende Kommunismus stünde, in Frage gestellt werden könnte. Nur einige Historiker*innen hätten Lindner Beifall bekundet.

Dabei ist das Buch durchaus lesenswert. Die absolute Stärke ist die detaillierte Auseinandersetzung mit einigen fast in Vergessenheit geratenen Schriften von Karl Marx zu Fragen des Kolonialismus. So zum Beispiel seine Notizen zu Indien, die sich über einen Zeitraum von 30 Jahren angesammelt haben. Auf Grund dieser Quellenstudiums kommt Lindner zu einem schlüssigen Befund, ob Marx eurozentrisch dachte. Die Kritik am vermeintlichen Eurozentrismus Marxens beruht nach Lindner auf der zu starken Gewichtung des Frühwerks, als er sich mit weniger Quellen, weniger Erfahrung und einer weniger entwickelten Theorie in Ausübung seiner journalistischen Tätigkeiten internationalen Themen widmete. Wer allerdings das Spätwerk, zum Beispiel die zahlreichen Referenzen aus den ökonomischen Werken, vergleicht, wird feststellen, dass nicht nur Marx seine Ansichten gewandelt hat, sondern auch ein Gespür für den gesellschaftlichen Wandel in den Kolonien entwickelte. Auch die falschen Parteigänger, die versuchten, Marx gegen den Vorwurf des Eurozentrismus damit zu verteidigen, dass dies eben damals intellektuelle Mode gewesen sei, hätten die Entwicklung Marxens, mit der sich Marx aus der zeitgenössischen Mode heraus über die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Revision seiner Ansichten gekommen sei, übersehen. Darüber hinaus sind Lindners Auseinandersetzungen mit Vivek Chibbers Kritik am Postkolonialismus und der globalen Arbeitsteilung im 21. Jahrhundert fundierte Beiträge zur aktuellen Debatte.

Das Buch hätte also richtig gut sein können, wäre da nicht dieses furchtbare Kapitel über den historischen Materialismus. Zusammen mit Urs Linder griff Kolja die Vorstellung einer epistemologischen Wende bei Marx auf, der sich in den 1850er Jahren von der Philosophie, und damit auch der Geschichtsphilosophie ab- und der politischen Ökonomie zugewandt habe. Damit verbunden sei auch eine Abkehr vom historischen Materialismus. And das könnte nicht falscher sein. Die Beschäftigung mit der politischen Ökonomie war nichts anderes als der angewandte historische Materialismus für die bürgerliche Gesellschaft. Eine so künstliche Trennung von Ökonomie und Philosophie übersieht den entscheidenden Kern des historischen Materialismus: dass die Philosophie den Stand der Produktionsverhältnisse widerspiegelt. Um die Philosophie einer Epoche oder eines Raumes zu verstehen, muss man ihre Reproduktionsverhältnisse analysieren und nichts anderes macht Marx im Kapital. Dieses sehr merkwürdige Missverständnis Lindners tritt in den anderen Kapiteln zwar nicht so stark auf, färbt dennoch ab.

Aber am besten wäre es, jede*r bilde sich da eine eigene Meinung. Das Buch besticht vielleicht nicht durch die Sprache, die sehr im Akademischen verbleibt, aber doch durch detaillierte Beobachtungen und spannende Auseinandersetzungen und man kann es daher mit Vorbehalt empfehlen.

Zusammenfassung

Gabriel Winants The Next Shift wurde dieses Jahr völlig zu Recht von der Jury zum Gewinner des Isaac-Deutscher-Preises gewählt. Das Buch wendete mit der Theorie der ungleichen Entwicklung des Proletariats die marxistische Theorie originell an, unterlegte sie mit soziologischer Empirie, konnte eine konsistente Erzählung entwickeln und blieb für alle interessierten Menschen durch die perönlichen Berichte gut lesbar.

Die Bücher Federicis, Budraitskis und Linders hingegen sind eher lose Aufsatzsammlungen, die eher durch die Thematik oder den Autor*innennamen bestechen, als durch einen wegweisenden Beitrag zur marxistischen Theorie. Vielleicht hätte man auch ein Werk wie Machover und Farjouns How Labor Powers the Global Economy in Betracht ziehen können, gewissermaßen als Anerkennung für die gesamte Entwicklung der probalistischen marxistischen politischen Ökonomie. Wer im nächsten Jahr über ein preiswürdiges Werk stolpert, kann einen Vorschlag gerne unter deutscherprize@gmail.com einbringen. Ohne Hinweise an die Jury kann diese auch nicht alles im Blick haben.

Literatur:

Federici, S. (2021): Patriarchy of the Wage. Notes on Marx, Gender and Feminsim. Oakland: PM Press.

Lindner, K. (2022): Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism. Cham: Palgrave.

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