⋄ Auch wenn der psycho-soziale Ansatz in der Gesundheitssoziologie bereits gesellschaftliche Ungleichheiten thematisiert, hat er viele Leerstellen. ⋄ Der Entfremdungsansatz nach Marx hilft, diese Leerstellen zu schließen. ⋄ Emil Oversveen und Conor A. Kelly stellen im Scandinavian Journal of Public Health diesen Ansatz einem Mainstream-Publikum vor. ⋄ Entfremdung ist nach Marx ein Stadium verlorenen Bewusstseins für sich selbst, seine Gattung, die Gesellschaft und die Natur. ⋄ Sie stellen hierbei einige empirische Studien zu Entfremdung, Klasse und Gesundheit vor. |
„Eine Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.“ lässt im Film The Country Girl Drehbuchautor George Seaton den Sänger Bing Crosby sagen. Alltag im Kapitalismus, das heißt vor allen Dingen Entfremdung. Entfremdung von anderen Menschen, wenn man in seiner Büroparzelle Aufträge abarbeitet; Entfremdung von der Arbeit, wenn Druck und Fremdbestimmung jede Tätigkeit zur Last werden lassen; Entfremdung von der Natur, wenn einem eigentlich egal ist, woher Essen und Kleidung kommen, Hauptsache sie sind bezahlbar. Es wird kaum verwundern, dass so ein Dauerzustand krank machen kann.
Im Scandinavian Journal of Public Health entwarfen Emil Oversveen und Conor A. Kelly einen kurzen Abriss über die Entfremdungstheorie in der Gesundheitspsychologie. Sie arbeiteten Leerstellen des klassischen psycho-sozialen Ansatzes heraus und zeigten auf, wie marxistische Theorie in der Lage ist, diese zu füllen.
Psycho-sozialer Ansatz
Nach den beiden Autoren wirke der psycho-soziale Ansatz zunächst einigermaßen progressiv. Er postuliert, dass soziale Ungleichheit zu Angst, Stress, Depressionen und anderen gesundheitsschädlichen mentalen Zuständen führen könne und zöge so eine kausale Linie zwischen sozialer Position und Gesundheit. Nach dem Schema von Elstad führe die ungleiche Verteilung von Stress und ein problematisches soziales Umfeld Betroffener zu emotionalem Distress, welcher sich auch auf das vegetative System auswirken könne. Typische Einflüsse seien hier materielle Entbehrungen, Arbeitsstress, Autonomieverlust, das Fehlen sozialer Anerkennung und Diskriminierungserfahrungen.
Der psycho-soziale Ansatz werde jedoch gerade von materialistischer Seite aus kritisiert. So konzentriere sich dieser zu stark auf den subjektiven sozialen Status und individuelle Erfahrungen, anstatt systemisch zu denken. Zugespitzt könnte man formulieren, dass hier victim-blaming betrieben werde, bei dem den Betroffenen die Schuld für ihre Krankheiten gegeben werde. Es werde suggeriert, dass mit work-life-balance-Seminaren und Awarenesskursen strukturelle Defizite überwunden werden könnten. Die Ursachen für die soziale Ungleichheit würden bewusst als politische Frage ausgeklammert. Daher näherten sich einige kritische Gesundheitspsychologen dem Konzept der Entfremdung von Karl Marx an.
Entfremdung
Der Begriff der Entfremdung entstammt dem Marxschen Frühwerk. Am tiefsten wurde er in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten ausgearbeitet, die 1844 geschrieben, aber erst in den 1930er Jahren veröffentlicht wurden. Ganz allgemein könnte man die Entfremdung als ein Stadium verlorenen Bewusstseins für sich selbst, seine Gattung, die Gesellschaft und die Natur beschreiben. Dieser Bewusstseinsverlust rühre aus der Trennung der Menschen von den Mitteln ihrer Reproduktion, sei es zunächst mittels der Aneignung des Bodens oder später durch die Aneignung der produzierten Waren durch eine herrschende Klasse.
Muss beispielsweise ein Mensch seine Arbeitskraft verkaufen, um die Waren für seine unmittelbare Reproduktion zu erhalten, verliert er das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen sich und den produzierten Waren. Während er möglichst effektiv und gründlich in der Freizeit Arbeiten für sich selbst erledigt, versucht er in der Lohnarbeit möglichst die Intensität der Arbeit zu verringern, da ihm die produzierten Produkte ohnehin nicht gehören. Er verliert auch das Bewusstsein dafür, welche anderen Arbeiten für eine Ware nötig waren, sodass ihn beispielsweise die Kinderarbeit in Cobaltminen nicht mehr interessiert. Auch der Raubbau an der Natur und die Vernutzung endlicher Ressourcen erscheint ihm als ein fremdes Problem, sodass er ökologische Maßnahmen nur als unnötigen Ballast wahrnimmt. Politische Entscheidungen wirken abstrakt, da sie nur sehr vermittelt überhaupt etwas mit seiner Lebenswirklichkeit zu tun haben.
Das Ganze kulminiert in der Entfremdung vom Gattungswesen Mensch. Dabei ist unter Gattungswesen keinesfalls ein idealisiertes Bild eines Menschen gemeint, wie er sein soll, sondern ein hypothetischer Mensch, der nicht mehr entfremdet lebt oder anders gesagt: dessen individuelle Interessen nicht mehr feindlich zu denen der Gesamtgesellschaft stehen. Hierzu sei nach Marx die materielle Grundlage, also die organisierte und planvolle Produktion nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten aller Menschen notwendig.
Vermittlung von Gesellschaft und Krankheit
Oversveen und Kelly weisen darauf hin, dass Karl Marx in seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten beschrieben habe, wie konkrete Prozesse am Arbeitsplatz zur Entfremdung der Arbeiter*innen von sich, ihrem Umfeld und ihren Arbeitserzeugnissen führten. Die beiden Autoren führten hier eine Reihe von Studien an, welche die positiven Effekte von Gegenstrategien belegten: Autonomie, Bedeutsamkeit, Einflussmöglichkeiten und Jobsicherheit seien als gesundheitsförderlich nachgewiesen. Ebenso sei empirisch der Zusammenhang zwischen Entfremdungserfahrungen, Klasse und mentaler Gesundheit nachgewiesen. Der explizit politische Gehalt dieser Ergebnisse sei der, dass viele Gegenstrategien die Autonomie des Kapitals beeinträchtigen würden und dass Erfahrungen erfolgreichen Widerstands sich psychologisch positiv auswirkten.
Eine Antwort auf das „Nordische“ Paradoxon
Nach den beiden Autoren habe der psycho-soziale Ansatz auch nie eine Antwort auf das psychosoziale Paradox gefunden. Denn eigentlich müsste mehr Wohlstand und weniger soziale Ungleichheit auch zu einer gesünderen Bevölkerung führen. Empirisch beobachtet man aber, dass es gerade die nördlichen „sozialdemokratischen“ Gesellschaften sind, in denen sich mentale Probleme häuften. Die Entfremdungstheorie kann hier zur Erklärung beitragen, da sie nicht einen absoluten Maßstab an Reichtum ansetzt, sondern die sozialen Beziehungen an sich problematisiert. Stellten wir uns beispielsweise eine Gesellschaft im nur zehn Kapitalisten und zehn Millionen Arbeiter*innen vor, so wäre die soziale Ungleichheit kaum spürbar. Die Entfremdungstheorie problematisiert aber, wessen Gesellschaft eine Gesellschaft ist, wer das Kommando hat und wer folgen muss, sowie, dass soziale Beziehungen nur noch in ihrer Vermittlung über die Warenwelt hergestellt werden. Sie verwirft das Konzept eines unproblematischen egalitären Kapitalismus, sondern zeigt auf, dass die auch in besonders in „Wohlstandsgesellschaften“ staffindenden Entfremdungsprozesse gesundheitsschädlich sind.
Grundsätzliches
Als dritten Verdienst der Entfremdungstheorie sehen die Autoren den Aufbau eines breiteren Analyserahmens für die Ursachen psychischer und physischer Krankheiten an. Während der psycho-soziale Ansatz zwar in ökonomischen Ungleichheiten die Ursache für bestimmte Krankheiten erkennt, fragt der Entfremdungsansatz, warum diese Ungleichheiten überhaupt krank machen und wie sie entstehen. Der psycho-soziale Ansatz hingegen naturalisiert soziale Ungleichheiten und erklärt sie zum allgemein menschlichen Wesensmerkmal. Die Angst vor dem Jobverlust ergibt jedoch erst dann pathologisch Sinn, wenn man weiß, dass mit der Möglichkeit, ausgebeutet zu werden, materielle Grundlagen, die soziale Stellung und der von der Gesellschaft zugeschriebene Nutzen, einhergehen. Kontrollverlust durch soziale Einschnitte ergibt mehr Sinn, wenn er im Kontext des Kontrollverlusts einer ganzen Klasse über die Grundlagen des eigenen Lebens gesehen wird.
Exkurs:
Im Artikel wurde auf einige Studien verwiesen, in denen versucht wurde, mit Hilfe analytischer Studien empirische Erkenntnisse über den Zusammenhang von Klasse, Entfremdung und Gesundheit zu finden. Ein paar interessante Erkenntnisse aus diesen möchte ich hier kurz noch einschieben.
Jeremy E. Sawyer und Anup Gampa haben 2020 in einer Studie mit über 200 Teilnehmer*innen bestätigt, dass Entfremdungserscheinungen weit stärker mit der objektiven Klassenposition (Verfügung über Produktionsmittel, etc.) als mit der subjektiven (eigene Einschätzung). Operationalisierbare Entfremdungserscheinungen waren bei Lohnarbeiter*innen weit stärker ausgeprägt, als bei Kleinbürger*innen, unabhängig von ihrer Finanzsituation. Zudem fanden sie heraus, dass Entfremdung mit Klassenbewusstsein und Klassenbewusstsein mit Aktivismus korrelieren. Beides wäre aus theoretischer Sicht erwartbar und findet in der Studie auch seine Bestätigung.
Amanda Shantz, Kerstin Alfes und Catherine Truss haben in einer Studie unter 227 Arbeiter*innen einer führenden britischen Plastikfabrik herausgefunden, dass sich aus fehlender Mitbestimmung und wahrgenommener Bedeutungslosigkeit speisende Entfremdungserfahrungen sehr stark (p<0.01) mit mentaler und physischer Erschöpfung korrelieren.
2021 testeten Magdalena Soffia, Alex J Wood und Brendan Burchell die Thesen aus David Graebers „Bullshit Jobs“ empirisch. Auch wenn sie bestätigten, dass das Fehlen von beruflicher Bedeutung sich negativ auf die Gesundheit auswirkt, so fanden die Autor*innen nur wenige Arbeiter*innen in den von Graeber genannten Bullshit Jobs, die ihren Job als bedeutungslos empfanden. In der Finanzbranche etwa erachteten mehr „Angestellte“ ihren Job als wichtig als im produzierenden Bereich. Es stellte sich heraus, dass die konkreten Einflussmöglichekeiten am Arbeitsplatz einen viel größeren Einfluss auf Entfremdungserfahrungen und Krankheit hatten, als die Stellung des Jobs in der Gesellschaft. Dies belegt die Marxsche Theorie der Entfremdung, dass die Bedeutung der eigenen Tätigkeit für die gesamte Gesellschaft für Arbeiter*innen kaum mehr eine Rolle spielt.
Zu allen drei Studien muss natürlich kritisch, dass einige der Messmethoden aus marxistischer Sicht problematisch sind. Entfremdung ist eine objektive marxistische Kategorie, die sich aus einer totalen Wirklichkeit der kapitalistischen Vergesellschaftung ergibt. Operationalisierte Umfragen, die versuchen, Entfremdung zu skalieren, können einer solchen Totalität kaum gerecht werden. Im Laufe der nächsten Wochen wird auch nochmal ein Artikel erscheinen, der sich kritisch mit Grenzen und Potentialen des „analytischen Marxismus“ auseinandersetzt.
Zusammenfassung
Das Erfrischende an dem Aufsatz von Oversveen und Kelly ist, dass er nicht in einem der eher linken soziologischen, politikwissenschaften oder ökonomischen Journale erschienen ist, sondern in einem Medium des akademischen Mainstreams. Da es sich um einen einführenden Aufsatz handelt, fehlt hin und wieder die Tiefe, welche die marxistische Kritik an der Entfremdung – Stichworte Freudomarxismus, kritische Psychologie, etc. – bereits erreicht hat. Dennoch werden wichtige Aspekte einer ganzheitlichen linken Kritik des bürgerlichen Gesundheitssystems angeteasert. Abschließend erweist sich auch die Literaturliste des Aufsatzes als kleine Fundgrube für empirische Erkenntnisse zur Auswirkung der Entfremdung in bürgerlichen Gesellschaften auf die mentale Gesundheit.
Literatur:
Øversveen, E. & Kelly, C. (2022): Alienation: A useful Concept for Health Inequality Research. In: Scandinavian Journal of Public Health. Jahrgang 27. S.1-6.
Soffia, M; Wood, AJ & Burchell, B. (2021): Alienation is not ‘bullshit’: an empirical critique of Graeber’s theory of bs jobs. In: Work, Employment and Society.
Sawyer, J. & Gampa, A. (2020): Work alienation and its gravediggers: social class, class consciousness, and activism. In: Journl of Social and Political Psychology, Ausgabe 8. S.198–219.
Shantz, A; Alfes, K & Truss C. (2014): Alienation from work: Marxist ideologies and twenty-first-century practice. International Journal of Human Resource Management, Ausgabe 25. S.2529–2550.