⋄ Die Didaktik des Marxismus steht trotz des Status als Staatsdoktrin an chinesischen Schulen und Universitäten vor einigen Herausforderungen. . ⋄ Die Distanz zu anderen Disziplinen und die Überpolitisierung durch parteinahe Kurse haben bei Studierenden das Interesse kläglich gemindert. ⋄ Ma Mengting erklärte, wie sie an der Univsität von Nanchang junge Menschen wieder für die marxistische Arbeitswerttheorie begeistern will. ⋄ Zum einen behandelt sie den Mehrwert vor dem Wert, weil auch historisch der Mehrwert viel eher entstand und damit anschaulicher ist, als der abstrakte Wert. ⋄ Zum anderen nutzt sie das Computerspiel „Don’t Starve!“, um die Vergleichung unterschiedlicher konkreter Arbeiten durch ein gemeinsames Zeitmaß zu veranschaulichen. |
Viele haben vielleicht ehemalige Bürger*innen der DDR über Staatsbürgerkunde in der Schule und „Emm Ell“ an den Universitäten stöhnen hören. Im schlechtesten Fall haben für nichts anderes taugliche Opportunisten die Fächer unterrichtet und jedes Argument der Klassiker auf reine Floskeln heruntergebrochen. Im besten Falle macht der Sozialismus selbst die marxistische Gesellschaftskritik überflüssig. Warum sollte man sich durch die Feinheiten der Arbeitswertlehre und die Kritik an der Profitorientierung durcharbeiten, wenn die Bedürfnisse des Menschen im Vordergrund stehen und Geld seine gesellschaftliche Funkion geändert hat? Aber das gilt nur im besten Fall.
Auch in der Volksrepublik China stellen sich solche Probleme. Der Sozialismus ist Staatsdoktrin und die Kommunistische Partei führt das Land. Nichts desto trotz lässt sich mit großen Konzernen eine Menge Geld verdienen, wenn man ganz klassisch volkswirtschaftlich die Ökonomie anfasst. Wozu also noch Marx büffeln? Weil es vorgeschrieben ist. Aber wir Interesse wecken, wenn man Marx weder für höhere Gewinne anwenden kann, noch die Rekommodifizierung der Gesellschaft allzu scharf kritisieren darf? Ma Mengting schrieb über die Probleme bei der Didaktik der Arbeitswertlehre und ihren Ansatz zur extrinsischen Motivation.
Geringes Interesse am Marxismus in China
Die Autorin arbeitet am Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften der Universität von Nanchang in der Provinz Jiangxi, einer alten roten Hochburg im chinesischen Bürgerkrieg, aus der Mao den Langen Marsch antrat. Als Expertin für Marxismus ist Ma Mengting darauf spezialisiert, die Studierenden in der Kritik der politischen Ökonomie zu unterweisen und verfügt über Erfahrungen auf allen Ebenen der akademischen Ausbildung. Jeder Studierende besucht Vorlesungen und Seminare in Grund-, Kern- und Fortgeschrittenenbereichen, von denen einige Veranstaltungen verpflichtend und die anderen fakultativ sind. Als Grundkurs müssen Studierende „politische Ökonomie“ belegen, im Kernbereich „Geschichte der Ökonomie“ und im Fortgeschrittenenbereich „Das Kapital von Marx“. Dazu gibt es wahlweise Kurse zur Geschichte des ausländischen und chinesischen ökonomischen Denkens, wie zu aktuellen Grenzbereichen der politischen Ökonomie, bei denen allen Marxismus in irgendeiner Form eine zentrale Rolle spielt. Das ist allerdings nur der Bereich, der direkt vom ökonomischen Lehrstuhl angeboten wird. Hinzu kommen ideologische und politische Kurse in gleichem Umfang, die jedoch für alle Studierenden verpflichtend sind und nicht nur die politische Ökonomie umfassen.
Das Problem illustriert Ma Mengting an einer kleinen Umfrage, die sie unter ihren Studierenden durchgeführt hat. Demnach belegt die politische Ökonomie den Spitzenplatz unter den am wenigsten relevanten Disziplinen. Als Gründe gibt sie verschiedene an. Erstens werde die marxistische Theorie in aller Regel isoliert von den anderen Theorien unterrichtet. Marxistische Kritik soll nicht ins Gespräch mit klassischen oder keynesianistischen Theorien treten, um diese zu dekonstruieren, sondern wird als etwas nicht anwendbares betrachtet. Zweitens sei das Fach überpolitisiert. Da der Marxismus im Wesentlichen aus ideologischen Gründen unterrichtet werde und nicht als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung, würde er von vielen Studierenden als lästige Pflichtübung empfunden. Drittens herrschten durch die praktische Dominanz klassischer bürgerlicher Theorien so viele Vorurteile hinsichtlich verschiedener Begriffe der Marxschen Theorie, dass ihre Funktion gar nicht erkannt werde. So sahen fast 84% der Studierenden das Kapital als eine Kritik an ungerechter Verteilung an und als zukünftige Ökonomen sahen sie konsequenterweise die Aufgabe einer gerechten Verteilung als das der Politiker und nicht als ihre an.
Ma Mengting sah es nun als ihre Aufgabe an, die marxistische Theorie als ein Mittel der Erkenntnisgewinnung, als eine Mittel der adäquaten Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Studierenden greifbar zu machen und damit die kritischen Perspektiven des Marxismus offen zu legen.
Fallstricke der Arbeitswertlehre
Dabei gibt es aber auch ganz praktische Herausforderungen. Über den Charakter des Arbeitswertes gibt es schließlich innerhalb der marxistischen Theoriebildung sehr unterschiedliche Auffassungen. Sie reichen von einer monetären Theorie auf der einen Seite, bei der als Wert nur das anerkannt wird, was auch getauscht wird und wo eine Ware noch keinen Wert hat, bevor sie nicht die Zirkulationssphäre durchlaufen hat. Das andere Extrem gesteht der Ware immer einen Wert zu, wenn in dieser Arbeit vergegenständlicht ist, wobei die Menge der anerkannten Arbeit und der zugehörige Preis unabhängig vom Arbeitswert wechseln können. Für sie ist Wert ein Begriff der Produktionssphäre. Zwischen monetären und substanzialistischen Auffassungen gibt es darüber hinaus eine breite Palette an verschiedenen Strömungen, die sich alle irgendwie auf Passagen von Marx und Engels stützen können.
Angesichts der nur geringen vorhandenen Kapazitäten ist es nun unmöglich, Studierenden in den jüngeren Semestern mit den entsprechenden Debatten zu konfrontieren, die sich ja auf die Korrespondenz aller Kapital-Bände zusätzlich zu Interpretationsstützen aus den Grundrissen beziehen. Ihr Ansatz, die Arbeitswertlehre zu verdeutlichen, beruht zunächst auf der Änderung der Darstellungsfolge von Wert und Mehrwert. Bevor der gesellschaftliche Charakter der abstrakten Arbeit diskutiert werden könne, müsse erst die Bedeutung des auch individuell fassbaren Mehrwerts verstanden werden. Das ist keinesfalls eine neue Erfindung. Ma kann sich unter anderem auf Ernst Mandels Marxistische Ökonomische Theorie stützen, der ähnlich vorging.
Es gibt drei gute Gründe für diese didaktische Entscheidung. Erstens ist es für Anfänger sehr schwer verständlich, warum beim Tausch von Waren die abstrakte Arbeit das Tertium comparationes sein soll und nicht ein irgendwie abstrakter Nutzen. Während die abstrakte Arbeit immer zwei oder mehr Waren braucht, um ihren Begriff zu erzeugen, kann der Unterschied zwischen Wert und Mehrwert auch an Hand einer einzelnen Ware dargelegt werden, wodurch solche Fehlkonzepte verhütet werden. Zweitens geht Marx in seiner Darstellung zwar bekanntermaßen vom abstrakten zum Konkreten. Aber nur, weil Marx es so dargestellt hat, muss man nicht zwangsläufig so denken und didaktisch wird in aller Regel der andere Weg beschritten. Zuerst untersucht man die konkreten Formen eines Gegenstands, um sich dann an die allgemeineren Begriffe heranzutasten. Insbesondere wenn wir das Konzept von Lernenden als Forschende zugrunde legen, müssen wir auch sagen, dass Marx als Forschender ebenso den Weg vom Konkreten zum Abstrakten beschritten hat. Und drittens entspricht der Gang vom Mehrwert zum Wert auch der historischen Genese der abstrakten Arbeit. Während die allgemeingültige abstrakte Arbeit erst ein Produkt des entwickelten Kapitalismus ist, existiert der Mehrwert, seit es Klassengesellschaften gibt; nur in konkreter Form. Der Bauern musste jeweils den Zehnten für den Grundherren und den Klerus über den eigenen Bedarf erwirtschaften, lange bevor er diesen Mehrwert in Form von Steuern entrichten musste, was häufig der Auslöser der ursprünglichen Akkumulation und der Entstehung des Proletariats war.
Bitte hunger nicht!
Allein diese didaktische Unterscheidung steigert noch nicht das Interesse am Thema. Da die Ökonomie nach Marx ihre Robinsonaden liebe, führte Ma Mengting die Wertlehre mit dem Computerspiel „Don’t Starve!“ ein. Das Spielprinzip ist ziemlich simpel. Einer von mehreren verschiedenen Charakteren wird einer zufällig generierten Wildnis ausgesetzt und muss sich mit Nahrungsmittelanbau, Schutz vor Feinden und dem Erhalt der geistigen Gesundheit schützen. Das Spiel wurde mit einer Comicgrafik versehen und enthält einige witzige Elemente. Der Spieleinstieg erfolgt sehr unvermittelt und das Spielprinzip lernt sich intuitiv. Die Spielfigur kann sich ihren simulierten Tag frei für verschiedene Arbeiten einteilen, wobei sie natürlich schlafen und ruhen muss, aber auch in der Dunkelheit nur bestimmte Tätigkeiten verrichten kann. Wenn ein Bedürfnis über eine gewisse Dauer nicht befriedigt wurde, wirkt sich das negativ auf die Gesundheit, das Arbeitskraftpotential und am Ende auch auf das Überleben aus.
Drei Prinzipien der Marxschen Theorie sollen dabei verdeutlicht werden. Erstens können mannigfaltige konkrete Arbeiten anhand der benötigten Arbeitszeit verglichen werden. Ein Gegenstand, wie eine selbstgezimmerte Axt wird für den Spieler wertvoller sein, als das Glas Wasser, da die Reproduktion der Axt mehr Zeit und Ressourcen zum Ersatz benötigt als das Glas Wasser, wenn gleich man sagen könnte, dass Wasser zum Überleben wichtiger sei als eine Axt. Zweitens wird deutlich, dass ein Mensch innerhalb einer Zeitspanne mehr Güter produzieren kann, als er zum unmittelbaren Überleben bzw. zur Reproduktion auf gleichem kulturellen Niveau benötigt. Dieser Mehrwert ist der Bestandteil neu geschaffener Güter, der in einer Klassengesellschaft von der herrschenden Klasse angeeignet werden kann. Drittens werden aber auch eine Reihe übergeordneter Marxscher Prinzipien deutlich. Während für das Individuum natürlich eine geradezu unendliche Anzahl an Möglichkeiten besteht, irgendetwas zu tun, gibt es gerade zu Beginn nur wenige praktikable Tätigkeiten, welche das dauerhafte Überleben sicherstellen. Erst mit einer erhöhten Produktion und der Vergegenständlichung vorangegangener Mehrarbeit zu effektiveren Produktionsmitteln, gibt es wirklich reale Auswahlmöglichkeiten, zwischen verschiedenen sinnvollen Optionen zu wählen. Dass Freiheit somit etwas gesellschaftliches ist, dass auch an ein bestimmtes Produktionsniveau geknüpft ist, um nicht von denen Launen der Natur abhängig zu sein, wird greifbar.
Natürlich wird das Spiel in eine breitere Diskussion eingebettet. Ma Mengting beginnt etwa über die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen, die der bekannte chinesische Milliardär Jack Ma während seiner Laufbahn eingenommen hat. So verkaufte er als Lehrer seine Arbeitskraft, um an Geld zu kommen, damit er sich Lebensmittel kaufen kann und repräsentierte die Kapitalseite W-G-W. Als Unternehmer hingegen kaufte er Arbeitskraft, um Waren herstellen zu lassen und diese für mehr Geld zu verkaufen, was den entgegengesetzten Prozess G-W-G’ repräsentiert. Damit will die Lehrerin zeigen, dass Kapital nicht einfach eine Geldsumme, und mag sie noch so groß sein, ist, sondern ein Prozess der Verwertung, der auf dem Arbeitsprozess beruht.
Von W-G-W zu G-W-G‘
Da seit 2016 auch ein Kooperationsmodus für Don’t Starve! Zur Verfügung steht, lässt sich die Anwendung auch erweitern. So können etwa verschiedene Spieler ihre produzierten Güter miteinander tauschen und den Tauschprozess analysieren. Viele Schüler werden ganz intuitiv ihre Güter nach dem benötigten Zeitaufwand tauschen, da ein Spieler andernfalls einen massiven dauerhaften Vorteil erringt, während der andere hungert. Es lässt sich auch eine Arbeitsteilung simulieren, bei er ein Spieler alle Produktionsmittel besitzt und die anderen Spieler für sich arbeiten lässt. Dabei ist zu erkennen, dass der Kapitalist auf die Reproduktion seiner Arbeiter*innen achten muss und dies die untere Schranke des Lohns darstellt, dass aber jede verausgabte Ware über diesem Wert den Gewinn des Spielers schmälert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die geistige Gesundheit durch anspruchsvollere Tätigkeiten schneller aufgebraucht wird und somit auch mehr Regenerationszeit gegeben werden muss.
Das ließe sich rein theoretisch noch weitertreiben zu verschiedenen konkurrierenden Kapitalisten mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung etc., aber natürlich handelt es sich hier um einen Einsteigerkurs. Was Mengting noch simulieren lässt, ist eine entwickelte sozialistische Gesellschaft mit einem bereits erschaffenen Reichtum an Produktionsmitteln, deren gemeinsame Verausgabung aber demokratisch beschlossen werde. Damit kommt sie final nochmal zum Sinn des historischen Materialismus und warum die Produktivkräfte so einflussreich auf Ideologie und materielle Freiheit sind. Wenn die Schüler dahin gebracht würden, dass sie die übrig gebliebenen Szenarien selbst entweder praktisch im Spiel oder theoretisch in der Diskussion bewältigen, wäre das natürlich ein Erfolg des Lernprozesses.
Zusammenfassung
Wie in der Abbildung 2 zu sehen, scheint der Ansatz nicht nur die Motivation zu wecken, sondern tatsächlich fehlerhafte Vorstellungen über die Werttheorie erfolgreich zu addressieren. Besonders im Analytical Marxism wurde die Spieltheorie auch zu Forschungszwecken benutzt, um die Ebenen von Makro- und Mikroökonomie zu verknüpfen. Und die Lernenden forschen hier mit ähnlicher Methode. Natürlich ist es schon ein Urteil über den Stand des Klassenbewusstseins in China und die Verbreitung sozialistischer Prinzipien im Alltagsleben, wenn verstärkt zu didaktischen Kniffen gegriffen werden muss, um bei Schüler*innen Interesse zu wecken. Aber immerhin gibt es Lehrer*innen, die das versuchen und diesen Genoss*innen ist der bedauernswerte Zustand offenbar selbst bewusst, dass sie Kritik üben. Allerdings war es auch bereits in der Sowjetunion und in der DDR nicht einfach, die Massen wie die Eliten für marxistische Theoriebildung zu gewinnen.
Literatur:
Ma Mengting (2025): Teaching the Labor Theory of Value in China: Addressing Challenges with Effective Methods. In: Review of Radical Political Economics. Online First. DOI: 10.1177/04866134241312257.