Die internationale Forschungsstelle DDR

Die Frage, was die DDR war, ist allein in Deutschland schwer genug. Während die Bourgeoisie die offensichtlichen Mängeln einseitig zum Wesenskern des einzigen sozialistischen Staats auf deutschem Boden erklärt, sind sich auch Marxist*innen in ihrem Urteil nicht einig. Einige stellen den progressiven Charakter eines kostenlosen Gesundheitssystems, des durchlässigen Bildungssystems, der Arbeitsplatzgarantie oder der preisgünstigen Lebensmittel und Mieten heraus, andere bemängeln die anderen die unzureichende Integration der Arbeiter*innenklasse in die politischen Prozesse, staatliche Repression oder die Beschränkung von Bürgerrechten wie der Reisefreiheit.

Im internationalen Kontext ist die Frage sogar weitaus komplizierter. Die DDR war in ihrer Außenpolitik nicht souverän, sondern orientierte sich gezwungenermaßen an der Sowjetunion. Doch zahlreiche Menschen aus der kapitalistischen Peripherie und Semiperipherie, sowie daus den staatssozialistischen Ländern lernten die DDR auch von innen kennen. Die bürgerliche Forschung konzentriert sich zwar momentan auf Abschottung und rassistische Alltagserfahrungen, im persönlichen Kontakt scheinen jedoch eher die positiven Erfahrungen an die DDR zu überwiegen. Zudem kann man sich schwer vorstellen, dass neben der Sowjetunion auch die DDR ein Fluchtpunkt zahlreicher Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Südamerika war.

Um eine vom bürgerlichen Ideologieapparat unabhängige Instanz zur Erforschung des wechselvollen Verhältnisses von DDR und dem nichtimperialistischen Ausland, wurde die internationale Forschungsstelle DDR gegründet. Sie arbeitet in Partnerschaft mit dem Tricontinental Institute for Social Research, das mit klangvollen Namen wie Jeremy Corbyn oder Vijay Prashad verbunden ist. Eine kleiner Abriss über das Institut und seine bisher veröffentlichten Schriften.

Die inhaltliche Ausrichtung der Forschungsstelle

Sich mit der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik auseinanderzusetzen, heißt in Deutschland, auf eine Wand aus festgefahrenen Meinungen über die zu treffen. Daher hat sich die internationale Forschungsstelle DDR etwas anders aufgestellt. Zunächst veröffentlicht sie Studien, die auch für ausländische Leser*innen, vornehmlich aus der kapitalistischen Peripherie oder Semiperipherie, geeignet sind. Das Institut bietet daher seine Beiträge vielen Sprachen an, darunter Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Griechisch, Persisch und Hindi. Das zweite Standbein ist die Untersuchung der internationalen Beziehungen der DDR, auch hier vornehmlich zum globalen Süden. Hier betrachtet sie staatliche wie gesellschaftliche Akteure, Wirtschaftsverträge und Solidaritätsaktionen.

Die Forschungstelle bewertet die Geschichte der DDR im historischen Kontext der Nachkriegsgesellschaft und des Systemgegensatzes zur BRD. Sie analysiert “die Funktionsweise wesentlicher gesellschaftlicher Bereiche: die Wirtschafts- und Arbeitsorganisation, das Gesundheitswesen, das Rechtssystem, die Landwirtschaft, das Bildungswesen und anderes mehr”. Ein drittes Standbein ist ein Oral History-Projekt, indem Zeitzeugen aus der Funktionärsebene, aber auch einfache Bürger*innen über den Alltag in der DDR berichten. Auch diese Interviews werden in mehrere Sprachen übersetzt und mit Untertiteln versehen.

Die Struktur der Forschungsstelle

Den Kern der IF DDR bildet eine Gruppe junger Geisteswissenschaftler*innen. Die Veröffentlichungen basieren zum Einen auf dem Studium der vorhandenen Forschungsliteratur, aber auch auf einer großen Anzahl von Zeutzeugeninterviews mit Akteuren aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Forschungsstelle arbeitet hierbei in enger Kooperation mit dem Tricontinental Institute for Social Research, dessen Direktor der indische Historiker und Aktivist Vijay Prashad ist. Dieses Institut verfolgt einen pluralen sozialistischen Ansatz, der alle Versuche der Überwindung des Kapitalismus gleichberechtigt und in den jeweiligen Kontext eingebettet betrachtet. Die Geschichte der DDR ist dem Institut aus Gründen der konkreten Praxis, als Untersuchungsfeld für sozialistische Aufbauversuche unter erschwerten Bedingungen und wegen der historisch gewachsenen Verbindungen zwischen postkolonialen Bewegungen und dem zweiten deutschen Staat wichtig. Als wissenschaftlicher Beirat berät das Tricontinental die Forschungsstelle zu Anforderungen und Interessen der Leser*innen des globalen Südens, um übersetzte Studien, Artikel und Videos zielorientiert veröffentlichen zu können.

Das Institut finanziert sich durch Kooperationen, Veröffentlichungen in Zeitungen wie der jungen Welt und Spenden. Hinzu kommt ein großes Maß an ehrenamtlicher Tätigkeiten. Sie ist ein Projekt der gemeinnützigen GmbH Connexus International. Sowohl Träger als auch Forschungsstelle haben ihren Sitz auf der Frankfurter Allee Berlin.

Die Studien: “Auferstanden aus Ruinen”

Die Studie “Auferstanden aus Ruinen” ist eine Art Gegenerzählung zu herrschenden Auffassung der Geschichte der DDR. Betont wird das politische Selbstbild der DDR als Arbeiter- und Bauern-, sowie als Friedensstaat. Die Schilderung der Probleme des wirtschaftlichen Aufbaus der frühen Jahre ist lesenswert, konsistent und nachvollziehbar. Es werden Zusammenhänge zwischen der außenpolitischen Isolation, der Systemkonkurrenz, den ökonomischen Ausgangsbedingungen und pragmatischen Entscheidungen erklärt. Der Widerspruch, dass die DDR sich zum einen als sozialistisches Land verstand, zum anderen aber als kleines Land mit vergleichsweise fortgeschrittener Industrie noch in den Weltmarkt integriert bleiben musste, wird an vielen Beispielen herausgearbeitet. So war es üblich, dass die kapitalistischen Zentren nur dann Produktionsanlagen verkauften, wenn sie Anteile am Betrieb und damit eine finanzielle Entgeltung aus der laufenden Produktion erhielten. Da die DDR-Führung aber verhindern wollte, dass das Kapital Fuß fasste, musste sie die Produktionsanlagen nicht nur sofort, sondern auch überteuert kaufen. Das Handelsembargo auf Eisen zwang die DDR zu eigener sehr aufwendiger Produktion, die mit den großen Umweltkosten verbunden waren.

Zu den internationalen wirtschaftlichen Beziehungen werden die beiden Punkte hervorgehoben, dass die Solidaritätsarbeit ein von den Massen getragenes Phänomen gewesen sei und die Aufbauarbeit der DDR im Trikont anders als die Entwicklungshilfe des Westens das Ziel des Aufbaus einer eigenen Industrie in den jeweiligen Ländern verfolgte. Durch diese Politik konnte die DDR jedoch keine Extraprofite generieren, wie die kapitalistischen Zentren.

Die Hauptkritik des Textes an der Politik der DDR ist der Vorrang der Konsumgüterproduktion im Rahmen der “Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik” vor einer harmonischen Sektorenentwicklung. Dieses Narrativ ist auch unter marxistischen Ökonom*innen und Historiker*innen nicht ganz unumstritten, welche teilweise die eigentlichen Probleme bereits früher verorten. Insgesamt werden Kontroversen über die Geschichte und Ökonomie eher umgangen, um die Lesbarkeit dieses Einstiegstextes auf Kosten der Vollständigkeit zu wahren. Auch wenn die Studie kritische Momente wie politische Repression, eine Überinstitutionalisierung der Solidaritätsarbeit oder Ereignisse wie den 17. Juni 1953 ausspart, ist sie sehr lesenswert, da die alternative Erzählung der DDR-Geschichte nicht nur sprachlich, sondern auch optisch angenehm lesbar ist. Was die bundesdeutschen Lehr- und Geschichtsbücher aussparen, wird hier erzählt, sodass die Studie als ergänzende Literatur eine Nische füllt.

Die Studien: “Sozialismus ist die beste Prophylaxe!”

Die Studie zum Gesundheitswesen der DDR versucht sich nun an etwas mehr Tiefgang. Am Anfang des Ärztewesens in der DDR stellte sich ein fundamentales Problem. 45% aller Ärzt*innen waren Mitglieder der NSDAP gewesen, manche von ihnen nahmen an den Euthanasieaktionen teil, unterfütterten die rassistische Ideologie mit pseudowissenschaftlichen Belegen oder beteiligten sich an den Verbrechen in den Konzentrationslagern. Da die gesundheitliche Versorgung in einem zerstörten Land jedoch ein akutes Problem darstellte, musste die DDR alle Mediziner*innen weiterbeschäftigen, die sich keiner unmittelbaren Verbrechen schuldig gemacht hatten. Dennoch blieb die Abwanderung von Ärzten, die in der BRD mit ihren besseren Entwicklungsbedingungen und einer Aufrechterhaltung des Standesdünkels lockten, bis 1961 ein gravierendes Problem.

Prinzipiell unterschieden sich die Gesundheitssysteme der BRD und DDR in der Frage der Finanzierung kaum voneinander. Die Kosten wurden aus Sozialversicherungsbeiträgen und Mitteln des Staatshaushalts bestritten. Unterschiede waren die Zentralisierung, die Synergieffekte mit sich bringen sollte, die prinzipielle Kostenfreiheit der medizinischen Versorgung und die Einbettung der Betriebe und Schulen in die Gesundheitsprophylaxe. Gerade der letzte Punkt machte den Kontrast zum Gesundheitssystem der kapitalistischen Länder deutlich: Während sich dort der Lohnabhängige selbst um die Aufrechterhaltung seiner Arbeitskraft kümmern muss, sah die DDR die Gesundheit der Menschen als gesamtgesellschaftlichen Auftrag an.

Das Symbol der DDR-Gesundheitspolitik ist sicher die Poliklinik. In dieser waren mindestens vier verschiedene Fachbereiche unter einem Dach vereint, was die ambulante Versorgung erleichterte und Wege verkürzte. Gegner*innen halten entgegen, dass die nötige Hauptverwaltung einer Poliklinik die ökonomische Freiheit der niedergelassenen Ärzte beeinträchtige. Da die DDR den kleinbürgerlichen Strukturen ohnehin den Kampf angesagt hatte, schlug sie hier zwei Fliegen mit einer Klappe. Das Problem, dass zentrale Polikliniken eventuell lange Fahrtwege verursachten, wurde mit einer hohen Dichte des medizinischen Angebots auch auf dem Land behoben. Mit einem Arzt pro 414 Einwohner*innen im Jahre 1989 belegte die DDR einen internationalen Spitzenplatz.

Doch auch Probleme werden in der Studie benannt. Importmedikamente waren auf Grund des chronischen Devisenmangels oft nicht erhältlich. Der Ausbau der Konsumgüterindustrie nach 1971 führte dazu, dass der Verschleiß an Gebäuden und Material nicht mehr adäquat behoben werden konnte. Die Engpässe führten zu politischen Auseinandersetzungen darum, wie diese am besten politisch zu bewältigen seien. Die Studie hält fest:

“Die Frage allerdings, welche krankheitsverursachenden Bedingungen wesentlich angegangen werden konnten und sollten, war teilweise umstritten. Mit Maßnahmen zur Aufklärung und Förderung gesunder Lebensweisen sollten beispielsweise insbesondere Probleme wie Übergewichtigkeit, Alkoholmissbrauch, Mängel im hygienischen Verhalten und die Zunahme des Rauchens bei Jugendlichen bekämpft werden. Von Sozialmedizinerinnen und -medizinern wurde diese Fokussierung auf Verhaltensfragen gegenüber der Verbesserung allgemeiner sozialpolitischer Rahmenbedingungen mitunter in Frage gestellt und kritisiert.”

Internationale Forschungsstelle DDR (2022): „Sozialismus ist diebeste Prophylaxe!“. S.21.

Hier will die Studie darauf aufmerksam machen, dass es in der DDR durchaus auch kontroverse Diskussionen gab. Die abschließende Bewertung, dass das Gesundheitssystem der DDR einen Ausweg aus den Widersprüchen der Klassengesellschaften weise, kann allerdings nur in einer weiten Interpretation geteilt werden. Die Widersprüche zwischen Bevormundung des Einzelnen und gesamtgesellschaftlichem Auftrag gab es und sie werden bis heute auch kritisch wahrgenommen. In dem Sinne, dass ein Gesundheitssystem selbst unter wenig optimalen Bedingungen leistungsfähig und für alle zugänglich sein kann, wenn es nicht nach Profitinteressen organisiert wird, hat die Studie jedoch vollkommen Recht

Demnächst soll eine Studie zur Landreform in der DDR erscheinen.

Zusammenfassung

Die internationale Forschungsstelle DDR ist noch im Aufbau und das merkt man auch. Kritiker*innen werden anmerken, dass sie ein zu positives Bild der DDR vertritt: wo bleiben Rassismus, Antisemitismus und Repression? Warum nichts über 1953, 1961 oder 1989? Wenn man so an das Institut herangeht, tut man ihm in vielerlei Hinsicht Unrecht. Je tiefergehender die Studien sind, desto besser gelingt es, die Widersprüche und Probleme der DDR herauszuarbeiten. Zum Verständnis der Widersprüche tragen die Extremsituationen aber erst bei, wenn man auch den politischen und historischen Kontext kennt. Wir haben uns bereits so sehr daran gewöhnt, die DDR nicht ohne 1953, 1961 oder 1989 denken zu dürfen, dass selbst als Sozialist*innen dieser Mangel auffällt. Aber über diese Jahreszahlen schreiben und forschen alle. Die Forschungsstelle interessiert sich eher für 1946, 1963 oder 1971. Diese Zahlen sind weniger bekannt, tragen aber zum Verständnis der DDR nicht weniger bei.

Das wirklich faszinierende an der Forschungsstelle ist tatsächlich die Verbreitung ihrer Studien in den globalen Süden über das Tricontinental-Institut. Man kann sich kaum vorstellen, dass die DDR hier immer noch Vorbild ist und zwar für Millionen. Dass die Erinnerungen ehemaliger Gastarbeiter*innen dort nicht 30 Jahre ideologisches Dauerfeuer gefärbt sind, sondern sich an den realen Bedingungen vor Ort messen. Dass von einem kostenlosen Gesundheitssystem oder subventionierten Plattenbauten geträumt wird, anstatt sich auf die Einschränkung der Reisefreiheit zu konzentrieren, die ohnehin an den Geldbeutel gebunden ist.

Ja, über die DDR muss ehrlicher und kontroverser gesprochen werden. Doch ehrlicher und offener bedeuten eine Abkehr von der aktuellen Dämonisierung. Dazu leistet die internationale Forschungstelle DDR ihren Anteil.

Links:

Website: https://ifddr.org

Facebookseite: https://www.facebook.com/IFDDR/

twitter: https://twitter.com/_ifddr

Trocontinental: https://thetricontinental.org/

Literatur:

Internationale Forschungsstelle DDR (2022): „Auferstanden aus Ruinen“. Selbstverlag.

Internationale Forschungsstelle DDR (2022): „Sozialismus ist die beste Prophylaxe!“. Selbstverlag.

Hinweise:

Die Forschungsstelle freut sich immer über Spenden, die steuerlich absetzbar sind: https://ifddr.org/ifddr/spenden-2/

Die Forschungsstelle benötigt noch Hilfe, um die Videos zum Alltag in der DDR zu transkribieren und in Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Hindi mit Untertiteln zu versehen. Interessierte können sich hier melden: kontakt@ifddr.org