⋄ Am 22. Januar 2018 starb die Science Fiction- und Fantasy Autorin Ursula K. Le Guin. Zum Anlass besprechen wir eines ihrer Hauptwerke The Dispossessed (dt. Freie Geister). ⋄ Der Roman soll dabei wie ein Experiment behandelt werden, indem Experimentieranordnung, Durchführung und Auswertung beschrieben werden. ⋄ The Dispossessed diskutiert hierbei die Frage, was passiert, wenn eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung in notdürftig subsidäre Produktionsverhältnisse geworfen wird. ⋄ Le Guin beschreibt, wie eine kollektivistische Moral die Funktion von Regierung und Gesetz übernimmt, aber auch wie zentrale Planung eine Notwendigkeit wird. ⋄ Das Versprechen absoluter individueller Freiheit kann erst unter fortgeschrittenen Produktionsverhältnissen erreicht werden, in denen Knappheit kein Problem mehr darstellt. |
Im vorangegangenen Artikel wurde die historisch-materialisische Science Fiction als ein regelbasiertes Gedankenexperiment beschrieben, welches das Mittel der Fiktion nutzt, um Erkenntisse zu gewinnen, die ohne sie nicht möglich wären. Das ist natürlich reichlich abstrakt und verlangt nach Anwendung. Ein erstes Fallbeispiel soll Ursula K. Le Guins The Dispossessed (dt. Freie Geister) sein. Der Roman zählt als einer der Klassiker, nicht nur der linken, Science Fiction. Ursula K. Le Guin starb am kommenden Sonntag vor fünf Jahren.
In dieser Rezension soll jedoch nicht über die literarische Qualität geurteilt werden, die zweifelslos beeindruckend ist. Figurenentwicklung, World Building, Sprache; all dies ist andernorts bereits hinreichend besprochen worden. Im Sinne der obigen Definition soll der Roman als Experiment im engen Sinne verstanden werden. Ein Experiment hat zunächst einmal äußere Umstände, von den das Zielpublikum erfahren sollte. Dazu zählt in der Belletristik zweifelsohne die Autor*in und deren Hintergrund. Zweitens ist die Experimentieranordnung zu besprechen, also die Welt mit ihren Gesetzen, in der die Geschichte handelt. Die Handlung kann drittens als die Durchführung betrachtet. Ein Parameter wird verändert – eine besondere Person erscheint, ein besonderes Ereignis geht von statten – und der Einfluss auf die anderen Parameter untersucht. Die Beobachtungen lassen viertens auf Erkenntnisse schließen. Und zum Schluss soll natürlich die Peer Review, die Diskussion der Stichhaltigkeit der Argumentation durch die wissenschaftliche Community, nicht zu kurz kommen. Denn:
“Es liegt in der Natur der Idee, daß sie mitgeteilt wird: schriftlich, mündlich, durch die Tat. Mit der Idee ist es wie mit dem Gras. Sie braucht Licht, braucht die Menge, gedeiht durch Kreuzung, wird kräftiger, je mehr auf ihr herumgetreten wird.”
S.65 (aus Übersetzung von Gisela Stege „Planet der Habenichtse“ [1976])
äußere Quellenkritik: Die Autorin
Ursula K. Le Guin wurde als Tochter zweier Anthropolog*innen in Berkeley, Kalifornien geboren. Fun Fact: Das K in ihrem Namen steht für den Mädchennamen Kroeber, der sich von der 20-Seelengemeinde Kröbern im Altenburger Land herleitet, aus dem die Familie des Vaters stammte. Le Guin bestritt eine akademische Musterkarriere und lehrte an diversen Hochschulen, wenn sie nicht an ihrer Literatur arbeitete. Ende der 50er zogen sie und ihre Familie nach Portland, Oregon, wo sie 2018 verstarb. Das klingt wenig spektakulär, aber Le Guin hat auch nur wenige autobiografische Essays verfasst, die mehr zu erzählen hätten.
Zu Le Guins Oevre gehören nicht nur Kurzgeschichten und Romane, sondern sie war auch als Kritikerin, Essayistin, Theoretikerin und Lehrbuchautorin tätig. Ihre erste SF-Kurzgeschichte schrieb sie bereits mit elf Jahren und sandte sie an Amazing Stories, wo sie jedoch abgelehnt wurde. Sie bildete sich jedoch Zeit ihres Lebens im kreativen Schreiben weiter und gab selbst Workshops. Ihren großen Durchbruch erlebte Le Guin im Zuge der 68er-Bewegung, als die Themen Postkolonialismus und Feminismus immer stärker in ihre Werke Eingang fanden und sich ein immer größeres Publikum dafür auch interessierte. Längere Kurzgeschichten wie Die linke Hand der Dunkelheit, die Gendernormen in Frage stellte, oder Das Wort für Welt ist Wald, dass den Vietnamkrieg thematisierte, wurden zu prototypischen Werken politischer SF. Le Guin gewann die beiden wichtigsten Science Fiction-Awards, den Publikumspreis Hugo und den Jurypreis Nebula, jeweils fünfmal. Noch populärer als ihre Science Fiction wurde ihr Fantasy-Zyklus Erdsee, der sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet. Tatsächlich wurden über keine*n andere*n Autor*in der phantastischen Literatur soviele akademische Abhandlungen verfasst, wie über Le Guin; nicht einmal über den wesentlich älteren H.G. Wells.
Die Interpretation von Romanen als Gedankenexperimente, die Gesellschaften unter verschiedenen Produktionsbedingungen und darauf aufbauenden Gesellschaftsformationen untersuchen, drängt sich nirgends so auf wie bei Le Guin. Der Hainisch-Zyklus, das Universum von The Dispossessed, basiert in seinen Grundlagen darauf. Es gibt eine “Urrasse” – die Hainsch -, die sich auf verschiedenen Planeten verbreitete. Alle Völker aus Le Guins Universum wurden also mit dem selben genetischen Material ausgestattet, entwickelten sich aber unter anderen Umständen in komplett unterschiedliche Spezies. In Die linke Hand der Dunkelheit, in der es keine getrennten Geschlechter, sondern einen Zyklus des Durchlebens verschiedener Sexes und Gender gibt, wird diese Entwicklung als Folge eines Experiments sogar expliziert.
Die Ausgangsbedingungen: A Story of two Planets
Kommen wir also zur Experimentieranordnung. Die beiden Planeten Anarres und Urras bilden ein gemeinsames Doppelplanetensystem um eine Sonne. Während Urras mit einem gemäßigten Klima und einer vielfältigen Flora und Fauna gesegnet ist, ist Annares vergleichsweise ungemütlich, wenngleich nicht unbewohnbar, aber doch nur unter großen Mühen urbar zu machen. Da Annares jedoch über reichlich Bodenschätze verfügt, war es einst ein Minenplanet von Urras. Die beiden Planeten unterscheiden sich noch in einer zweiten Hinsicht: während Urras in verschiedene, sich feindlich gegenüberstehende Nationalstaaten mit liberal-kapitalistisch bis autoritären Gesellschaftsformen aufgeteilt ist, verkörptert Annares in seinen politischen Grundzügen das Ideal einer anarchistischen Gesellschaft. Es gibt werder Staaten, noch eine Regierung oder eine organisierte Religion. Kinder werden gemeinschaftlich aufgezogen, anstatt in Familienverbünden. Die Arbeit wird über ein Planungskomitee (Karen Nölle kürzt dieses in ihrer Übersetzung mit KPD ab :-)) mit rein organisatorischer Funktion ermittelt und angeboten. Jede*r Bewohner*in kann sich dann entsprechend ihrer Fähigkeiten und Interessen eine Arbeit aussuchen.
Die Bewohner*innen von Annares stammen eigentlich von Urras. Als sich auf Urras die Klassengegensätze zuspitzten, was sich in der Philosophie der Revolutionärin Odo niederschlug, wurde ihren Anhängern erlaubt, nach Annares zu reisen und dort ihre politischen Vorstellungen zu verwirklichen, unter der Bedingungen, dass sie sich bis auf den Export von Rohstoffen von Urras isolierten.
Obwohl Ursula K. Le Guin eine bekennende Anarchistin war, ist die Geschichte keine Erzählung eines anarchistischen Paradieses. Denn während zeitgenössische linkslibertäre Denker*innen wie Murray Bookchin (“Post Scarcity-Anarchism”/ “Anarchismus nach der Knappheit”) von der materiellen Knappheit abstrahieren, baut Le Guin die Knappheit als besondere Voraussetzung der Gesellschaft ein und lässt sich die gesellschaftlichen Triebkräfte entlang dem Widerspruch zwischen individueller, sozialer Freiheit und materiellem Zwang entwickeln. Der Planet ist weitestgehend felsig und trocken. Es gibt nur wenige Pflanzen und Tiere. Dürren gehören nicht gerade zum Alltag, bedrohen jedoch im Takt eines Jahrzehnts immer wieder das Überleben der Gesellschaft. Die Frage, die sich aus dieser Anordnung ergibt, lautet: Wenn die Natur einer Gesellschaft Arbeit zur Notwendigkeit macht, wie kann das Individuum dann noch frei wählen?
Die Durchführung: Der Physiker Shevek
Das Individuum, an dem diese Frage durchexerziert wird, ist der Physiker Shevek. Shevek ist einer der brillantesten Physiker seiner Zeit, aber seine Physik ist so hochabstrakt und fern von konkreten Anwendungen, sodass es unter den Bedingungen permanenten Mangels auf Annares keine freien Kapazitäten gibt, um Shevek die Ressourcen für seine Forschung bereitzustellen. Also reist er an Bord eines der wenigen Handelsraumschiffe nach Shevek, um mit dortigen Wissenschaftlern seine Theorien diskutieren zu können.
Der hier die Ausgangssituation verändernde Parameter ist also ein Individuum, das nicht in eine Gesellschaft passt, die sich auf Grund der äußeren Bedingungen herausgebildet hat. Es wird aber nicht einfach unterdrückt, wie in 90% der Drei-Groschen-Dystopien, sondern hat auf Grund des Selbstverständnisses der Gesellschaft sogar ein Anrecht auf seine Individualität. Diese stößt jedoch an die Grenzen einer Gesellschaft, der von der Natur Zwänge auferlegt sind, die sie bewältigen muss.
Auf diesen Konflikt hat die Gesellschaft eine klassisch anarchistische Lösung gefunden: Niemand kann zu etwas gezwungen werden. Weder kann eine Person gezwungen werden, sich an kollektiven Arbeiten zu beteiligen. Kollektive können aber auch nicht dazu gezwungen werden, renitente Mitglieder durchzufüttern. Weder Individuen noch Kollektiven sind durch äußere Gesetze eingeschränkt. Wenn das renitente Mitglied meint, sich Güter stehlen zu müssen, dann ist dem Kollektiv erlaubt, dieses nach eigenem Ermessen zu maßregeln bis hin zu einer Art Scherbengericht. In der Regel werden allerdings asoziale Mitglieder einfach aus der Gemeinschaft ausgestoßen, was unter den Knappheitsbedingungen des Planeten lebensgefährlich sein kann. Der Ausgangspunkt der Überlegung hierfür ist, dass ohne Klassengegensätze und die Möglichkeit, sich Arbeit und Kollektive frei zu wählen, die Anzahl und das Ausmaß der Konflikte erheblich abnehmen werde, die wenigen Irren durch erzwungene Exklave zu bewältigen sind und man sich daher einen aufwendigen Repressionsapparat sparen könne.
Beobachtungen: Understanding Lenin
Die Beobachtungen, welche man an Hand der Geschichte Sheveks in Annares und Urras nun machen kann, lassen sich in drei Bereiche aufteilen: wie entwickelt sich die anarchistische Gesellschaft von Annares, wie verhalten sich Urras und Annares zueinander und wie wechselwirken Individuum und Gesellschaft auf Annares?
Die große Vordenkerin der Annaristi, Odo, hatte für ihren Gesellschaftsentwurf ein dezentrales System vorgesehen, bei dem jede Siedlung nur so weit wachsen sollte, wie sie sich aus dem unmittelbaren Umland ernähren könnte, jedoch beständig mit anderen Siedlungen vernetzt wäre. Diese für Urras entworfene Konzeption konnte auf Annares jedoch nicht umgesetzt werden.
“Ihre Pläne waren jedoch auf den fruchtbaren Boden von Urras zugeschnitten gewesen. Auf dem kargen Annares mussten die Orte weit verstreut werden, wo immer man Ressourcen fand [… . …] Sie wussten, dass ihr Anarchismus das Produkt einer Hochkultur, einer komplexen, vielgestaltigen Zivilisation, einer stabilen Wirtschaft und einer hochentwickelten industrialisierten Technologie war, für die große Produktionsmengen und effizienter Warenverkeher kein Problem darstellten. […] Es musste ein Zentrum geben. Die Rechner, mit deren Hilfe die Verwaltung, die Aufteilung der Arbeit und der Gütererkehr koordiniert wurden, und die zentralen Föderativen der meisten Arbeitssysndikate waren in Abbeney angesiedelt. Und ebenfalls von Anbeginn waren sich die Siedler bewusst, dass die unvermeidliche Zentralisierung eine ständige Bedrohung darstellte, der mit größter Wachsamkeit zu begegnen war.”
S.109
Die Anarchistin Le Guin lässt also keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Anarchismus, der auch das Individuum voll berücksichtigen kann, weit entwickelte Produktionsmittel benötigt. Was passiert nun aber, wenn die Güter nicht so einfach hergestellt werden können, wie man es sich erträumt? Dann bedarf es zentraler Planung und Leitung, um wenigstens Waren- und Klassengesellschaft abzuschaffen, um bedürfnisgerecht zu produzieren und die gesellschaftlichen Wirkkräfte nicht dem stummen Zwang des Marktes zu überlassen. Häufig wurde in der Rezeption die Gesellschaft von Annares als “funktionierender” Anarchismus bezeichnet. Er funktioniert. Aber eben nicht mehr als Anarchismus, sondern eher als ein Sozialismus ohne zentrale Regierung. Sind Regierung und Gesetz nun aber ersatzlos gestrichen worden?
Die Antwort ist nein. Ein überall auffindbarer moralischer Zeigefinger übernimmt deren Rolle. Und damit sind nicht die Muttermale der alten Gesellschaft gemeint, wie das bessere Essen und das Herrschaftswissen, die man sich an der wissenschaftlichen Akademie von Annares gönnt. Die soziale Erwartung wird zur wichtigsten Motivation aller Handlungen. Der Krisenkollektivismus aus sich heraus duldet keine Einzelgänger. Wer nicht arbeitet, isst auf Annares nicht. Wer etwas nur zum eigenen Amüsement tut, setzt sich schnell dem Vorwurf des Egoisierens aus und sei es nur ein kleine Denkübung zur Belustigung. Sparsamkeit wird zum höchsten Ausdruck von Ästhetik, sodass selbst in Städten in die Wohnung kalt bleiben, wo genug Energie vorhanden wäre, um sie zu beheizen. Und Shevek wird von einem Mann gleichen Namens verprügelt, weil er ständig mit ihm verwechselt wurde und seine konkrete handwerkliche Arbeit für wichtiger als die theoretische des Physikers hielt. Überall entwickeln sich also neue Machtgefälle. Die Leser*in kann abwägen. Was ist die emanzipatorische Perspektive für eine Gesellschaft vor dem fully-automated-space-communism? Eine Gesellschaft, welche die Bewältigung der materiellen Probleme beständig offen diskutiert und wo zwangsläufig Mehrheiten Minderheiten gegenüberstehen? Oder eine Gesellschaft, in der der unausgesprochene Zwang der Moral herrscht?
Doch auch in einer anderen Art und Weise musste Annares Zugeständnisse machen. Ein Teil der Arbeit musste aufgewandt werden, um Rohstoffe abzubauen und Handel mit Urras zu treiben. Da Urras das Monopol auf bestimmte Lebensmittel, Öl oder Produktionsmittel hatte, arbeiteten die Anarristi quasi zu Dumpinglöhnen für den Klassenfeind. Anders der wissenschaftliche Austausch, den man unter den Physikern heimlich betrieb und der auf Augenhöhe beruhte, auch wenn manches ehrliche Urteil kränkte. Eigentlich wurde hier die Beziehung zwischen dem Ostblock und den USA beschrieben. Nach Le Guin scheint also auch eine anarchistischere Gesellschaft keine Alternative zur auferzwungenen Warenförmigkeit wenigstens eines Teils der Produktion zu kennen, wenn Ressourcen oder Produktionsmittel nicht ausreichen.
Nicht umsonst ist es nicht nur der Weltraum, der die beiden Gesellschaften trennt, sondern auch eine Mauer um den Raumhafen. Die Bilder, die beide Gesellschaften vom jeweils anderen machen, zeugen davon, dass nicht einmal das Interesse besteht, über diese zu blicken. Während Annares für das Proletariat von Urras der ideologische und utopische Fluchtpunkt ist, der Hoffnung stiftet und befeuernd für den revolutionären Antrieb wirkt, erhoffen sich einige Teile auch die Befreiung von außerhalb anstatt sich selbst zu befreien und verkennen die freiwillige Selbstisolation der Annaristi. Auf Annares wiederum hat man ein stereotypes Bild des Kapitalismus vor Augen, in der das Proletariat beständig auf Grund der Ausbeutung dahinschmachtet. Doch so ist es nicht. Es ist weniger der Fakt, dass das Proletariat so stark leidet, sondern eher der Fakt, dass es im Angesicht der Produktivkräfte und des natürlichen Reichtums nicht sein müsste, was die Situation auf Urras so unerträglich macht. Aber Ausbeutung führt auch zu zivilisatorischen Errungehschaften. Shevek muss verstehen, dass es auf Urras nur deshalb eine so hoch gebildete, fast ebenbürtige Intelligenz gibt, weil es eine unterdrückte Klasse gibt, die die Drecksarbeiten erledigt. Drecksarbeiten zu erledigen war für Shevek jedoch Voraussetzung dafür, um das Niveau der urrastischen Physiker zu übersteigen.
Zum Komplex der Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Kollektiv verwendet Le Guin einen großen Teil der Darstellung darauf, etwas zu beschreiben, was man in der Geschichtswissenschaft Alterität nennt, also die Bewusstmachung, dass Menschen in anderen Gesellschaften und Zeiten wirklich andere Denkmuster besitzen. Dies kann man am Beispiel der Einsamkeit festmachen, weniger im Sinne von Verlassensein als von Alleinsein. In der fragmentierten Gesellschaft des Kapitalismus ist dieses Gefühl das natürlichste der Welt und ist unter dem Begriff der Privatsphäre sogar rechtlich verbrieft. Auf Annares muss Einsamkeit eine Funktion haben. Zum Geschlechtsakt zum Beispiel. Ein Kind, das andere nicht schlafen lässt, kann isoliert werden. Ein unsozialer Mensch kann aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Shevek bekommt ein Einzelzimmer, damit er nachts das Licht anmachen kann, wenn er einen physikalischen Einfall hat. Aber Einsamkeit ohne Funktion ist Verschwendung und sie ist jede*r Bewohner*in von Annares unangenehm. So geht es mit vielen Dingen und die Aussage ist: Unterschätzt nicht, wie stark die warenförmige Gesellschaft das Denken unmittelbar bestimmt. Es gibt hinter den Grenzen der liberalen Vorstellungswelt eine Vielfalt möglicher realer Gefühls-, Vorstellungs- und Bewusstseinswelten, die gelebt werden können.
Peer Review: Bleibt Anarres ein Nie-Ort?
Wie jede wissenschaftliche Studie muss auch dieses Gedankenexperiment zuletzt peer-reviewed, sprich von der interessierten Community diskutiert werden.
Den spannendsten Ansatz wählte wahrscheinlich Frederic Jameson, der die Welten Le Guins konsequent als Utopien bezeichnet, da trotz aller Dialektik zwischen Naturgegebenheiten, Produktivkräften und Gesellschaftsformationen, sich keine Zivilisation von sich heraus in diesen Welten entwickelt hat. Es sei nicht schlüssig, dass eine anarchistische Gesellschaft unter den rauhen Bedingungen Anarres´ entstünde. Le Guin war das natürlich bewusst, weshalb sie die Menschen aus Anarres zu ehemaligen Revolutionär*innen von Urras machen musste. Dadurch entwickelte sich das Bewusstsein unter den Produktivkräften des Kapitalismus, um mit dieser Technik und diesem kulturellen Niveau in die skizzierten Widersprüche zu geraten. Aber trifft die Geschichte damit noch ein mögliches Szenario auf der Erde? Man könnte diese Kritik Jamesons dadurch entschärfen, dass viele Revolutionär*innen Produkt der ungleichen Entwicklung waren. Lenin aus Bern oder Ho Chi Minh aus Frankreich; sie alle holten sich ihre Maßstäbe und Impressionen aus entwickelteren Ländern. Da dies bei den großen Entfernungen im Weltraum nicht so einfach geht, musste Le Guin die Geschichte künstlicher gestalten, um der Realität näher zu kommen. Letztendlich ist die Entfremdung, die Le Guin hier anstellt auch mit zur Zuspitzung der Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Aber Jameson nennt die negative Folge dieses narrativen Tricks. Da die Produktionsverhältnisse den Produktivkräften weit vorauseilen, treibt der Widerspruch nicht zur Aufhebung in eine höhere Gesellschaftsform, sondern etabliert alte Muster neu. Wir sehen in The Dispossessed nur Beispiel negativer Aufhebung und Rückschritts, während die emanzipatorische Entwicklung und der Kampf Odos nur Randglosse bleibt.
Parisa Changizi hingegen sieht im Angesicht der ökologischen Krise das Setting von Anarres und Urras garnicht so weit hergeholt. Sollte der Klimawandel nicht mittelfristig aufgehalten werden, könnte sich eine sozialistische Gesellschaft zwar unter günstigen Produktivkräften entwickeln, aber in ihrer Entwicklung mit mehr Dürren und Naturkatastrophen zu kämpfen haben, unter Rohstoffknappheit leiden und zu unproduktiveren Verfahren genötigt sein. Sie sieht daher in Le Guins Geschichte eine Begründung der permanenten Revolution, um durch ökologisch verursachten Rückschritt der Produktivkräfte nicht die emanzipatorischen Geländegewinne einer Revolution unter günstigeren Umständen zu verspielen. Auch Tifft und Sullivan haben darauf hingewiesen, dass gerade Krisenzeiten, die Entladung der angestauten Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften Menschen zu solidarischen Lebensformen zwingen können. In den Folgejahren der Weltwirtschaftskrise gründeten zum Beispiel vieler Farmer*innen in den Vereinigten Staaten Kollektive, um ihre Höfe erhalten zu können. Sobald die Krisenzeiten jedoch vorüber waren, gingen diese wieder ein. Ein Szenario, wie es also Le Guin entwirft, könnte man auch als eine permanente Krise interpretieren, die aus der Not heraus kollektivistische Strukturen stärkt.
Zusammenfassung
The Dispossessed ist kein Buch, von dem behauptet werden kann, dass es häufig missverstanden worden sei. Dazu ist das Experiment zu klar. Die Problematik ist zu gut entwickelt. Die Schlussfolgerungen zu eindeutig. Es ist ein Lehrstück im besten Brechtschen Sinne. Die anarchistische Utopie der Anarchistin Ursula K. Le Guin illustriert, worin die Kritik von Kommunist*innen seit 150 Jahren am Anarchismus besteht. Eine Gesellschaft kann ihren Produktionsbedingungen und Produktivkräften nicht vorauseilen. Wo die Natur der Gesellschaft Zwänge auferlegt, muss auch ie Gesellschaft dem Individuum Zwänge auferlegen. Die entscheidende Frage ist also nicht, Zwang oder nicht, sondern expliziter, aber demokratisch organisierter Zwang oder impliziter Zwang in Form einer kollektivistischen Moral. Der unvollkommene Sozialismus in der Sowjetunion lag nicht im Machthunger bösmeinender Bolschewiki begründet, sondern an den rückständigen Beziehungen selbst. Auch Anarchist*innen hätten sich nach dem Nichtmachtantritt diesen Bedingungen beugen müssen, auch wenn sie Gesetze und Regierung durch Moral ersetzt hätten. Zuletzt ist der Roman ein Aufruf, an die Revolutionäre, den Kontakt zu den Unterdrückten nie zu verlieren:
“Der Entdecker, der nicht zurückkehrt oder seine Schiffe zurückschickt, damit sie seine Berichte abliefern, ist kein Entdecker, sondern ein Abenteurer; und seine Söhne werden im Exil geboren.”
S.80
Literatur:
Changizi, P. (2020): “Permanent Revolution” to Effect an Ever-Evasive (Ecological) Utopia in Ursula K. Le Guin’s <<The Dispossessed: An Ambiguous Utopia>>. In: ELOPE. English Language Overseas Perspectives and Enquiries. Jahrgang 17. Ausgabe 2. S.117-136.
Le Guin, U. (1974/ 2018): Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Aus dem Amerikanischen von Karen Nölle. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer TOR.
Jameson, F. (1975): World Reduction in Le Guin: The Emergence of Utopian Narrative. In: Jameson, F. (2005): Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and Other Science Fictions. London: Verso. S. 267—280.
Pearson, W.G. (2009): Ursula K[roeber] Le Guin. In: Bould, M. et al. (Hrsg.): Fifty Key Figures in Science Fiction. New York: Routledge.
Tifft, L. & Sullivan, D. (1979): Possessed Sociology and Le Guin’s The Dispossessed. From Exile to Anarchism. In: DeBoult, J. (Hrsg.): Ursula K. Le Guin. Voyager to inner Lands and to outer Space. Port Washington, London: Kennikat Press.