⋄ Unter den Nominierten des diesjährigen Isaac-und-Tamara-Deutscher-Preises war das Buch Dissidents among Dissidents von Ilya Budraitskis. ⋄ Budraitskis schreibt darin über das System Putin, die russische Linke und die Rolle der Intellektuellen. ⋄ Das Buch arbeitet in der Schnittmenge aus Politikwissenschaft, Kunstgeschichte, Philosophie und Psychologie. ⋄ Vieles im Buch erinnert an Slavoj Zizek, wie die häufigen Referenzen auf die Geistesgrößen des Abendlandes und das episodische Erzählen. ⋄ Dissidents among Dissidents besitzt keinen roten Faden und besticht eher durch freies Räsonnieren statt politischer Analyse. |
Wird im Jahre 2022 ein linker Buchpreis vergeben, so darf natürlich auch ein Buch über Russland unter den Nominierten nicht fehlen. Den Anforderungskatalog für ein solches Buch lässt sich an fünf Fingern abzählen. Es sollte nicht zu pro-russisch sein, aber auch nicht in den simplen schwarz-weiß-Dualismus des Westens verfallen. Auf alle Fälle sollte es nicht so stark polarisieren, dass es von einem der aktuellen großen Flügel – Russland besiegen oder mit Russland verhandeln – der linken Debatte strikt abgelehnt würde. Viel Raum für Interpretation wäre hier natürlich hilfreich. Die Linke oder Protestbewegungen sollten ein zentrale Rolle spielen. Am besten ist es von eine*r Russ*in selbst geschrieben. Ein*e Ukrainer*in wäre aber auch noch ok.
Dissidents among Dissidents. Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia von Ilya Budraitski erfüllt dieses Profil. Als studierter Kunst-, Geschichts- und Kunstgeschichtswissenschaftler, Ausstellungskurator über die russische revolutionäre Geschichte, Lehrbeauftragter in Moskau und Aktivist in zahlreichen regierungskritischen Bündnissen ist er einer der ersten Ansprechpartner hiesiger linker Medien. Was Budraistkis schreibt und warum er nicht gewonnen hat, ist Gegenstand der folgenden Rezension.
Der Autor
Ilya Budraitskis wurde 1981 in Moskau geboren. Er selbst kennt die Sowjetunion also nur aus Kindheitserinnerungen. Seine Eltern, die der Schicht der Intelligenz angehörten, engagierten sich politisch auf der Seite Boris Jelzins. Ilya selbst studierte sowohl Weltgeschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften, als auch zeitgenössische Kunst. Budraitskis lehrt an der School of Social and Economic Sciences und am Institute of Temporary Art in Moskau. Auf linksorientierten Plattformen wie dem exflux-Journal, openDemocracy, LeftEast, OpenLeft.ru, Colta.ru und anderen schreibt er über Politik, Phillosophie, Kunst und Filme. Seine Texte wurden unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung oder dem Jacobin übersetzt.
Sein Denken ist wesentlich von der kritischen Theorie und vom Trotzkismus beeinflusst. In Eigeninitiative übersetzte er die Werke Isaac Deutschers in Russische. Als Aktivist organisierte er unter anderem die russischen Proteste gegen die G8 und fungiert als Sprecher der sozialistischen Organisation Vorwärts, einer russischen Sektion der Vierten Internationale. Im Ukrainekrieg benannte Budraitskis Putin zwar klar als Agressor, forderte aber direkte Verhandlungen zwischen ihm und Selenskij, den Verzicht auf Sanktionen und die Beibehaltung der NATO-kritischen Haltung der Linken (Übersetzung der Rosa-Luxemburg-Stiftung). Gleichzeitig sprach er sich für den ukrainischen Widerstand gegen die russische Invasion aus. Einen revolutionären Defätismus aus, der durchaus unter einigen trotzkistischen Vertreter*innen gefordert wurde, widersprach er (hier). Sein Buch Dissidenten unter Dissidenten kam in Moskau bereits 2017 heraus und wurde nun ins Englische übersetzt. Für das Originalwerk erhielt Budraitskis unter anderem den Andrej-Bely-Preis, den angesehensten nicht-staatlichen Literaturpreis Russlands.
Putins Russland
Dissidents among Dissisdents folgt keinem roten Faden, sondern ist mehr oder weniger eine kleine Essaysammlung, die einzeln und unabhängig lesbar sind. Die behandelten Themen reichen von politischen und historischen Einschätzungen aller Art über Kritiken von Schriftstellern bis hin zu Charakterzeichnungen wie dem homo sovieticus oder den russischen Intellektuellen.
Zunächst schildert Budraitskis, dass Wladimir Putin eine Regierungspolitik umsetze, die Samuel Huntington als Kampf der Kulturen prognostiziert habe. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 sei er zum Anführer einer populistischen Internationale stilisiert worden, die nationale Souveränität gegen westlichen Kosmopolitismus verteidige. Der Ton eines neuen Kalten Krieges sei jedoch vom Westen angeschlagen worden, der zwischen pro-europäischen und anti-europäischen Regierungen keine Grauzonen duldete.
Die Hervorhebung von Werten, Tradition und Familie stehe in Russland aber einem Realismus der einfachen Leute gegenüber. Viele würden dem Kapitalismus mit Zynismus begegnen, indem sie das Privatinteresse verabsolutierten. In ein hohes Amt aufzusteigen, um von Korruptionsgeldern zu leben oder als bezahlter Demonstrant eine politische Versammlung zu besuchen, werde garnicht mehr verheimlicht, sondern sei als Überlebensstrategie anerkannt. Das Motto laute: “Ihr wolltet den Kapitalismus, jetzt habt ihr ihn.” Der Anti-Amerikanismus sei garnicht so stark vom Hass auf den Liberalismus geprägt, sondern auf die Werteheuchelei, mit der die USA die Unmenschlichkeit ihres Systems zu kaschieren versuche.
Die Überhöhung von Patriotismus und traditionellen Werten in der Kunst sei nach Budraitskis vor allem eine Ressourcenfrage um die knappe staatliche Finanzierung. Es sei auffällig, dass sich der konservative Kulutkampf fast ausschließlich gegen Projekte richte, die auch staatlich finanziert würden. Private Institutionen könnten hingegen weitestgehend machen, was sie wollten, wenn sie es sich leisten können. Simple Erklärungen der Intellektuellen, den autoritären russischen Staat aus einer durch die Sowjetunion verzwergten Bevölkerung herzuleiten, dreht er um in die intellektuelle Zwergenhaftigkeit solcher Beobachter*innen, welche die Komplexität der russischen Realität auf einfache und angenehme Formeln bringen möchten.
Die russische Linke
Ein Problem der russischen Linken sieht Budraitskis in dem ungeklärten Verhältnis zu ihrer komplexen und ambivalenten Vergangenheit. Denn bereits in der Charakterisierung eines Teils der Linken als pro-sowjetisch stecke eine starke Verkürzung. Seit dem Beginn ihrer Existenz habe es in der Sowjetunion immer eine pro-sowjetische Opposition gegeben, die sich für die Räte und gegen Bürokratismus, wie Stalinismus eingesetzt habe. Diese Opposition sei auch nie klein oder einheitlich gewesen und habe sich beispielsweise in Protesten gegen die Inteventionen von 1956 und 1968 artikuliert. Dabei griffen die Dissidenten immer wieder auf die Parteiorgane zurück, beispielsweise Leser*innenbriefe an die Pravda. Im Zuge der Entstalinisierung wären auch die Alten Bolschewiken wieder zu Wort gekommen, die teilweise vor der Oktoberrevolution in die Partei eingetreten waren, unter Stalin inhaftiert, deportiert oder anderweitig ruhiggestellt waren. Diese kritisierten die Führung, weil sie der Ansicht waren, dass man sich seit der Oktoberrevolution eher vom Sozialismus weg als zu ihm hin entwickelt hätte.
Viele Gruppen wären vom KGB beobachtet und verfolgt worden, eingen der Prozess gemacht. Die größten Probleme seien allerdings interner Natur gewesen. In den Gruppen herrschte ine hohe Fluktuation. Politische Führungsfiguren wechselten die Seiten und exponierte Figuren wie Vladimir Osipov oder Boris Khaibulin wurden russische Nationalisten oder Priester. Die beständigeren Aktivisten versuchten immer wieder Anschluss an die aufkommenden Bewegungen zu finden, wie die Menschenrechtsbewegung seit den 60er Jahren. Hier arbeiteten sie mit Menschen zusammen, die der Sowjetunion prinzipiell feindlich gesinnt waren und mussten so einen doppelten Kampf führen: gegen die Parteioligarchie und die antisozialistischen Kräfte.
Die post-sowjetische Linke baute dann zu großen Teilen auf den Ruinen der KPdSU auf. Bereits während der Perestroika hätten sich verschiedene Plattformen unter der Ägide charimatischer Führungsfiguren herausgebildet, die jeweils ihren Anspruch auf das Erbe der Partei geltend machten. Aus diesen Plattformen entstanden nach dem Zerfall der KpdSU die vielen einzelnen kommunistischen Parteien, die regional und spartenweise heute noch größere Bedeutung besitzen. Die Aktivist*innen, denen das Hauen und Stechen um das verbliebene Parteivermögen zuwider war, gründeten sozialistische und anarchosyndikalistische Gruppierungen. Tatsächlich sei die Linke in den 90er Jahren wieder zusammengewachsen. Die sozialen Kämpfe, wie der Streik der Eisenbahner 1998, wurden sowohl von jenen mitgetragen, denen die späte Sowjetunion zu stalinistisch oder nicht mehr stalinistisch genug war. Die neuerliche Spaltung setzte mit dem Regierungsantritt Putins ein. Mit der wirtschaftlichen Erholung verschwand auch langsam der permanente soziale Ausnahmezustand. Die einzelnen Parteien und Gruppen nahmen unterschiedliche Strategien gegenüber der Regierungspartei ein. Eine Zäsur stellte insbesondere die zweite Präsidialperiode Putins ab 2011 dar, die von der KPRF geduldet, von anderen linken Organisationen jedoch mit Demonstrationen und harter Kritik begeleitet wurde.
Das Buch endet mit einer Abhandlung über die russische Intelligentsja, die Budraiskis mit der preußischen des 19. Jahrhunderts vergleicht, die sich gegen die liberale Revolution Frankreichs auf die Seite der Monarchen schlug. Er resümmiert, dass die traditionelle sowjetische Intelligentsja einer der eifrigsten Totengräber des Sozialismus war und neue volks- und klassenverbundene Intellektuelle die entstandene Lücke füllen sollten.
Zusammenfassung
Das Buch ist nicht für jeden was. Wahrscheinlich werden zwei Zielgruppen daran Gefallen finden. Erstens: linksliberale Intellektuelle, die Russland bisher für ein Reich des Bösen hielten und denen außer Nawalny kein*e russische*r Oppositionelle*r einfällt. Diese Leser*innen müssen ihre Komfortzone nie verlassen. Das Buch nutzt klassische Sinnbilder und Topoi dieser Denkrichtung. Namen wie Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre und Timothy Snyder (oder in negativer Deutung Samuel Huntington) schaffen Vertrautheit. Da weiß man, wer gut und böse ist. Diese Leute werden dennoch darüber staunen, dass Putin nicht einfach ein Gauner um der Bosheit selbst willen ist, dass in der Sowjetunion nicht alle Linken brave Appatschiks waren und überhaupt alles einigermaßen komplex ist. Die andere Zielgruppe werden Russlandkenner*innen sein, welche mit den im Buch vertretenen Beobachtungen, Meinungen und Kontextualisierung sicher als anregendes Mosaikteilchen einer heterogenen Linken etwas anfangen können.
Der Rest wird vielleicht mehr mit den negativen Aspekten zu kämpfen haben. Dem Buch fehlt die inhaltliche Klammer, mal geht es um Putin, mal um die Linke, mal um Intellektuelle. Weder verrät eine Einleitung, noch ein Schluss, wodurch alles zusammengehalten wird. Zwanghaft versucht Budraitskis originell zu sein oder die Referenzen zum Who-is-Who des abendländischen Diskurses mit dem Knüppel durchzuprügeln. Die Melange aus (Pop)kultur, Politik, Philosophie und Psychologie kam schon in den jüngeren Werken Slavoj Zizeks eher ausgelaugt rüber. Und Budraitskis versucht sich zu stark als russischer Zizek, anstatt einen eigenständigen Stil zu finden. Das führt häufiger zu freiem Gedankenspiel statt politischer Analyse. Kunst wird eher als Willkürlichkeit, denn Experiment verstanden.
Und so haben die Juror*innen ein gutes Werk getan, dieses Buch nicht mit dem Isaac-Deutscher-Preis auszuzeichnen, obwohl es oberflächlich dazu geeignet scheint. Wer auf Slavoj Zizek steht, der solle sich das Buch gerne holen; wer Leute kennt, die auf ihn stehen, der schenke das Buch auch diesen. Und natürlich wird der Freundeskreis der Intenationalen 4ff. ein paar mundgerechte Argumente an die Hand bekommen. Wer allerdings handfeste, zusammenhängende und strukturierte Kost bevorzugt, der greife doch lieber zu Alternativen.
Literatur:
Budraitskis, I. (2017/2022): Dissidents among Dissidents. Ideology, Politics and the Left in Post-Soviet Russia. London, New York: Verso.