⋄ Obwohl die Oktoberrevolution die Welt bis heute prägt, hing ihr Erfolg teilweise am seidenen Faden und sie hätte ebenso gut scheitern können. ⋄ Sie setzte sich nur durch, weil die Bolschewiki ein enormes persönliches Risiko auf sich nahmen, aus dem sie auch ihre Leigitimität der postrevolutionären Umgestaltung schöpften. ⋄ Die sozialpsychologische Theorie des Edgeworks fragt nach Motivation, Erleben und Bewältigung solcher risikoreicher Grenzerfahrungen. ⋄ Durch die Brille dieser Theorie blickte Myles Balfe auf die Oktoberrevolution zurück. ⋄ Er hebt die eigentliche chaotische Situation des Jahres 1917 hervor, aber auch die Entstehung eines kommunistischen Habitus. |

Die Oktoberrevolution ist bis heute der historische Referenzpunkt für Kommunist*innen aller Couleur; egal, in welchem Grade man mit dem Ergebnis einverstanden ist. Es ist kaum vorstellbar, wie die Welt oder die kommunistische Bewegung heute aussähe, wenn sie gescheitert wäre. Dabei hing sie mehrmals am seidenen Faden. Nicht nur hätte der Sturm auf das Winterpalais und die Besetzung Petrograds nicht nach Plan verlaufen können. Auch der Bürgerkrieg, der Krieg mit Polen und die Durchsetzung der Revolution auf dem Land standen mehrfach auf der Kippe. Was sich welthistorisch als einschneidend hätte erweisen können, war für die konkreten Akteure von nochmals größerer Bedeutung. Viele wären von den Parteigängern der Provisorischen Regierung oder den Weißgardisten gehängt worden, wären die Bolschewiki nicht siegreich gewesen. Wieso lassen sich Menschen auf eine solche Grenzerfahrung ein, wie erleben sie diese und wie verändert diese ihre Weltsicht? Das fragt die Edgework-Theorie der Sozialpsychologie. Myles Balfe wandte diese Theorie in der Deviant Behavior auf eine Untersuchung der Oktoberrevolution an.
Edge Work als Konzept
Das Konzept der Edgework geht auf den Sozialpsychologen Stephen Lyng zurück und wird gerne als Mischung einer materialistischen Auffassung im Sinne von Karl Marx und des sozialbehavioristischen Ansatzes von George Herbert Mead interpretiert. Ganz grundlegend geht es um die Suche, das Erleben und die Verarbeitung einer psychischen Grenzerfahrungen. Diese sei ein Ausbruch aus der Rationalität und oftmals würden sie gesucht, um der Rationalität der entfremdeten Gesellschaft kurzzeitig entfliehen zu können. Selbstrealisierung, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung werde in gefährlichen, meist auch illegalen Kontexten gesucht, da hier das Moment der Freiwilligkeit einzigartig zum Tragen komme. Edgework kann dabei auch biologisch mit dem Ausstoß von Hormonen in Zusammenhang gebracht werden. Sie hofft vor allen Dingen, deskriptive Erklärungsmuster für Hochrisikoverhalten zu ersetzen, die sich auf Persönlichkeitsmerkmale stützen, da diese wenig kausal erklären. Typische Phänomene sind Risikosportarten wie Bungee Jumping, Free Climbing und Fallschirmspringen, aber auch illegale Handlungen wie Hooliganausschreitungen.
Dem Edgeworkkonzept liegen einige Konzeptionen zu Grund, die für soziale Arbeit oder Kriminalistik von Bedeutung sind. Erstens verbindet es individuelle Taten mit dem gesellschaftlichen Umfeld. Kriminelle Handlungen werden weniger rechtspositivistisch als Verstöße gegen fixe Normen angesehen, sondern in ihrer gesellschaftlichen Funktion betrachtet. Zweitens fragt Edgework auch nach der Bewältigung von Grenzerfahrungen. Es besteht nämlich die Gefahr, diese zu verstetigen und die Irrationalität der Grenzerfahrung zur eigentlichen Rationalität zu erheben.
Myles Balfe nahm sich nun dieses Konzept zur Hand und interpretierte vor diesem die sozialen und psychologischen Prozesse vor, während und nach der Oktoberrevolution. Dazu bediente er sich einerseits Primärquellen wesentlicher bolschewistischer Akteur*innen: Lenin, Trotzki, Stalin, Kollontai und Krupskaya. Zweitens betrachtete er Beobachtungen von Zeitgenoss*innen: Victor Serge, Maxim Gorki, Emma Goldman, John Reed, Albert Williams und Nikolai Sukhanov. Drittens zog er die zeitgenössischen Standardwerke zur Sowjetunion aus den Vereinigten Staaten zu Rate: Stephen Kotkin, Orlando Figes, Victor Sebestyen oder Sheila Fitzpatrick. Und genau die letzte Namenssammlung lässt einige Fragen aufkommen, handelt es sich zum einen ausschließlich um stark antikommunistische Historiker*innen, die ihre politische Abneigung gegen die Sowjetunion als Projekt überhaupt mal stärker, mal schwächer in ihre Darstellungen einfließen ließen. Zum anderen neigen alle vier zu starker Psychologisierung und – mit Ausnahme von Fitzpatrick – starker Personalisierung. Man muss also kritisch die Frage stellen, ob nicht bereits die Auswahl der Sekundärliteratur hier nicht ein bestimmtes Ergebnis vorweg nimmt. Aber sparen wir uns das Urteil für den Schluss auf.
Das Zarenreich als Ursache des Edgeworks
Die Bedingungen des Zarenreiches bildeten für viele Linke bereits eine Grenzerfahrung. Die Zensur und politische Verfolgung verhinderten die freie Meinungsäußerung. Auf Grund der ökonomischen Rückständigkeit kam es immer wieder zu Hungersnöten, in denen tausende starben; wenn nicht bereits die schlechte medizinische Versorgung dies erledigte. Der Tod als Grenzerfahrung war ein ständiger Begleiter in Stadt und Land. Die junge Arbeiter*innenschaft fand in den Fabriken der Industriezentren um Moskau und Petrograd nicht die erhoffte größere Freiheit, sondern Entrechtung, schlimmste Disziplinierung und Verstümmelung durch Arbeitsunfälle. Der Wegzug ganzer Generationen aus den Dörfern gefährdete deren traditionelle Reproduktionsmechanismen, während die jungen meist noch konservativen Arbeiter in den Elendsvierteln kaum noch religiöse Traditionen wahren konnten.
Der Erste Weltkrieg verschlimmerte die Lage. Der Industrialisierung des Krieges forderte Opfer in ungekannten Größenordnungen. Wer nicht an die Front musste, der litt unter der gesunkenen Lebensmittelproduktion. Durch die immer weitere Verlängerung des Krieges fiel Ernte um Ernte aus. Insbesondere Frauen, welche die hohen Preise und das geringe Angebot als erste zu spüren bekamen und vielerorts die Rolle der Männer übernehmen mussten, spürten die Folgen des Krieges am spürbarsten. Die Menschen erlebten also die Alltäglichkeit des Horrors des Krieges, des Kapitalismus und der Zarendiktatur.
Die Oktoberrevolution
Damit stellt das alte Zarenreich zwar eine Grenzerfahrung, aber noch keine Übertretung dar. Die Übertretung wurde durch die zahlreichen revolutionären Gruppen repräsentiert, zu denen auch die Marxist*innen und Kommunist*innen gehörten. Marxens Kapital schlüpfte als viel zu langes und kompliziertes wissenschaftliches Werk 1872 durch die Zensur, beeinflusste aber viele Intellektuelle und Dissidenten, welche die Ideen des Marxismus in die Arbeiter*innenschaft trugen. Und als sich diese entschlossen, nicht nur bei der Februarrevolution mitzuwirken, sondern auch die zwischenrevolutionäre Doppelherrschaft von Parlament und Räten gewaltsam zu überwinden, übertraten sie eine Grenze, indem sie nicht nur den Weg historischer Vorbilder verließen, sondern sich auch als Minderheit gegen ein Konglomerat aus rechten Kräften, bürgerlichen Sozialist*innen und großenteils auch die Bauernschaft stellten. Es sei angemerkt, dass viele Bolschewiki diesen Schritt zunächst nicht gehen wollten und durch die Parteiführung um Lenin dazu gedrängt wurden. Aber wie konnte Lenin seine Getreuen zu diesem Wagnis überreden?
Zunächst einmal produzierte die provisorische Regierung unter Kerenski ihren eigenen Todeskontext. Zum einen schaffte sie es nicht, mit einer Bodenreform eine der Ursachen des Hungers zu beseitigen, noch den Krieg zu beenden. Zum anderen sahen sich die Bolschewiki selbst erneuter Verfolgung ausgesetzt. Lenin prophezeite, dass man nicht viele am Leben lassen werde, wenn die bürgerliche Regierung weiter gegen die Interessen der Arbeiter*innen und Räte bestehe. Ganz persönlich hing für alle Beteiligten am Umsturz ihre vollständige Existenz vom Erfolg der Oktoberrevolution ab. Bei Misserfolg wären diese wohl gehenkt worden oder hätten lebenslange Zuchthausstrafen auf sich nehmen müssen. Hinzu kommt das Risiko, im Kampf zu fallen, schließlich stellte man sich der Polizei, Armee und den bewaffneten Kräften der Reaktion entgegen. Nicht unterschätzt werden darf zudem die Blindheit der einzelnen Akteure. Die Sicherheit einer jeden Stellung hing vom Erfolg der Stürmung anderer Bastionen ab. Doch nur durch Kuriere erfuhr man, was der Fall war. Man hätte genauso gut der letzte verlorene Posten einer aussichtslosen Schlacht sein können. Dass der Umsturz letztendlich so unblutig enden würde, weil die Verteidiger des Staates nicht bereit waren, ähnliche Risiken einzugehen, war zu Beginn nicht absehbar.
Und so sprechen die Quellen in den Folgetagen von einer Euphorie, die man nur schwerlich nicht mit der erfolgreichen Überschreitung einer Grenzerfahrung vergleichen kann. Man trat aus dem alten Leben aus ohne den Tod zu erleiden und nun wich das reale Chaos der Revolution den unendlich weiten Möglichkeiten des neuen Lebens.
The Day after the Revolution
Die alten Regeln galten nach der Oktoberrevolution nicht mehr und das in doppelter Hinsicht. Einmal in politischer, da sich eine neue Regierung an die grundlegende Umgestaltung der politischen Ordnung machte. Aber auch individuell: der ehemalige Chef war es heute nicht mehr, die einst den Reichen vorbehaltenen Weinkeller öffneten sich jetzt den Milizen, an die Stelle der persönlichen Verantwortung für die Familie trat eine gesellschaftliche. Ein Journalist berichtete von einem Arbeiter, der auf die Stadt blickte und rief: „Meins! Das ist jetzt alles Meins!“. Neben metaphorischen Übertreibungen, wie dass die Revolutionäre auch Berge versetzen könnten, wurden – und das ist aus Edgework-Sicht interessant – auch medizinische Metaphern benutzt, etwa, dass die Euphorie ansteckend war. Die Revolutionäre standen alle politisch wie persönlich vor der Entscheidung, die Revolution als Grenzerfahrung permanent weiterzutreiben oder zunächst ein neues Regelwerk zu etablieren, dass eigentlich aus dem Schoß der vorrevolutionären Erfahrung kroch und kein adäquates Abbild des nachrevolutionären Empfindens mehr erlaubte.
Die Erfahrung der eigenen Fertigkeiten der Bolschewiki, den Oktoberumsturz erfolgreich bewältigt zu haben, ermächtigte diese in den eigenen Augen zu den weitergehenden Maßnahmen. Die Dekrete über den Frieden und über den Boden erfüllten die dringlichsten Versprechen der Revolution. Aber die Bolschewiki standen weiterhin vor einem ökonomischen Chaos, einer radikalisierten Reaktion und der Ungewissheit der internationalen Entwicklungen. In dieser Situation verstetigten die Bolschewiki drei Fertigkeiten aus dem erfolgreichen Umsturz: die Disziplin, die Ruhe und das kreative Manövrieren zwischen den sozialen Kräften. Damit entstammen Charakteristika, die sich in einem typisch kommunistischen Habitus mittlerweile verstetigt haben, dieser Grenzerfahrung. Die Frage ist jedoch, ob sich der Erfolg der Oktoberrevolution mit diesen Fertigkeiten hinreichend begründen lässt oder ob nicht die Schwäche der Regierung, die nicht zu vergleichen ist mit der Stärke der Weißen Garden oder des internationalen Kapitals, mehr dazu beigetragen hat. Man kann jedoch auch die These aufstellen, dass es genau der Glaube in diese Fertigkeiten war, der die Bolschewiki sowohl den Bürgerkrieg hat überstehen lassen als auch die Widerstände gegen die Kollektivierungs- und Industrialisierungsmaßnahmen.
Akteure des Edgeworks
Um die Frage zu präzisieren, inwiefern die Grenzerfahrungen der Oktoberrevolution zu einer Übergenerationalisierung der Revolutions- und Bürgerkriegsstrategie geführt haben, unterscheidet der Autor in ganz verschiedene Abstraktionsebenen der Akteure. Zunächst einmal gibt es die ganz konkreten Individuen. Hier müssten die einzelnen Biographien einzeln untersucht werden, aber man kann sich leicht vorstellen, dass etwa Anhänger der permanenten Revolution die Ausnahmesituation der Revolution aus psychologischen Motiven generalisierten. Der Autor leistet allerdings solch eine Analyse nicht. Die zweite Ebene sind Kollektive, wie die Menschewiki oder die Bolschewiki, die insofern sozialpsychologisch interessant sind, weil ihnen psychische Zuschreibungen zu teil werden, welche die Hinwendung der Individuen zu dieser oder jener Partei begünstigen. Gelten die Bolschewiki als entschlossen und die Menschewiki nur als zögerlich, werden sich die revolutionären Kräfte eher um erstere scharen, auch wenn sie mit der politischen Zielsetzung nicht vollständig übereinstimmen. Die dritte Ebene sind geographische Kollektive. Hier ist insbesondere Petrograd zu nennen, von dem man sagen konnte: „Wenn in Petrograd die Revolution erfolgreich sein kann, warum nicht überall anders in Russland und in der Welt?“. Als vierte Ebene gibt es noch die sozialen Kollektive wie Klassen. Das russische Proletariat etwa übte durch die Fabrikdisziplinierung und die Modernisierung der Lebensformen auf dem Land teilweise große Ausstrahlungskraft aus, während traditionelle Eliten oder Volkstümler diesem distanziert gegenüber standen. Zusammen mit der Selbstwahrnehmung der Bolschewiki und dem Sieg in Petrograd konnte das stimmige Narrativ einer Klasse geschaffen werden, die mit Ruhe und Disziplin alles erreichen kann, auch wenn die reale Arbeitswelt und die Erfolge der Produktion weit weniger romantisch waren.
Ebenso erfordert der Rückblick die Wahrnehmung der Bolschewiki in den nicht proletarischen oder mit ihnen affinen Klassen. Der Kleinbürger Maxim Gorki beschrieb das Proletariat als blutdürstige Bestie. Er warf diesem eine revolutionäre Härte vor, die nicht mehr durch die Verhältnisse gerechtfertigt sei, da sie sich auch gegen andere werktätige Klassen richte und eher symbolischen statt praktischen Wert habe. Bis heute wird diskutiert, ob die Gewalt der Weißgardisten mimetisch war oder umgekehrt die der Roten Armee. Der Bürgerkrieg schuf in jedem Fall das Medium, das die Verstetigung der Grenzerfahrungen begünstigte und legitimierte. Dennoch räumt auch Balfe ein, dass es sehr schwierig ist, dass Konzept des Edgeworks auf Kollektive zu übertragen.
Zusammenfassung: Blutarme Pointe
Und so verliert Balfe am Ende seines Artikels selbst ein wenig den Faden der Argumentation. Er reflektiert, dass es durchaus revolutionäre Kontexte gäbe, in denen sich die Beschreibungen des Edgeworks nicht anwenden ließen, insbesondere, wenn das Moment der Freiwilligkeit wegfalle. Der Autor vermeidet es dankenswerterweise, überzogene, aber dem Zeitgeist entsprechende Schlüsse zu ziehen, wie das die Gewalt während des Bürgerkriegs oder die Verfolgungen im Stalinismus dieser psychischen Disposition geschuldet seien. Vielmehr grenzt er die Aussagekraft dieser Theorie durch die Komplexität des historischen Sachverhalts ein. Damit ist die Frage nach der wissenschaftlichen Leistung des Edgework-Konzepts im Hinblick auf die Russische Revolution natürlich berechtigt.
Dennoch kann man zwei Dinge aus dem Essay mitnehmen. Zum einen: Die Oktoberrevolution war keine Disney-Film-Revolution, in der die Massen kollektiv sich gegen das Böse wenden und wo am Tag nach der Beseitigung alles wieder gut ist. Die Oktoberrevolution wollte ja keinen romantisch verklärten vorkapitalistischen Zustand wieder herstellen, sie wollte Neuland betreten und eine noch nie dagewesene Gesellschaft aufbauen. Die Perspektive des Edgeworks hilft, die Oktoberrevolution als Einheit einer historischen Trajektorie und millionenfacher chaotischer individueller Entscheidungen zu begreifen, die durch ein verbindendes Narrativ erst a posteriori zu einem einheitlichen Ganzen gestaltet wurde. Auf der individuellen Ebene prägte aber das eigene Handeln in der Revolution die postrevolutionäre psychische Disposition. Zum anderen: Es gibt einen besonderen kommunistischen Habitus, der auf Disziplin, Konkretheit und mitunter Rücksichtslosigkeit abzielt. Es ist immer wieder gut, sich zu vergegenwärtigen, aus welcher besonderen historischen Situation dieser stammt, um kritisch zu reflektieren, ob er auch in anderen Situationen angebracht oder nicht vielleicht sogar schädlich sein könnte. Allein das Wissen darum, dass es so war wie Edgework-Phänomene gibt, kann dabei helfen.
Literatur:
Balfe, M. (2024): Collective-Level Edgework, Healing, andDestruction: The Case of the Bolsheviks in the Russian Revolution. In: Deviant Behavior. Online First. DOI: 10.1080/01639625.2024.2410376.