Fortsetzung vom Mittwoch Im ersten Teil dieses Artikels wurde Robert Bryers Konzeption einer marxistischen Beschreibung des Großen Eisenbahnschwindels von 1844 bis 1848 eingeführt. Nun soll entlang der Kritik an seiner Darstellung nochmals der Wirkungsmechanismus einer materialistischen Betrugstheorie vertieft werden und anschließend die empirische Evidenz für Bryers Interpretation vorgestellt werden. |

Der Dirigent
Bryers Theorie des Großen Eisenbahnschwindels war (Näheres hier), dass die Manager der neu entstandenen Eisenbahnunternehmen die Instandhaltungskosten des fixen Kapitals zunächst zu niedrig angesetzt hatten, um den Fall der Profitraten zu verschleiern. Anfang des Jahrtausends wurde Bryers Theorie von zwei Ökonomen in Frage gestellt. Sean McCartney und A.J. Arnold übten eine doppelte Kritik. Erstens sei eine Schwindel-Hypothese auf Grund der notwendig unterstellten Verschwörung nicht vereinbar mit der modernen Theoriebildung zur Geschichte der Buchhaltung. Und zweitens ließe sie sich nicht plausibel für Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts anwenden. Bryer übt hier Selbstkritik, dass er besser hätte erklären sollen, was er tatsächlich mit benutzten Begriffen wie „sozialer Verschwörung“ oder „orchestriert“ meint. Vielen Linken mögen solche Begriffe tatsächlich sehr seltsam im Ohr klingen.
Mit einer sozialen Verschwörung meine er, dass bestimmte Fraktionen der Bourgeoisie durch den Fall der Profitrate unterschiedlich stark getroffen wurden bzw. in einem unterschiedlichen Verhältnis zu diesem Fall standen. Da der Fall der Profitrate allgemein war, musste zur Aufrechterhaltung der Investitionen zur Reparatur des verschlissenen fixen Kapitals auch die Gegentendenz allgemein sein. Die „orchestrierte“ Manipulation der Bilanzen reagierte also auf ein alle betreffendes Gesetz und macht es vollkommen unerheblich, ob sich die Betrüger absprechen oder nicht. „Orchestriert“ werden sie auch nicht von einem kleinen, verschworenen Zirkel, sondern von der Geschichte, die sich durch die scheinbar objektiven Gesetzen der Ökonomie vermittelt.
Der Unterschied zur bürgerlichen Ökonomie muss hier nochmal betont werden. Da die bürgerliche Ökonomie keinen Fall der Profitrate und die zugrunde liegenden Ursachen kennt, muss sie Fehler und Betrug auf individuelles Versagen zurückführen. Wenn aber nun eine große Gruppe von Individuen einen gleichartigen Betrug begehen, ist eine unbestimmte Art von Zusammenhang nicht zu leugnen. Und gerade diese Unbestimmtheit bietet dann Raum für Verschwörungstheorien. Aus marxistischer Sicht allerdings gibt es einen bestimmten Zusammenhang, eine außerhalb des Bewusstseins der handelnden Akteure und in den ökonomischen Gesetzen verwurzelte Ursache des kollektiven Handelns. Und diese marxistische Sicht widerspricht auch der Interpretation einer allmächtigen Bourgeoisie. Die Bourgeoisie kann gerade bei Strafe ihres Untergangs nicht entgegen der kapitalistischen Gesetze handeln. Jede Bilanzfälschung fliegt unter dem Druck der Verhältnisse mit der Zeit auf.
Das Orchester
Eine zweite Kritik von McCartney und Arnold war, dass es falsch sei, zu sagen, die traditionelle Bourgeoisie habe ihr Kapital zurückgehalten. Immerhin ein Drittel allen Kapitals stamme aus dieser Klasse und der Anteil sei stetig gestiegen.

Dazu ist einzuwenden, dass die Oberklasse natürlich am kapitalstärksten ist und pro Kopf deutlich mehr investieren kann als Menschen aus den mittleren Klassen. Das bedeutet wiederum, dass ein Drittel der Investitionen in die Eisenbahn nur von einem kleinen Teil der oberen Bourgeoisie kamen. Bryer führt das darauf zurück, dass tatsächlich viele Kapitalisten kaum praktische Erfahrung mit dem Eisenbahnbau hatten und die Lebensdauer des fixen Kapitals nicht abschätzen konnten. Erst als die Umstände absehbar waren und das Kleinkapital langsam aus dem Sektor gekegelt wurde, übernahm die Großbourgeoisie die Anteile, um mit den bereits errichteten Anlagen zu realistischen Konditionen Profit zu machen.
Dass die Großbourgeoisie so einfach übernehmen konnte, während es keinen Schutz für die kleinen Anleger gab, machten viele Historiker durch Verstrickungen zwischen Parlamenten, Gerichten und Gentlemen plausibel. Bryer führt aber aus, dass die juristische Ungleichbehandlung der Investoren viel struktureller begründet war, als durch solcherlei Absprachen. Seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts seien Kleinanleger als Plage angesehen worden. Um das formale Gesetz knapp und flexibel zu halten und trotzdem allzu starke Kapitalfluktuationen zu vermeiden, hatte sich schließlich der Gentlemen-Code herausgebildet: flexibel und abgrenzend zugleich. Die neue Investorenklasse wiederum gehorchte diesem Code nicht und ihr dauerhafter Verbleib hätte bedeutet, das formale Recht stark zu erweitern und damit die Herrschaft der Großbourgeoisie einzuschränken. Daher kam es den traditionellen Eliten sehr recht, dass ein großer Teil der neuen Investoren die Märkte erst einmal wieder verließ.
Dennoch entwickelte sich zusehends ein objektiver Widerspruch. Die Großbourgeoisie wurde langsam zu groß, um noch selbst zu fungieren oder auch nur die fungierenden Kapitalisten persönlich einzuschätzen. Die Trennung zwischen operativem Geschäft und Eigentümerschaft setzte sich langsam selbst dort durch, wo dies gar nicht beabsichtigt war. Hinzu kamen dann die Aktiengesellschaften, die auf dieser Trennung überhaupt beruhten. McCartney und Arnold machten nun politische Fehler in der Frage verantwortlich, was eigentlich zu verteilender Profit ist als Ursache des Eisenbahnkrachs sei. Nach Bryer verfehlen sie hier aber den objektiven Widerspruch. Der einzelne fungierende Kapitalist braucht keine rechtliche Trennung aus Produktionsmitteln, Kapital und zu verteilendem Profit, da er dies nach eigenen Bedürfnissen umschichten kann. Es ist der Gesellschaft egal, ob er seinen Profit fair oder exakt berechnet, denn am Ende der Produktion hat er, was er hat. Steht aber der fungierende Kapitalist den Eigentümern gegenüber, dann entsteht ein Kampf um den Profit, der einer Regelung bedarf. Eine juristische Regelung war immer zu Gunsten des Laissez-faire-Kapitalismus und des Gentltemen-Codes abgelehnt worden. Es geht deshalb nicht um individuelle Fehler der Politiker und Richter, sondern um das prinzipielle Akkumulationsregime und die Konstitution der gesamten Klassengesellschaft.
Während McCartney und Arnold noch Bilanzfälschungen als individuelles Phänomen in Rechnung stellen, weist Bryer auf einen bemerkenswerten Umstand hin. Erst mit der Trennung von operativem Kapital und Eigentum macht der Begriff der Bilanzfälschung überhaupt Sinn. Der größte Teil der Industrie lief noch nach altem Muster und ein Kapitalist konnte sinnvollerweise keine Bilanz für sich selbst fälschen. Erst die Zusammenfassung vieler Kleinkapitale und deren widersprechende Interessen zum fungierenden Kapital warfen das Problem einer exakten Bilanzierung auf. Die Manager, welche hier die Bilanzen für die Anleger anfertigten, waren die Vermittler dieses Widerspruchs. Der Witz ist, dass eine „richtige Bilanzierung“ im alten Sinne gar nicht möglich war, da diese die Einheit von Eigentum und fungierendem Kapital voraussetzte. Neue Bilanzierungsmethoden waren aber erstens noch nicht erprobt, zweitens Gegenstand eines Klassenkonflikts und drittens disponibel gegenüber den durch die kapitalistischen Gesetze entstandenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie dem Fall der Profitrate. Ob die Manager falsch oder richtig bilanzierten, kann gar nicht sinnvoll gefragt werden, da es darauf ankommt, für wen da bilanziert wird und wie das Verhältnis einer konkreten Kapitalzusammensetzung zum Fall der Profitrate aussieht. Dafür spricht, dass viele Zeitgenoss*innen überhaupt keine Probleme in den damaligen veröffentlichten und an sich schon problematischen Bilanzrechnung erkennen konnten, bevor es zu spät war. Bilanzfälschung war hier nur eine Säule der Krise; ein allgemein falsches Bewusstsein über die Bilanzierung die andere.
Materialismus oder Idealismus
Wenn McCartney und Arnold am Ende auch die praktische Evidenz anzweifeln, dann zeigt sich aber ein gewisses Problem bei der Erwiderung. So führten sie ins Feld, dass die Eisenbahngesellschaften nur geringe Summen in die Instandhaltung der Anlagen investierten, weshalb eine Erklärung hierüber kaum einen dominanten Faktor darstellen könne. Bryer entgegnet, dass es ja gerade die zu niedrig veranschlagten Kosten gewesen seien, welche die nachträglichen Akquisen und die Krise auslösten. Aber wer hat nun Recht?
Bryer zitierte den Artikel seiner Kritiker, der besagte, dass vor 1946 kaum signifikante Erneuerungskosten angefallen waren, zwischen 1846 und 1848 fast gar keine mehr und ein Anstieg erst nach dem Crash zu verzeichnen gewesen sei. Bryer verweist zu Recht darauf, dass dieses Muster doch erklärt werden müsse, was McCartney und Arnold nicht einmal versucht hätten. Nach Bryer ergibt sich eine konsistente Erklärung. Die niedrigen Erhaltungskosten vor der Krise haben diese erst zur Explosion gebracht und als im Nachhinein das traditionelle industrielle Kapital die Trümmer aufkaufte, haben sie realistische Abschreibungen vorgenommen. Den Einwand, die Manager hätten schließlich erst Erfahrung mit der neuen Technologie sammeln müssen, kontert Bryer natürlich mit seiner materialistischen Schwindel-Interpretation. Ob die Manager sich des Abschreibungsbetrugs bewusst waren oder nicht, macht keinen Unterschied, da gar kein einheitliches Maß für korrekte Abschreibungen existieren konnte. Damit wird jedoch die Ursache gerade nicht widerlegt.
„The neoclassical perspective adopted by Arnold and McCartney results in their failure to recognise that the railway directors who argued for depreciation accounting employed the industrial capitalist mentality, and the majority who resisted deployed the mercantile capitalist mentality.“
Bryer 2025, S.34
Dennoch macht gerade dieser Einwand deutlich, dass man sehr genau in die Daten schauen muss.
Reevaluation
Kommen wir also zuletzt zu der Frage, wie hoch denn die Abschreibungskosten nach aktueller Datenlage und mit einer Methodik auf der Höhe der Zeit anzunehmen seien. Dazu muss man zunächst das fixe Kapital in zwei Gruppen aufteilen. Einmal in den Rolling Stock (Eisenbahnen, Waggons, Frachtcontainer) und einmal in den Permanent Way (Schienen, Tunnel und Brücken, Bahnhöfe, Werkstätten, Hafenanlagen, Signalanlagen, etc.). Bildet man nun die Durchschnitte der jeweiligen Lebensdauern und bestimmt den Anteil der beiden Komponenten am Gesamtkapital, ließe sich eine Abschätzung der durchschnittlichen Lebensdauer des fixen Kapitals vornehmen.
Gehen wir zuerst zum Rolling Stock. Im dritten Band des Kapital 1867 schätzte Marx die Lebensdauer von Zügen mit 10 bis 12 Jahren ein. Die Angaben der Hersteller hingegen bewegen sich bis zum Zweiten Weltkrieg bei 25 bis 35 Jahren. Selbst heute schreiben moderne Betreiber von Dampflokomotiven, wie die Great Central Railway PLC, Dampflokomotoiven mit 5% pro Jahr ab. Die Daten gehen also sehr weit auseinander. Beim Permanent Way haben die damaligen Manager die Lebensdauern mit 20 Jahren für Schienen bis zu 200 Jahren für Bahnhofsgebäude, Brücken und Tunnel angegeben. In diesen Angaben ist aber nicht enthalten, wie viel Reparaturaufwand eigentlich für den angegebenen Betrieb veranschlagt ist und wie intensiv das fixe Kapital genutzt wird. In Bahnhöfen etwa mussten Schienen bereits nach wenigen Jahren komplett ausgewechselt werden, während die meisten Dampflokomotiven mit hohem Alter auch nur wenige Fahrten pro Jahr machten.
Ganz genau zu klären ist dies natürlich nicht, aber es lassen sich ein optimistisches und ein realistisches Szenario entwerfen. Bryer hat dies für den Permanent Way hier zusammengestellt:

Alle Zahlen wurden aus Quellen aus dem 19. Jahrhundert zusammengestellt. Das realistische Szenario preist hierbei etwa ein, dass die Lebensdauern nicht wesentlich länger als die moderner Anlagen gewesen sein können und mittelt die alten Quellen, die tatsächliche Lebensdauern bestätigten, während sich das optimistische Szenario an den Bilanzbüchern der Manager orientiert. Wir sehr sich die Szenarien unterscheiden, wird dadurch klar, dass die gewichtete Lebensdauer aller Assets zusammen im realistischen Szenario gerade einmal die Hälfte des optimistischen Szenarios beträgt. Dazu kommt, dass die technische Entwicklung im Eisenbahnsektor damals sprunghaft erfolgt und der moralische Verschleiß der Produktionsmittel enorm schnell ging. 1870 etwa waren bereits 37% der Strecken wieder geschlossen, da sie nicht mehr den modernen Anforderungen genügten.
Wenn man nun annimmt, dass die realistische Lebensdauer des fixen Kapitals inklusive Reparaturen etwa halb so groß war, wie die optimistische, kann man auch eine optimistische, eine realistische und eine historische Profitrate berechnen:

Und genau hier erkennt man genau das Muster, das Bryers Theorie stützt. Die Profitraten steigen zunächst einige Jahre, bis die ersten großen Wartungsarbeiten anfallen, um dann zu fallen und sich dann bei einem niedrigeren Wert einzupegeln, wo sich die einzelnen Wartungsarbeiten durch die verschiedenen Laufzeiten jährlich die Waage halten … mit langfristiger fallender Tendenz natürlich.

Zuletzt sehen wir, dass bis 1855 tatsächlich kaum Wartungskosten eingepreist waren. In den Bilanzen betrugen die Erneuerungskosten nicht einmal einen Bruchteil des optimistischen Szenarios. Durch den Crash wurde auch einige Zeit gar nicht mehr investiert, bis ab den 1870ern die versäumten Investitionen für ein funktionierendes Transportnetz aufgeholt werden mussten. Das ganze Geheimnis der Verschwörung des des großen Schwindels bestand darin, weder die realistischen noch die optimistischen Kosten hinreichend ausgepreist zu haben, damit hohe Profiterwartungen geweckt zu haben, für die sich Investoren selbst zu vermeintlich niedrigeren Zinsen verschuldeten, aber durch die fehlende Anrechnung der Erhaltungskosten diese Profiterwartungen nur wenige Jahr erfüllen zu können, um dann die Investoren mit nachträglichen Forderungen in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben.
Zusammenfassung: Ein politökonomisches Schiff des Theseus
Der Text von Rob Bryer enthält zwei große Pointen. Die erste ist die hier skizzierte historisch-materialistische Interpretation eines Betrugs, nicht als Verschwörung einer kleinen Gruppe von ominösen Drahtziehern im Hintergrund, sondern als synchrones Handeln einer Klassenfraktion durch die Widersprüche des Kapitals. Die zweite Pointe ist die, dass die Diskussion des fixen Kapitals mal ein praktisches Beispiel des Schiff-von-Theseus-Paradoxons darstellt. Dieses bestand bekanntermaßen darin, dass Theseus im Laufe der Jahre jede einzelne Planke und jedes Tuch seines Schiffes erneuern musste. Die Frage lautete, ob man überhaupt am Ende noch vom Schiff des Theseus sprechen könne, wenn doch kein Atom des ursprünglichen Schiffes mehr vorhanden war. Dieses Paradox diente im Wesentlichen dazu, um anzuzeigen, dass Eigentum kein Naturverhältnis ist, sondern ein gesellschaftliches. Und genau dieses Paradox stellte sich auch bei Gleisen und Eisenbahnschwellen. Ist der Ersatz einer Eisenschiene durch eine Stahlschiene eigentlich noch Erhalt des alten Kapitals oder schon eine neue Investition? Aber jenseits dieser Frage kann man sagen, dass im Schiff des Theseus mindestens doppelt so viel Arbeit vergegenständlicht war, wie nach der ersten Fertigstellung. Das drückt natürlich jede Profitrate. Und genauso, wie das Schiff des Theseus ein gesellschaftliches Verhältnis anzeigte, macht Bryer klar, dass die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Bewusstseinszuständen entsprachen: dem merkantilen und dem industriellen. Und es bleibt die Quintessenz: Was zählt ist, wie man zählt.
Literatur:
Bryer, R. (2025): Revisiting the British railway ‘mania’ of 1845–1846 with Marx’s theory of crises – was it a ‘great railway under depreciation swindle’?. In: Accounting History Review. Online First. DOI: 10.1080/21552851.2024.2446155