Wie erneuerbare Energien den Kolonialismus in Mexiko erneuern

⋄ Mit Claudia Sheinbaum wurde nicht nur erstmals eine Frau Staatsoberhaupt Mexikos, sondern auch eine Klimaforscherin.

⋄ Von ihrem Vorgänger Obrador unterscheidet sie daher, dass sie nicht nur die erneuerbaren Energien ausbauen, sondern auch zunehmend unter staatlicher Kontrolle investieren will.

⋄ Denn der Ausbau der erneuerbaren Energien gehorchte bisher Profitmaximen, die zu großen Konflikten mit der indigenen Bevölkerung führten.

⋄ Carlos Tornel zeigte anhand von zwei Fallstudien aus Yucatan, wie der Ausbau erneuerbarer Energien postkoloniale Machtstrukturen verfestigte.


⋄ Ausgerechnet die Teile der mexikanischen Bevölkerung, die am stärksten im Einklang mit der Natur lebten, wurden durch die vermeintlich grünen Baumaßnahmen am stärksten beeinträchtigt.

Vergangene Woche wurde mit Claudia Sheinbaum nicht nur die erste Präsidentin Mexikos und zugleich die erste jüdische Präsident*in Südamerikas gewählt, sondern auch eine ausgebildete Klimaforscherin. Sie gilt als Ziehtochter des scheidenden Präsidenten Obrador, dessen Politik sie weiterzuführen versprach; außer, dass sie den energiepolitischen Fokus noch stärker auf erneuerbare Energien setzen wolle. Sheinbaum versprach dabei, weniger auf die Kräfte des Marktes zu setzen, private Beteiligungen am Energiemarkt zu deckeln und staatlich Milliarden zu investieren. Dass der Ausbau der erneuerbaren Energien in einem multiethnischen Land mit bis heute prägender kolonialer Geschichte ein riesiges politisches Problem ist, zeigte Carlos Tornel von der Universität in Durkham. Er sprach mit 50 Vertreter*innen von indigenen und nicht-indigenen Verbänden über die Konflikte um Land, sowie den Zugang und die Kontrolle über die energetische Infrastruktur.

Energietransfers und Kolonisierung

Energieträger, sei es in ihrer fossilen oder in der emissionsarmen Form, sind und waren seit dem 18. Jahrhundert ein entscheidender Bestandteil der globalen imperialistischen und kolonialen Beziehungen. Die Form der Energieträger hat jeweils die Gestalt der Produktivkräfte entscheidend mit geprägt (Näheres hier) und etwa bestimmte Arten der Kriegsführung, Kommunikation oder Mobilität, die zur Beherrschung der Welt durch die imperialistischen Zentren notwendig waren, befördert (Näheres hier). Es ist daher nicht allzu abwegig, Energienetze als eine wesentliche koloniale Struktur zu interpretieren. Um hier kurz den kleinen Einschub zu machen: Wenn im Folgenden über koloniale Zusammenhänge gesprochen wird, ist es so zu verstehen, dass der Kolonialismus in großen Teilen Afrika, Asiens und Lateinamerikas die konkrete historische Form der ursprünglichen Akkumulation darstellte. Und genauso, wie der Kapitalismus nicht neben die ursprüngliche Akkumulation getreten ist, sondern aus ihr hervorgegangen ist und noch ihre Muttermale trägt, so ist der Kolonialismus kein besonderes, aber vergangenes Unrecht neben der kapitalistischen Klassenherrschaft, sondern selbst die gewaltsame Aufzwingung der bürgerlichen Herrschaft gegenüber einem Großteil der Welt, wo sie spezifische vom Westen unterschiedene Klassen- und Problemlagen geschaffen hat.

Dies gilt nun auch und insbesondere für die Energie. Allein der Energiebegriff, der eine Vielzahl unterschiedlichster Erscheinungsformen und stofflicher Träger auf eine gemeinsame Funktion reduziert, ist analog zur Wertform verstehbar, die erst durch die kapitalistische Gesellschaftsweise ihren Sinn erhält. Ganz konkret manifestiert sich dies in den unterschiedlichen Orten, an denen Energieträger abgebaut werden, zu denen sie wie transportiert werden und wo sie wertbildend in die Produktionskreisläufe eingehen oder konsumiert werden. Die Annahme einer postkolonialen Betrachtung von Energietransfers ist dabei, dass Quellen und Senken der Energienetzwerke nicht zufällig verteilt sind, sondern die gesellschaftliche Systematik postkolonialer Gesellschaften reflektieren und reproduzieren. Darunter fallen auch epistemische Gesichtspunkte, wie die Bewertung der Nützlichkeit von Pflanzen. Wenn im globalen Süden etwa Zuckerpflanzen für Biosprit angebaut werden, zahlt die dortige Natur ihren Preis, indem Wälder gerodet und Böden ausgelaugt werden. Um den Boden hochtechnologisiert bestellen zu können, muss er aus möglichst großen und zusammenhängenden Flächen bestehen, was auf kleinteiligere vorangegangene Strukturen trifft und sich gegen diese mit Macht durchsetzen muss. Dabei nutzen die Produkte den Ansässigen nicht unmittelbar, sondern maximal mittelbar über entstehende Arbeitsplätze oder Steuereinnahmen. Unmittelbaren Nutzen hat dann meist eine globalisierte Bourgeoisie, die entweder die Energieträger direkt exportiert oder zur Produktion preisgünstiger Vorprodukte für den Weltmarkt nutzt.

Die kritische Frage, die an solche Strukturen gestellt werden muss, ist, wie die entsprechende Ungleichverteilung von Nutzen und Lasten politisch vermittelt wird. Eine epistemische Frage ist aber auch, welcher Aspekt an „erneuerbaren Energien“ überhaupt erneuerbar ist. So lassen sich lassen sich zwar Windräder bauen und damit Elektroautos betreiben, die Erneuerbarkeit besteht aber allein in der Antriebsart durch Wind. In den Kupferminen hingegen wird nicht nur landwirtschaftliche Nutzfläche, sondern auch der menschliche Körper nicht erneuerbar verbraucht.

Energietransfers in Mexiko

Um diesen Fragen weiter auf den Grund zu gehen, untersuchte der Autor Carlos Tornel nun zwei Fälle aus Yucatan in Mexiko. Er führte 50 halbstukturierte Interviews mit verschiedenen Aktivist*innen indigener und nicht-indigener Bewegungen, sowie Regierungsbeamten und Privatunternehmern zwischen 2021 und 2022. Eingebettet ist dies in einen mexikanischen Vierfachkonflikt, der seit mindestens 50 Jahren, vielleicht auch schon seit der Mexikanischen Revolution das Land prägt. Die erste Ebene des Konflikts ist der zwischen Bourgeoisie und Stadt- wie Landproletariat, der immer wieder stark sozialistische oder ökologisch-anarchistische Bewegungen auf dem Land oder kommunistische in den Städten hervorgebracht hat. Der zweite ist der zwischen nationaler Souveränität und dem Einfluss der Vereinigten Staaten als nördlichem Nachbarn. Die dritte ist der Konflikt zwischen der politischen Zentralgewalt und der parastaatlichen Gewalt durch Drogenkartelle und mafiöse Strukturen. Und die vierte ist die zwischen der durch die spanischen Kolonisatoren importierten modernen Staatlichkeit und den indigenen Lebensformen, um deren Anerkennung immer wieder gerungen werden muss. Diese vier Konfliktfelder haben alle Einfluss auf die Energiepolitik des Landes.

Seit den 90ern wurde Mexiko immer stärker als Öl- und Gasproduzent interessant, 2006 erreichte die Produktion hier ihren Höhepunkt,. Durch die niedrigen Preise waren die ökologischen und sozialen Kosten jedoch nicht mehr aufzuwiegen. Zudem stieg der Bedarf nach erneuerbaren Energien, die weit teurer auf den internationalen Märkten verkauft werden konnten, da mit ihnen entsprechende Klimazertifikate erfüllt wurden. Insbesondere auf der Halbinsel Yucatan entstanden bald riesige Solar- und Windparks.

Die Umstellung auf erneuerbare Energien musste jedoch unter den Bedingungen eines seit 1992 privatisierten Energiemarktes erfolgen. 2013 wurden die Monopole der staatlichen Benzin- und Elektrizitätsbetriebe zerschlagen, um ausländische Direktinvestitionen anzulocken. Energiebörsen für fossile und erneuerbare Energien wurden aufgebaut. Die Errichtung dieser wurde dabei nach neoliberalen Kriterien strukturiert. In der Regel schrieb der Staat Projekte für erneuerbare Energien aus und die Zuschläge erhielten die privaten Firmen mit den geringsten Preisvorstellungen. Dieser Unterbietungswettbewerb ließ keine finanziellen Ressourcen für Kompensationen gegenüner den Indigenen.

Auf der Halbinsel Yucatan hatte dies zur Folge, dass seither 23 Wind- und 21 Solar-Parks errichtet wurden, die eine Fläche von 14.000 Hektar einnehmen, also etwas mehr als die Fläche der Stadt San Francisco. 30% davon sind auf kommunalem Land errichtet, meist in indigenen Gebieten. Nach vielfältigen politischen Kämpfen seit Ende der 80er Jahre hatte sich die indigene Bevölkerung Mexikos eigentlich umfassende Autonomie und politische Mitspracherechte erkämpft. Dennoch klagen Vertreter*innen, dass diese durch die Baumaßnahmen immer wieder unterlaufen wurden. Das Problem ist jedoch, dass durch die Kombination aus der moralischen Reputation erneuerbarer Energien, der erfolgreichen Werbung ausländischer Direktinvestitionen und das Versprechen auf Arbeitsplätze eine politische Front gegen die Rechte der Indigenen aufgebaut werden konnte. Wie geschah dies konkret?

Erneuerbare Energien auf Yucatan

Das erste Beispiel ist der Solarpark Ticul A und B. Hier sollten knapp 1,23 Millionen Solarplatten auf einer Fläche von 738 Hektar, also etwa 1000 Fußballfeldern, gebaut werden. Wesentlicher Investor hinter dem Projekt ist die US-amerikanische Firma Sunpower. Die Doppelbenennung des Projekts beruht auf einer Zweiteilung, die das wahre Ausmaß des Projekts verschleiern sollte. Etwas über die Hälfte des Landes konnte von einem Großgrundbesitzer erworben werden. Die andere Hälfte befand sich in Besitz der Gemeinde San José Tipceh. Diese verpachtete das Land an einen Mittelsmann, der angab, für 30 Jahre auf dem Land Zitronenbäume anzupflanzen. Als die Gemeindemitglieder den Schwindel bemerkten, petitierten sie an die nationale Agrarentwicklungsagentur, die jedoch die politischen Prozesse in der Folge verzögerte. An die nationalen Institutionen waren gefälschte Verträge übermittelt worden, sodass die Behörden im Unklaren darüber waren, was der faktische Stand der Verhandlungen gewesen war. Die Firma, die sich ihrer politischen Macht durch die Einbindung in die nationale Entwicklungsstrategie bewusst war, schlug der Gemeinde daraufhin vor, den Vertrag zu überarbeiten und der Gemeinde bessere Konditionen bei gleichem Nutzungszweck zuzugestehen. Die Gemeinde war gespalten, ob sie lieber die Kröte schlucken oder einen eventuell nicht zu gewinnenden Kampf führen sollte.

Man entschied sich 2016 dafür, vor den Interamerikanischen Gerichtshof zu ziehen, da die politische Einbindung indigener Gemeinschaften in allen Phasen der Planung von Großprojekten verpflichtend war und der Staat diese Pflicht offensichtlich verletzt hatte. Während das Verfahren lief, genehmigten die nationalen Behörden jedoch das Projekt, wodurch den Einwohner*innen nur der physische Widerstand gegen die beginnenden Baumaßnahmen übrig blieb. Das wiederum nutzte der Staat dazu aus, die kasernierte Polizei in die Region zu entsenden und noch größeren Druck auf die Gemeinde auszuüben. Da das Unternehmen jedoch bis heute nicht bereit ist, die Anwohner*innen an der gewonnen Energie durch Direktdistribution oder Senkung der Energietarife zu beteiligen oder Lösungen für die Befürchtungen hinsichtlich der Auswirkungen auf Landwirtschaft und Mikroklima vorzulegen, befindet sich das Projekt bis heute in der juristischen Schwebe.

Analog kann als zweites Beispiel der Windpark in Dzilam González angeführt werden. Hier sollte ein Park aus 16 Windrädern mit jeweils 3 MW Leistung in einem Naturschutzgebiet errichtet werden. Jedes davon wäre 200 bis 300 Meter hoch gewesen. Da der dortige Karstboden von Natur aus brüchig und instabil ist, hätte der Bau wesentlich weitgehendere Eingriffe in die Natur erfordert als nur den Aufbau der Räder. Zufahrtswege für die schweren Baumaschinen hätten zum Beispiel erst durch den Dschungel errichtet werden müssen. Investor war in diesem Fall ein spanisches Unternehmen mit dem Namen Viva Energia. Umweltorganisationen sahen das mit dem Jahr 2013 beginnende Projekt damals als Einfallstor für die Zweckentfremdung eigentlich geschützter Gebiete für Kapitalinteressen, wenn man sie nur „grün“ verkaufen könnte.
Erneut wurden die indigenen Gemeinden nicht in die ursprünglichen Konsultationen eingebunden. Der Unterschied zum Tucal-Projekt bestand jedoch darin, dass das geschützte Gebiet dennoch in privater Hand war und sich die Eigentümer auf einen Landtausch mit der Firma einließen. Betroffen waren in der Folge alle Anwohner*innen durch die Baumaßnahmen, die Veränderung des Landschaftsbildes, den Einfluss auf den Tourismus und die Beeinträchtigung traditioneller Agrarformen. Als besonderer Hohn wurde es empfunden, dass die Windräder gut sichtbar vor den Dörfern prangten, während die Preise für Elektrizität für die Menschen vor Ort zunehmend unbezahlbar wurden. Während sich die positiven ökonomischen Auswirkungen des Projekts nicht messbar einstellten, konnte bald der negative Einfluss des Windparks auf die Biodiversität der Region nachgewiesen werden.

Zusammenfassung

Die beiden Fallstudien aus Yucatan zeigen, dass die ökologischen und ökonomischen Kosten erneuerbarer Energien woanders anfallen als ihr Nutzen. Während etwa Bienenpopulationen schrumpfen, weil Bienen nun mal keine Solarplatten bestäuben können und damit auch in der Landwirtschaft fehlen, sind die eher subsidär lebenden Anwohner*innen, die über nur geringe Geldmittel verfügen, durch die hohen Strompreise vom Nutzen weitgehend ausgeschlossen. Besonders zynisch scheint es, dass in einem Land, in dem zwischen 2017 und 2022 mindestens 176 Menschenrechts- und Umweltaktivisten für Konzerninteressen ermordet wurden, diese nun zunehmend im Kampf gegen „grüne“ Kapitalisten stehen. Die Auswahl der Orte spiegelt das koloniale Denken in Mexiko bis in die Jetztzeit wider. Indigene Lebensräume werden als „leer“ betrachtet, ihre Bedenken als managebare Störfaktoren. Ausgerechnet die Völker, die im Einklang mit der Natur nachhaltig leben, werden zugunsten einer industrialisierbaren und profitträchtigen grünen Energiepolitik in ihren Rechten beschnitten und vertrieben. Ob die Präsidentschaft Sheinbaum daran etwas ändern wird, kann nur die Zukunft zeigen. Durch die vorliegende Studie wurde aber das Grundproblem aufgezeigt, das erneuerbare Energien in einem „grünen Kapitalismus“ darstellen.

Literatur:

Tornel, C. (2024): Decolonizing the political economy of energy transitions: new energy spaces and pluriversal politics in Mexico. In: Review of International Political Economy. Jahrgang 31. Ausgabe 3. S.1074-1098.

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