Erdogans Megaprojekt stürzt ein

⋄ Am kommenden Sonntag werden in der Türkei das Parlament und der Präsident neu gewählt.

⋄ Das Erdbeben im Südosten der Türkei vom Januar 2023 lastet dabei sehr stark auf dem Image des Amtsinhabers Erdogan, sodass ein Sieg der Opposition in Aussicht steht.

⋄ Dies ist merkwürdig, da Katastrophen normalerweise der Regierung in die Hände spielen.

⋄ Cihan Tuğal von der Universität in Berkeley analysierte in der aktuellen
Critical Sociology, wie der Erdoganismus aufgebaut ist und welche Bedeutung Megabauprojekte in ihm spielen.

⋄ Er zeigt auf, dass diese die Klassen in Gewinner und Verlierer spaltete und damit einen Konsens hinter der Regierung organisierte. Dieser zerfiel mit den Bauten im Erdbebengebiet.

Die alte Türkei liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Metaphern. Erdogan schwächelt kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, gesundheitlich wie demoskopisch und das Erdbeben im Januar hat das ganze Kartenhaus der AKP zum Einsturz gebracht. Dabei stellt sich die Frage, warum das Erdbeben dem Amtsinhaber eigentlich so sehr geschadet hat. Normalerweise profitiert die Regierung von Krisen, in denen sich die Betroffenen hinter den starken Mann an der Spitze drängen. Warum ist es diesmal anders?

Dies liegt im besonderen Charakter des Erdoganismus begründet, der buchstäblich aus Beton gebaut ist. Megabauprojekte schufen den Konsens, der eine 20 Jahre währende Regierung in einer hochpolitisierten Gesellschaft überhaupt ermöglichte. Cihan Tuğal von der Universität in Berkeley analysierte in der aktuellen Critical Sociology das Zuckerbrot der AKP: den türkischen Bausektor.

Megabauprojekte im 20. Jahrhundert

Die Geschichte der kapitalistischen Entwicklung ist voll von Megabauprojekten. Man könnte mit der transkontinentalen Eisenbahn in den USA ab 1860 beginnen und über die Autobahn des Dritten Reiches und Hitlers Umbaupläne für Berlin weiterführen. Auch die sozialistische Sowjetunion sah in der Elektrifizierung des Landes mehr als eine reine Infrastrukturmaßnahme, sondern einen grundlegenden Pfeiler der Ideologie (ohne Licht kann man abends nicht Marx lesen). Periphere Länder versuchten in ähnlicher Art und Weise auf die kapitalistischen Zentren aufzuholen. Sie zerstörten Slums und indigene Wohnformen und ersetzten sie durch Hochhäuser und Plattenbauten. Und aktuell sorgt das gigantische Bauprojekt The Line in Saudi-Arabien (Näheres hier) für Aufsehen, mit der eine moderne Millionenstadt schnurgerade durch die Wüste gezogen werden soll. Der Ausbau von Wohnkomplexen, Krankenhäusern, Straßen, Energietrassen, Einkaufszentren und Flughäfen verspricht nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Zukunftsperspektiven. Megaprojekte generieren innerhalb der Klassen Gewinner – die künftigen Inhaber günstiger Wohn- und Ladenflächen – und Verlierer – die ehemaligen Besitzer*innen des Bodens oder die migrantisierten, prekären Arbeiter*innen -. Damit befrieden sie den Klassenkampf und stiften Konsens für die Regierung oder zumindest die Regierungsform.

Es ist dabei ein Vorurteil, dass das Zeitalter das Neoliberalismus ein Ende dieser Gigantomanie eingeläutet hätte. Vielmehr ist es so, dass dieser durch die Senkung der Löhne ein riesiges Nachfragedefizit erzeugt, welches ohne staatliche Intervention nur eine kurze Lebensdauer verhieße. Bereits einer der Urväter des Neoliberalismus, Ronald Reagan, musste seine wirtschaftsliberale Politik mit einem gigantischen staatlichen Rüstungsprogramm flankieren. Der Unterschied im Neoliberalismus ist nur die Verteilung der Rollen. Während in etatistischen Systemen der Staat selbst als Bauherr auftrat, schließt er im Neoliberalismus privat-öffentliche Partnerschaften ab, die je nach Tradition transparenter oder intransparenter sind. In der Türkei gilt eher letzteres, aber dazu ausführlicher.

Die Grundsteinlegung des Erdoganismus

Die Türkei führte bereits 1980 eine neoliberale Politik aus der Feder Turgut Özals ein, welche die vorangegangene importsubstituierende Industrialisierung ersetzte. Da dies gegen den Widerstand der mächtigen Arbeiter*innenorganisation nicht durchsetzbar gewesen wäre, putschte das Militär und hebelte zentrale Menschen- und Arbeiter*innenrechte aus. Das Kriegsrecht wurde erst 1987 wieder komplett aufgehoben. Während dieser Zeit wurden zahlreiche Staatsunternehmen privatisiert. Um den sozialen Frieden zu wahren, wurden angehobene Sozialausgaben mit staatlich gedrucktem Geld finanziert, was die Inflation in die Höhe trieb. Zwischen den verschiedenen Ansprüchen der Arbeiter*innen, des Kleinbürgertums und des Internationalen Währungsfonds wurden in der Folge zahlreiche Regierungen zermahlen bis die AKP, die islamische Gerechtigkeits- und Aufschwungspartei unter Recep Tayyip Erdoğan 2002 einen fulminanten Wahlsieg errang.

Ihr gelang es, die Privatisierungen zwar weiter voranzutreiben und eine rigidere Haushaltsdisziplin durchzusetzen und diese mit einem Konzept islamischer Solidarität zu verbinden, dass insbesondere die gewerkschaftlich ungebundenen Working Poor abholte. Die Lira konnte stabilisiert und das Vertrauen des internationalen Kapitals in die Türkei gestärkt werden. Da die Türkei schon 2001 am Boden gelegen hatte, nahm sich die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise im Land nicht ganz so stark aus. Vielmehr suchte das westliche Kapital in der Folge hungrig nach neuen Anlagemöglichkeiten. Die AKP verstand die Zeichen der Zeit und schuf sie.

Sie gründete 2016 den Türkischen Wohlstandsfonds, aus dessen Kassen 200 Mrd. US-Dollar in Megabauprojekte fließen sollten. 2018 wurde die die Unabhängigkeit der Zentralbank wieder aufgehoben, um die Währungspolitik in den Dienst politischer Ziele zu stellen. Dies ließ zwar erneut die Inflation steigen, aber die AKP reagierte unorthodox und pumpte mit billigen Krediten und staatlich initiierten Bauprojekten massiv Geld in die Wirtschaft, statt es zurückzuhalten. Gleichzeitig führte die Regierung Preiskontrollen für Basisgüter ein. Dieser Wirtschaftskonzept war zwar extrem fragil, aber Erdogan verstand es, die Welle zu reiten. Die Regierung besaß in dieser Dynamik alle zentralen ökonomischen Schalthebel, makro- wie mikroökonomisch, ohne selbst alles organisieren zu müssen. Sie konnte Regierungstreue durch stattliche Aufträge oder die Organisation in islamischen Verbänden belohnen und klassenbewusste Gewerkschaften oder kritische Unternehmer abstrafen.

Der in Beton gemeißelte Erdoganismus

Der Dreh- und Angelpunkt dieser Politik war das Baugewerbe. Zwischen 2001 und 2018 verdoppelte sich dessen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 4% auf fast 8%; ein im OECD-Vergleich astronomisch hoher Wert. Die Stabilität und Dynamik des Baugewerbes war ausschlaggebend für die Dämpfung der Folgen der globalen Wirtschaftskrise 2007/08. Zentraler Akteur war und ist das öffentliche Bauunternehmen TOKİ, welches 1980 gegründet worden war. Bereits 2003 versprach Erdogan, in den nächsten 10 Jahren eine halbe Million neuer Wohneinheiten zu schaffen. Sein Versprechen wurde sogar übertroffen. Bis 2018 wurden 3 Millionen neue Wohneinheiten geschaffen, davon eine Million alleine von TOKİ. Dabei wurden nicht nur die Wohnblocks, sondern auch die ganze Infrastruktur samt Schulen, Straßen, Einkaufszentren und Moscheen mit von TOKİ geplant und zusammen mit privaten Unternehmen gebaut. Die Profitrate betrug durchschnittlich solide 9%, die im Wesentlichen aus dem Verkauf der gebauten Objekte resultierte. Aber auch die Veräußerung staatlicher Grundstücke an private Unternehmer machte man zu einem Geschäftszweig.

Wer waren nun aber die Nutznießer dieser gigantischen Bauprojekte? Wer waren die Opfer? Auf der Seite der Bourgeoisie führte die Monopolisierung des Bausektors dazu, dass die Auftragsvergabe an Regierungstreue gekoppelt werden konnte. Nur eine Wiederwahl Erdogans versprach den Bestand der Umleitung internationalen Kapitals in profitable türkische Unternehmen. Dabei geht es nicht nur um direkte Korruption, in dem Sinne, dass Politiker*innen der AKP oder Familiemmitglieder des Erdogan-Clans Geld erhielten. Auch die Förderung islamischer Zentren durch Unternehmerspenden, die wiederum das ideologische Fundament der AKP bildeten, wurde mit Aufträgen honoriert. Unter den weltweit zehn größten Profiteuren öffentlicher Bauunternehmungen fanden sich fünf türkische. Darüber hinaus wurden Bauvorschriften gelockert, um die Profite nicht zu gefährden. Auch der Finanzsektor, der den Zahlungsverkehr abwickelte, konnte enorm profitieren und kleine Händler fanden preiswerte Ladenflächen für ihre nur gering-rentablen Geschäfte, die zu reinen Marktpreisen nicht tragfähig wären. Verlierer waren säkulare oder regimefeindliche Kapitalisten.

Für die Arbeiter*innenklasse wurden 46% der Wohnungen für niedrige und mittlere Einkommen ausgewiesen. 18% sollten als Sozialwohnungen an arme Menschen gehen, wovon jedoch real nur 8% nach Angaben von TOKİ vergeben wurden. Tatsächlich mussten die Käufer neuer öffentlich geförderter Wohnungen ausweisen, dass sie keine anderen Wohnobjekte besaßen und ihnen wurde verboten, die Objekte weiterzuvermieten. Luxusobjekte subventionierten diese Wohnungen zum Teil quer. Insofern profitierten Teile des Proletariats durchaus von den Bauprojekten. Viele Menschen zogen häufig auch schnell wieder aus, da sich der geringe Preis auch in geringer Qualität niederschlug. Studien zeigten jedoch zusammenfassend, dass die AKP-Wahlergebnisse recht solide mit dem Anteil an TOKİ-Wohnungen korrelierten.

Die großen Verlierer waren jene Kleinbürger*innen und Kleinbauern, die im Zuge des Landhungers für die Megaprojekte ihr Land verloren. Böden, die vom Staat gepachtet wurden oder illegal genutzt wurden, gingen in die Hände privater Unternehmer. Sie erhielten nur geringe Entschädigungen oder als Gegenleistung eine der minderwertigen Wohnungen. Überhaupt verloren all jene, die Nachteile durch die Megaprojekte erlitten. Prominentestes Beispiel ist die Gezi-Park-Bewegung 2013, als einer der wenigen städtischen Parks Istanbuls einem riesigen Einkaufszentrum weichen sollte. Diese Kritiker wurden von der AKP als Agenten des Westens geframed, von der Polizei gewaltsam geräumt und zum Beispiel in Zusammenhang mit der Gülen-Bewegung gestellt. Dieses Framing funktionierte, da die Bauprojekte ganz materiell die Klassen in Gewinner und Verlierer der AKP-Politik unterteilten. Displaced Persons wurden so an den Rand gedrängt.

Welchen Charakter trägt das türkische System?

Stellen wir mit Cihan Tuğal zuletzt die Frage, wie sich das erdoganistische Regime nach diesem Fallbeispiel ganz allgemein charakterisieren lässt. Dass wir es mit keinem liberalen Kapitalismus zu tun haben, liegt auf der Hand. Es drängt sich zdahe der Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus auf. Über eine staatliche Vergabe, werden einige Champions auserkoren und durch Steuern, Kredite und Gesetze die Wirtschaft hinsichtlich politischer Ziele reguliert. Allerdings wendet Tuğal ein, dass der Türkei die Investitionen in die hochentwickelte Technologie fehlten. Entwicklungsfokussierte Systeme wie China etwa würden hier ansetzen, um den Produktivitätsrückstand zu den kapitalistischen Zentren zu verringern und weniger Extraprofite in die Zentren zu zahlen. Das ist jedoch kein Charakteristikum der türkischen Politik.

Tuğal schlägt daher den Begriff eines neoliberalen Etatismus hervor. Dieser Begriff trägt dem Umstand Rechnung, dass die wenigsten Betriebe in der Hand des Staates, sondern in den Händen privater Unternehmer sind. Gleichzeitig sind Haushaltsdisziplin, Währungsstabilität und Investitionsanreize für das internationale Kapital Kernbestandteile der AKP-Politik. Der Staat reguliert jedoch die durch den Neoliberalismus extrem aufgerissenen Widersprüche, wodurch sich die Regierungspartei unersetzlich macht. Der Begriff hat den Vorteil, dass die Türkei nicht als anti-imperialistisches Entwicklungsregime missverstanden werden kann, wie man es vielleicht für Russland mit starken Vorbehalten geltend machen könnte. Erdogan regiert nicht gegen den imperialistischen Druck, sondern kanalisiert internationales Kapital nach dessen Regeln. Durch die islamische Ideologie weckt er dabei der Anschein von Widerständigkeit gegen den IWF oder die westlichen Mächte, ohne tatsächliche Opposition auszuüben. Das erklärt den Schlingerkurs, welchen die Türkei auf der internationalen Bühne spielt. In der Ukraine, in Syrien und im gesamten Nahen Osten setzt sich die Türkei zwischen die Stühle, um Unabhängigkeit vorzugaukeln. Sie wird dadurch für niemanden zuverlässiger Partner, aber eben auch nicht nur Juniorpartner. Aber dieses System ist im Inneren wie im Äußeren extrem fragil.

Zusammenfassung

Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung des Baugewerbes und des öffentlichen Bauunternehmens TOKİ, dann wird bewusst, warum die Bilder von Millionen Tonnen zerstörten Betons im Zuge der Erdbeben im Januar so fundamental am AKP-Regime nagten. In ein Erdebengebiet wurden Hochhäuser gebaut, die nicht erdbebensicher waren. Die ganze Infrastruktur erwies sich als überfordert. Der Staat, der sich über den Hebel der Privatwirtschaft als geradezu allmächtig darstellte, konnte die substanziellste Hilfe nicht bereit stellen. Selbst die Bauaufsicht war privatisiert worden und nun zeigt sich das Ausmaß der Korruption. Der Kaiser wurde als so nackt gesehen, wie er es schon immer gewesen ist.

Mit dem Südosten der Türkei waren vom Erdbeben insbesondere die kurdischen Gebiete betroffen. Während Erdogan gegen die PKK die Peitsche schwang, sollte der staatliche Wohnungsbau das Zuckerbrot sein. Und nicht wenige Wähler*innen nahmen dankend an. Diese wurden nun unter dem Schutt begraben. Die Investitionen in die kurdischen Gebiete, mit denen sich die AKP gerühmt haben, erwiesen sich als Luftschlösser. Und viele befürchten nun, dass unter den Menschen, die neben 60.000 identifizierten Opfern noch vermisst werden, einige posthum ihr Kreuz für die AKP setzen werden.

Ob Erdogan am Ende auch fällt oder nur wackelt, wird das Wochenende und vielleicht ein zweiter Wahlgang zeigen. Aus Respekt vor den Toten wurde der Wahlkampf sehr leise geführt, in den Erdbebengebieten ist der Wahlprozess bereits eine Hürde und es gibt ja noch die zahlreichen Auslandswähler*innen, die weder unter der Korruption, noch unter der Zensur leiden. Manch ein*e Wähler*in fragt auch, ob das Anti-Erdogan-Bündnis unter Kemal Kilicdaroglu genug Gemeinsamkeit besitzt, um eine stabile Politik zu organisieren. Und wenn ja, welche? Auch rechte Parteien beteiligen sich am Bündnis. Und nicht zuletzt gibt es auch kommunistische Parteien, welche weder Erdogan, noch seinen Herausforderer unterstützen, während die TKP und HDP hinter Kilicdaroglu stehen. Für die Arbeiter*innenklasse ist der Begriff Schicksalswahl sicherlich zu hoch gegriffen, aber die Zerschlagung Kamarilla um Erdogan, die Lockerung der Repression gegen die kurdische Linke und eine Rehabilitation gewerkschaftlicher Rechte würden die Klassenkampfposition wahrscheinlich eher verbessern.

Literatur:

Tugal, C. (2023): Politicized Megaprojects and Public Sector Interventions: Mass Consent Under Neoliberal Statism. In: Critical Sociology. Ausgabe 49. Ausgabe 3. S.457–473.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert