Vorsicht, Grenzkontrolle! Oder: Marxismus im Plural

⋄ Marxismus ist mehr als nur die Sammlung der Erkenntnisse und Schriften von Karl Marx; er wurde in vielen Teilen der Welt an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst.

⋄ Die Vielfalt der Interpretationen führt jedoch auch dazu, dass die Grenze zwischen marxistischen und sich nur lose an den Marxismus anküpfenden Theorien verwischt.

⋄ Aditya Nigam widmete sich in seinem Buch
Border-Marxisms and Historical Materialism genau dieser Grenzregion.

⋄ Zentral ist der Gedanke, dass sich die universelle Gültigkeit des historischen Materialismus als Produkt einer spezifisch historischen Gesellschaftsordnung nur durch ihm äußere Denksysteme verifizieren ließe.

⋄ Das Buch wurde als Finalist für den Isaac-Deutscher-Preis nominiert, gewann aber aus guten Gründen nicht.
Grenzkontrolle: Komme ich eigentlich gerade in den Marxismus rein oder raus?

Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist auch der orthodoxe Marxismus verschwunden. Damit ist nicht gemeint, dass es nicht noch einige Marxist*innen gäbe, die sich auf die Interpretationen des wissenschaftlichen Sozialismus von Lenin oder anderen Ikonen stützen. Damit ist gemeint, dass selbst ein Bekenntnis zur Tradition keineswegs mehr von einer interpersonalen Autorität gestützt wird, sondern lediglich dem Reich persönlicher Entscheidungen angehört. Wer sich noch einer Parteidisziplin unterwirft, tut das in aller Regel aus freien Stücken und lässt es, wenn sich die Meinung der Partei zu weit von der eigenen entfernt. In vielen westlichen Ländern sind sogar die unorthodoxen Marxist*innen in der Überzahl, zumindest an den Universitäten. Orthodoxie als Minderheitenlehre ergibt wenig Sinn. Selbst in China ist der Begriff des Sozialismus stark umkämpft und dessen Definition hängt eher vom Erfolg einzelner Fraktionen der KPCh ab als von den Worten im kleinen roten Büchlein Maos.

Es gibt also kaum noch eine festen Kern marxistischer Theorie, der sich abgrenzen ließe, sondern eigentlich ist der Marxismus an sich bereits eine Grenztheorie, die in alle anderen Bereiche ausfranst. So jedenfalls fasst es Aditya Nigam in seinem Buch Border-Marxisms and Historical Materialism auf. Das Buch wurde für den Isaac-Deutscher-Preis nominiert, erhielt diesen aber nicht. Zu Recht?

Autor und Idee

Nur kurz zum Autor: Aditya Nigam ist Professor am Zentrum für Studien zu Entwicklungsgesellschaften in Delhi und bestens im globalen Süden vernetzt. Bisherige Werke waren The Insurrection of Little Selves: The Crisis of Secular Nationalism in India (2006), Power and Contestation: India Since 1989 (2007), After Utopia: Modernity and Socialism and the Postcolony (2010) und Desire Named Development (2011). Im vorliegenden Buch versucht er, den Begriff des historischen Materialismus im Lichte unterschiedlicher Zeitlichkeiten zu problematisieren.

Sieht man den Term „historisch“ im historischen Materialismus als Anzeige der Zeitlichkeit an, so steht ein Kapitalismus als abstraktes Herrschaftssystem der Produktionsmittel besitzenden Klasse vielen Antikapitalismen gegenüber, die sich aus unterschiedliche Zeitlichkeiten des Widerstands entwickelt haben. Während in Westeuropa und den USA domestizierte, disziplinierte Proletarier*innen der Bourgeoisie gegenüber standen und stehen, sind es in vielen Teilen der Welt die Bauern, die kleinen Handwerker und Händler, sowie mannigfaltige Reproduktionsarbeiter*innen, die den Kern der revolutionären Schichten bilden. In Einheit mit dieser Unterscheidung, spaltet sich auch der Marxismus auf einen Seite als ein formalisiertes philosophisches System mit stark abendländischen Wurzeln und auf der anderen Seite als viele Marxismen, die sich jeweils aus regionalen Traditionen und Entwicklungsmustern speisen. Der Begriff der Grenz-Marxismus verweist darauf, dass es sowohl eine bedeutsame Frage ist, wie lange ein nicht-westlicher Marxismus überhaupt noch als Marxismus aufgefasst werden, wenn er zentrale Elemente neu interpretiert oder verwirft und auf der anderen Seite konstruiert der Begriff ein Diesseits und Jenseits der Grenze, was den Blick auf die Transformationsprozesse über die Grenze hinweg lenkt.

Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz des historischen Materialismus

Während der klassische Marxismus eine vordergründig ökonomische Theorie sei, hätten bereits sehr früh Marxisten wie Lenin, Gramsci oder Mao diese Theorie in ein breiteres Verständnis von Kultur und Politik eingebettet. Dies erscheint auf der einen Seite als Notwendigkeit der Ableitung der Produktionsverhältnisse aus dem Stand der Produktivkräfte im historischen Materialismus, macht es aber auf der anderen Seite genauso notwendig, unter anderen Produktionsbedingungen auch andere politische und damit auch ökonomische Systeme zu suchen. Der nur durch die Praxis zu durchbrechende Zirkelschluss ist dabei, dass der historische Materialismus selbst Produkt einer bestimmten Gesellschaftsformation war und damit sein Universalismus prinzipiell in Frage steht. Mit der Praxis, die diesen Zirkelschluss aufhebt, verbindet Nigam die dezidiert nicht-hegelianisch-marxistische Dialektik von Mao. Diese beruht eher auf dem Daoismus, der aus einer jahrtausendelangen Beobachtung eigentlich nur die Zentralität des Bewegungsbegriffs mit dem dialektischen Materialismus teilt. Mao lehnt etwa die Figur der Synthese ab, unterschied in antagonistische und nicht-antagonistische Widersprüche und verfocht das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung, nach welchem ein sozialistisches System sich in einer nomadischen Gesellschaft der Mongolei auch ohne Zwischenetappe des Kapitalismus aufbauen ließe. Der Knackpunkt ist, dass materialistisch der klassische historische Materialismus durch eine nicht nicht-klassische Epistemologie aus einer anderen philosophischen Tradition bestätigt werden kann, insofern letztere in sich schlüssig ist, wenn beide einen gemeinsamen Bezugspunkt in der Realität gleich beschreiben. Vorsichtig muss man natürlich sein, ob allein der Bezug auf die Bewegung ausreicht, um genügend Gemeinsamkeit aufzuzeigen oder ob eine solche Methodik der Verifizierung des historischen Materialismus dann nicht doch in eine überhistorische Beliebigkeit abdriftet.

Kritik an westlichen Formen

Welche konkreten Kritiken leiten sich daraus nun ab? Zum einen die Kritik an der Form der Partei, insbesondere der Avantgarde-Partei. Lenin beschrieb eine Partei in Was tun? als eine Zeitungsredaktion, in der einige sich hauptberuflich speziellen Themen widmen müssen und diese nicht nur sachlich erfassen, sondern auch didaktisch reduzieren müssten, um durch die Diskussion der Artikel in Kommunikation mit den Massen zu treten. Nichtwestliche Traditionen sahen durch solche Konzepte eine nicht begründbare Trennung zwischen Partei und Massen aufgestellt, dies sich nicht reformieren, sondern nur durch grundlegende Kritik am Konzept der Partei beheben ließe.

Aber auch am Begriff der Klasse lässt Nigam wenig Aufklärendes stehen. Viele Menschen des globalen Südens befänden sich außerhalb klassischer Arbeit-Kapital-Antagonismen, sondern als Kontraktbauern, Wanderarbeiter*innen, Illegalisierte, Sklav*innen multipel ausgebeutete Reproduktionsarbeiter*innen usw. eigentlich außerhalb dieser Beziehung. Der Autor kann hier etwas mehr mit einem Bezug auf Subalternität anfangen. Mit ihrem wichtigsten Zeugen Cedric Robinson behauptet sie, dass mit der ursprünglichen Akkumulation und der Disziplinierung der weißen Arbeiterklasse das revolutionäre Potential auf die nicht kapitalistisch integrierten verarmten Massen der Peripherie übergegangen sei.

Auch sehr grundlegende Begriffe wie der der Zeit müssten auf den Prüfstand. Anstatt von einer global linearen Zeit auszugehen, an deren Maßstab man ein Land als fortschrittlich oder unterentwickelt einteilen könne, gäbe es viele Zeitlichkeiten, viele einzelne Sequenzen von jeweils kausalen Zusammenhängen. Diese Zeitlichkeiten richteten sich auch nicht zielgerade auf ein postuliertes Ideal, sondern gehen verschiedenste Wege. Nigam erinnert etwa daran, dass im arabischen Raum das geozentrische Weltbild dreihundert Jahre vor Ptolemäus ins Wanken geraten ist, was der einfachen Erzählung widerspricht, der Westen habe auf Grund seiner wissenschaftlichen Fortschrittlichkeit die Erde erobert. Vielmehr würden Subaltern Studies einen solchen universellen Zeitbegriff in Frage stellen und ein durch die eigene Zeitlichkeit geprägtes Bewusstsein subalterner Klassen artikulieren. Denn wenn ein entwickeltes Klassnebewusstsein vor allen Dingen ein historisches Bewusstsein ist, dann müssen verschiedene Zeitlichkeiten auch verschiedene Bewusstseinslagen erzeugen. Wie schwer allerdings diese Zeitlichkeiten zu händeln sind, zeigt sich, wenn Nigam Theorien über den Urkommunismus und Geschenktauschsysteme mit dem Kommunismus als Aufhebung der bourgeoisen Herrschaftsform identifiziert.

Das bringt Nigam im letzten Kapitel mit der These zum Ausdruck, dass der Sozialismus nicht das Danach des Kapitalismus sei. Jedenfalls hätten die sozialistischen Versuche im globalen Süden gerade wegen der Vernachlässigung eigener Zeitlichkeiten zu brutalen Auswüchsen geführt, die selbst linke Intellektuelle mittlerweile zu liberalen Reformern gemacht hätte. Mit dieser Feststellung verbindet Nigam eine Rückkehr des Sozialismus von der (vermeintlichen bzw. eurozentristischen) Wissenschaft zur Utopie: Commonismus, Gemeinwohlökonomie, Degrowth … alles ist besser alks der real existierende Sozialismus.

Kritik

Nigam ist in den Debatten einfach nicht up-to-date, insbesondere wenn es darum geht, angeblich nicht durch Marx erklärbare Phänomene doch marxistisch präzise zu fassen. Um fair zu sein; das ist auch gar nicht möglich, wenn man sich in sechs Aufsätzen die Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und allem“ vorgenommen hat. Aber fast alle Phänomene, die Nigam zu einer Kritik des klassischen Marxismus anführt, sind bereits aus dieser Sicht bereits analysiert und interpretiert wurden. Das heißt nicht zwangsläufig, dass diese Interpretationen richtig sind, aber sie werden von Nigam garn nicht erst zur Kenntnis genommen. Das Einparteiensystem der UdSSR oder nicht notwendige Rückschritte der sowjetischen Vergesellschaftung sind seit hundert innerhalb des klassischen Marxismus oder historischen Materialismus kritisierbar und aus dieser Richtung kritisiert worden. Und das Prinzip der ursprünglichen Akkumulation und warum Marx das revolutionäre Potential ausgerechnet in der durch die disziplinierten Arbeiter*innenklasse sah, scheint Nigam komplett nicht verstanden zu haben. Dazu kommen stark unterkomplexe Vorstellungen der marxistischen Debatten um den Warenfetischismus oder Basis-Überbau-Beziehungen.

Im Buch selbst wird einiges an Kritik an Marx formuliert und diese ist leider ebenfalls sehr schwach auf der Brust. Marx zu unterstellen, er würde die gesellschaftliche Revolution geradezu automatisch aus der widersprüchlichen Entwicklung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entwickeln, ist zwar gebräuchlich, dennoch nicht weniger falsch, was bereits oberflächliche Analysen des Brumaire oder der Grundrisse zeigen würden. Die Entstehung des Prosumers ist bereits sehr elaboriert so aufgedröselt worden (Näheres hier), dass sämtliche Mysterien eigentlich verschwunden sein müssten.

Eine der zentralen Thesen, dass die Beziehungen zwischen Klassen über Staat, Kultur, etc. vermittelt werden, woraus sich „Klassenstaaten“ mit einer relativen Autonomie zu den Klassen entwickeln würden, ist nun wirklich nicht neu und seit Gramsci, Poulantzas und vielen Autorinnen des feministischen Marxismus immer mal wieder neu formuliert worden. Der Witz wäre der, diese relative Autonomie einmal genauer zu bestimmen, zu erklären, wie Willen entstehen, die relativ unabhängig zur Klassenlage sind und einzugrenzen, was sich denn wenigstens noch wissenschaftlich bestimmen ließe. Hier haben Theorien, welche die Gründe für die partiellen Abweichungen individueller Interessen von den Klasseninteressen in der Komplexität des Imperialismus und den Reproduktionsmethoden des Kapitalismus untersuchen, einiges mehr geleistet, als die Postulierung relativer Autonomien.

Und zuletzt muss man sich auch kritisch der Form des Buches widmen. Es ist mehr oder weniger eine Sammlung von sechs Aufsätzen, die durch ein einführendes Kapitel nur notdürftig in einen gemeinsamen Kontext gesetzt werden. Das ist gerade akademischer Usus, aber über Durchschnittlichkeit – außer die Aufsätze wären wirklich genial – kommen solche Mosaikbücher meist nicht hinaus. Das wird dadurch noch weiter unterstrichen, dass Palgrave sich mit der Gestaltung des Buches gar keine Mühe gegeben hat. Der Verlag bewertete die Texte zwar als würdig, um es in seine Marxisms-Sammlung-Edition mit aufzunehmen, aber stellt schon äußerlich klar, dass man mehr in dem Werk nicht sieht.

Zusammenfassung

Der Untertitel von Aditya Nigams Buch heißt „unzeitgemäße Einwürfe“. Leider wirkt das Werk sehr zeitgemäß. Nigam versammelt möglichst viele Modebegriffe, Theoretiker*innen und Phänomenfragmente auf engstem Raum, um dann zu postulieren, dass das ja alles viel zu komplex sei, um irgendwie unter klassischem Marxismus subsummiert zu werden, ohne überhaupt im Detail sich in dieser Flut anzuschauen, was da genau passiert. Systematisierungen, die genau das Gegenteil aufzeigen, werden einfach ignoriert und sich aus einem Kanon akademisch noch akzeptierter Heterodoxie bedient, der kritisch genug ist, um Feuilletonisten zu erschrecken, aber natürlich niemals so radikal ist, die Beweisbarkeit des Schadens dieser Gesellschaftsordnung für die Mehrheit der Menschheit und die Notwendigkeit der Revolution und gesellschaftlicher Planung zu behaupten. Das einzig Unzeitgemäße ist eigentlich, dass die Hochkonjunktur der subalternen Bewegungen schon lange vorbei ist, weil sie nach der Weltfinanzkrise sich als wenig tauglich erwiesen, die auf Grund unzureichender Reflexion aufgeladenen utopischen Fantasien in die Realität umzusetzen.

Man könnte nun positiv zum Buch sagen, dass es ja ausdrücklich um die Grenzen des Marxismus inklusive der Überschreitungen gehe. Das Buch hätte hier aber wenigstens eine Systematisierungsleistung vollbringen müssen. Um mit dem Positiven jedoch abzuschließen. Der Problemaufriss überzeugt. Um die Gültigkeit des historischen Materialismus zu beweisen, muss seine Gültigkeit auch außerhalb des konkreten historischen Felds, aus dem er entstanden ist, nachgewiesen werden. Dieser Nachweis muss sich notwendigerweise somit auch auf nicht-klassische marxistische Epistemologien stützen, wodurch eine Grauzone entsteht, die es theoretisch aufzuarbeiten gilt. Das ist eine tolle Formulierung des Problems. Da die Aufarbeitung aber so gar nicht erfolgte, war es nicht nur richtig von der Jury, den Isaac-Deutscher-Preis nicht an das Buch zu vergeben; es hätte garnicht erst auf der Shortlist landen dürfen.

Literatur:

Nigam, A. (2023): Border-Marxisms and Historical Materialism. Untimely Encounters. Cham : Palgrave Macmillan.

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