Das allgemeine Gesetz der unbezahlten Hausarbeit

⋄ Feminismus und Marxismus pflegen noch ein schwieriges Verhältnis.

⋄ Unbezahlte Hausarbeit ist einer der vielversprechendsten Schnittstellen zwischen den beiden progessiven Bewegungen.

Carlos Alberto Duque Garcia entwickelte ein Modell der unbezahlten Hausarbeit, welches sich innerhalb des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation von Marx bewegt und empirisch überprüfbar ist.

⋄ Das Modell basiert im Wesentlichen auf der Elasitzität zwischen individuellen und Haushaltseinkommen, dass dem Kapital je nach Rahmenbedingungen Überausbeutung der Arbeitskraft ermöglicht.

⋄ Ein erster Vergleich mit den sozioökonomischen Statistiken Mexikos legt die Plausibilität dieses Modells nahe.

Marxismus und Feminismus – noch immer sind beide mehr Zweckgemeinschaft als Liebesheirat. Keiner kann ohne den anderen. Ohne grundsätzliche Kritik an der Gesellschaft kommt der Feminismus über Emma, Quote und Sichtbarkeit nicht hinaus. Ohne die Berücksichtigung der besonderen Untersrückung der Frau* kann sich der Marxismus nicht von einem weltfremden Schematismus lösen. Und doch kriselt es ständig. Jeder wirft dem anderen vor, Haupt- und Nebenwidersprüche zu vertauschen, das Primat falsch in Produktion oder Reproduktion zu erkennen. Dabei ist die Frage, wer den Müll raus bringt, wer die Schwiegermutter pflegt und wer zu Hause bei Kummer tröstet fest in der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx verwurzelt. Das will jedenfalls Carlos Alberto Duque Garcia aus Mexiko zeigen.

Als quasi dritter Teil einer kleinen Serie über seine diesjährigen theoretischen und empirischen Arbeiten besprechen wir heute seine Studie zu unbezahlter Hausarbeit und der Akkumulation des Kapitals. Die Studie erschien als letztes Kapitel des von Lorenzo Fusaro und Leinad Johan Alcalá Sandoval herausgegebenen Sammelbandes The General Law of Capitalist Accumulation in Latin America and Beyond. Ziel der Studie war es, einen theoretischen Rahmen zur Analyse unbezahlter Hausarbeit unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Kapitalakkumulation zu artikulieren und mit empirischer Evidenz aus Mexiko zu stützen.

Reproduktion des Kapitals und Reproduktion der Arbeitskraft

Im Gegensatz zu vielen klassischen ökonomischen Theorien ist Kapital kein Gegenstand, den man anfassen oder als Zahl sehen kann, sondern Kapital ist ein Prozess: G-W…P…W’-G’. Es reproduziert sich also immer selbst wieder in erhöhter Quantität. Diesem Prozess steht ein lebendiger Produktionsprozess gegenüber, in welchem Arbeit im Produktionsprozess konsumiert und die Arbeitskraft mit Hilfe der geschaffenen Waren reproduziert wird. Zweiteres wird als Lohn ausgezahlt. Die Differenz zwischen produzierten Waren und den zur Reproduktion der Arbeitskraft benötigten Waren bildet den Mehrwert. Der volle Lohn muss nun drei Bedingungen erfüllen: Erstens muss er in der Lage sein, die Arbeitskraft täglich und dauerhaft zu erhalten. Bildung, Erziehung der Kinder als künftige Arbeiter*innen und notwendige Muße sind mit eingepreist. Zweitens darf der Lohn nicht so hoch sein, dass die Arbeiter*innen durch geschicktes Sparen selbst zu Kapitalist*innen werden können. Und drittens sollte der Lohn so hoch sein, dass alle Werte der Konsumgüterindustrie (abzüglich des Konsums der Bourgeoisie) realisiert werden.

Grundsätzlich müssen zwei Formen der Reproduktion der Arbeitskraft unterschieden werden, die tägliche und die generationale Reproduktion. Die tägliche Reproduktion zielt auf die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Arbeiter*innen, wie Wohnung, Essen und Kleidung. Die generationale Reproduktion bedeutet, dass auch nach einer Generation eine gleich- oder höherwertige Arbeitskraft dem Gesamtkapital zur Verfügung stehen muss, um in Zukunft die Mehrwertproduktion zu sichern. Dazu müssen Kinder gezeugt und erzogen werden. Für die Versorgung der aus Altersgründen ausgeschiedenen Arbeiter*innen muss entweder durch die Arbeiter*innen oder durch den ideellen Gesamtkapitalisten gesorgt sein. Dauerhafte Überausbeutung der Arbeitskraft führt dazu, dass sich diese entweder kurz- oder langfristig nicht repoduzieren kann, wodurch die Kapitalakkumulation in späteren Zyklen gefährdet ist.

Unbezahlte Hausarbeit

Nun reproduziert das Individuum eher selten allein seine Arbeitskraft. In der Regel findet die Reproduktion in einem Haushalt aus n erwachsenen und m minderjährigen Personen statt. Also macht es Sinn, auch den Lohn im Verhältnis zum Haushalt und nicht nur zu*r individuellen Arbeiter*in zu betrachten. Der individuelle Lohn werde als w (für engl. Wage) bezeichnet, das Haushaltseinkommen als W. Nun kann die Reproduktion der Ware Arbeitskraft ganz verschieden innerhalb eines Haushalts organisiert sein. Entweder gehen alle n Mitglieder arbeiten. Dann reichen geringere individuelle Löhne w aus, um ein hohes Haushaltseinkommen W zu generieren, von welchem jedoch ein großer Teil wieder in Dienstleistungen zur Reproduktion investiert werden muss. Nun können auch nur n-(n>x>0) Mitglieder arbeiten gehen. Dann muss das individuelle Einkommen w steigen, dass Haushaltseinkommen W kann jedoch sinken, da ein Teil der Reproduktionsarbeit als unbezahlte Hausarbeit verrichtet wird. Gehen n=0 Mitglieder arbeiten zählt der Haushalt in die industrielle Reservearmee und das Haushaltseinkommen W wird aus dem Staatsfond finanziert, wobei berücksichtigt wird, dass viel Arbeitskraft zur Reproduktionsarbeit (zum Teil auch in Form von ehrenamtlicher Arbeit für die Gesellschaft) zur Verfügung steht. W befindet sich also am absoluten Minimum.

In atomisierter Form kann zwar die individuelle Arbeitskraft nicht dauerhaft überausgebeutet werden. In der Form der Haushaltseinkommen ist dies aber möglich, wenn die entsprechende Reproduktionsarbeit zur Wiederherstellung der Arbeitskraft als unbezahlte Hausarbeit übernommen wird. Dieser Tendenz steht jedoch eine andere Tendenz gegenüber: Akkumuliert das Kapital stark, benötigt es zur Verwertung des vermehrten Werts auch ein Mehr an Arbeitskraft und wird bestrebt sein, einen möglichst großen Anteil der n Haushaltsmitglieder in die produktive Arbeit zu ziehen. Man kann dies auch als Widerspruch zwischen individuellen Kapitalisten und dem Gesamtkapitalisten auffassen. Der individuelle Kapitalist würde die Löhne gerne so senken, als ob die gesamte Reproduktionsarbeit unentgeltlich durch andere Haushaltsmitglieder verrichtet würde. Der Gesamtkapitalist würde mit fortschreitender Akkumulation gerne mehr Haushaltsmitglieder in die Produktion werfen. Es entsteht hinsichtlich der Lohnhöhe ein abarischer Punkt, der, wenn er unterschritten wird, mehr Haushaltsmitglieder in die Lohnarbeit zwingt und wenn er überschritten wird, unbezahlte Hausarbeit freisetzt. Dazu kommt, dass entsprechend dem allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation (näheres dazu hier) die Produktivität den gegenläufigen Effekt der Kapitalakkumulation, da produktivere Prozesse weniger Arbeiter*innen benötigen. Die absolute Größe unbezahlter Hausarbeit ist also eine Funktion aus dem Mindestmaß an notwendiger unbezahlter Hausarbeit und der individuellen Lohnhöhe, die wiederum von der Kapitalakkumulation und der Produktivität abhängt.

Die konkrete Verteilung der unbezahlten Hausarbeit richtet sich innerhalb der Arbeiter*innenhaushalte nach Traditionen, Familienstrukturen, Genderverhältnissen, sowie verwandtschaftlichen oder emotionalen Beziehungen. Zur empirischen Untersuchung kann jede dieser Verteilung als Anteil d an der Gesamthausarbeit ausgedrückt werden. Beträgt zum Beispiel beim Anteil der durch Männer* verrichteten Hausarbeit am Gesamtumfang Hm = d H d = 0,5 hätten wir eine geschlechtlich egalitäre Gesellschaft, zumindest hinsichtlich der Vertielung der unbezahlten Hausarbeit. Empirisch zeigt sich jedoch, dass d in allen untersuchten Ländern << 0,5 mit teilweise erheblichen Unterschieden zwischen Regionen und Generationen ist.

Ein theoretisches Modell

Das Modell für die Wirkmechanismen zwischen unbezahlter Hausarbeit und dem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation stellte Garcia nun in folgendem Diagramm dar:

Garcia, C.: “Unpaid Housework and Accumulation of Capital: System of Variables.”, aus: siehe Literatur. S.238.

Der rote Bereich steht für die Zusammenhänge zwischen Überausbeutung (SEL), unbezahlter Hausarbeit (H) und dem Mehrwert (S). Individuelle Überrausbeutung führt zu mehr unbezahlter Hausarbeit und zu mehr Mehrwert in der Hand des Kapitalisten. Der schwarze Bereich repräsentiert das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Der Mehrwert wird als akkumuliertes Kapital Delta K reinvestiert und erhöht den Bedarf an Arbeitskraft L. Eine Erhöhung der technischen Zusammensetzung TCC als Maß der Produktivität Y/L führt hingegen zum Anstieg der Reservearmee R. Nachfrage und Überschuss an Arbeitskraft bestimmen die Lohnhöhe w. Eine Erhöhung der Produktivität senkt zwar den relativen Wert der Waren zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft VLP, erhöht jedoch gleichzeitig den Gesamtumfang der benötigten Waren, da eine hohe Produktivität mehr Erschöpfung der Arbeiter*in und damit mehr Mittel zur Regeneration einfordert. Die blauen Pfeile deuten die Rückwirkung auf die Überausbeutung an.

Das gleiche in Form von Diagrammen ausgedrückt sieht dann so aus:

Garcia, C.: “Accumulation of Capital, Employment, Reserve Army, and Wages.
“, aus: siehe Literatur. S.240.

Da der Zusammenhang von fünf Größen auf zweidimensionalem Papier (bzw. einem zweidimensionalen Bildschirm) erfolgen muss, muss man sich das Diagramm aufgeklappt, wie in einer technischen Zeichnung, vorstellen. Von links nach rechts: Je mehr Kapital akkumuliert wird, desto größer ist der Arbeitskraftbedarf. Allerdings sinkt der Anstieg mit steigender technischer Zusammensetzung des Kapitals. Der Lohn steigt mit wachsendem Arbeitskraftbedarf ab einem absoluten Minimum. Ebenso steigt mit sinkender Nachfrage nach Arbeitskraft die unbezahlte Hausarbeit von einem fixen Minimum.

Empirische Evidenz aus Mexiko

Die statistische Erfassung unbezahlter Hausarbeit beginnt in Mexiko zwar erst 2003, aber damit ist Mexiko das Land Lateinamerikas mit den weitreichendsten Statistiken. Daher untersuchte Garcia diesen Fall. Die Entwicklung der Daten ließ sich dabei in zwei Phasen einteilen. Zwischen 2003 und 2009 stagnierte die unbezahlte Hausarbeit pro Haushalt und sank sogar pro Kopf. Logische Schlussfolgerung: die Bevölkerung nahm zu. Ab 2009 machte sich aber ein rapider fast linearer Anstieg an unbezahlter Hausarbeit sowohl pro Haushalt als auch pro Kopf bemerkbar. In absoluten Zahlen stieg die geschätzte unbezahlte Hausarbeit von 1,9 Milliarden Arbeitsstunden auf 2,6. Um sich das zu veranschaulichen: Wir reden von der Arbeitskraft 40 bis 50 Millionen Menschen.

Würde das Modell Garcias stimmen, müssten im selben Zeitraum die Arbeitslosigkeit angestiegen und die Löhne gesunken sein. Und tatsächlich stieg die Arbeitslosigkeit von 3%,6 auf 5,4%, während die Reallöhne um 4,1% sanken. Der Grund für die Distinktion der beiden Phasen war eine große Rezession 2009/10 in Mexiko.

Interessant sind auch die Geschlechterverhältnisse. Während der Anteil der Männer* von einem geringen Niveau aus unabhängig von Auf- oder Abschwung linear von 16,5% auf 23% anstieg, sank die Gesamtzahl der von Frauen* verrichteten unbezahlten Hausarbeit vor der Rezession langsam, um nach der Rezession steiler anzusteigen. In Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs werden die Frauen also in den Arbeitsmarkt hineingezogen, wodurch ihr Anteil an der Hausarbeit sinkt. Dafür sind sie in einer wirtschaftlichen Krise auch die ersten, die wieder entlassen werden, um die kostenlose Reproduktionsarbeit zu leisten, welche die Haushaltseinkommen sinken lassen.

Zusammenfassung

Carlos Alberto Duque Garcia hat in seiner Studie zu unbezahlter Hausarbeit mehr ein theoretisches Modell entwickelt als quantitative, empirische Evidenz gesammelt. Ein erster Vergleich mit der Entwicklung den wirtschaftlichen und sozioökonomischen Daten Mexikos legt jedoch nahe, dass die Theorie offenbar nicht ganz aus der Luft gegriffen ist. Es gibt hier also noch reichlich Stoff zum Forschen, sowohl was die tiefere Datenanalyse angeht als auch den internationalen Vergleich. Das Konzept, die Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft nicht auf die individuelle*n Arbeiter*in allein, sondern auf den Haushalt als Gemeinschaft von Arbeiter*innen herunterzurechnen, ist jedenfalls stimmig. Dieser Rahmen würde auch die Debatte beenden, ob Hausfrauen denn zum Proletariat gehörten. Ja, sie tun es und das ließe sich bei entsprechendem Nachweis von Effektstärken zwischen Höhe des akkumulierten Kapitals, organischer Zusammensetzung, Arbeitsnachfrage und unbezahlter Hausarbeit auch empirisch nachweisen lassen. Insofern ist Garcia mit seinem Modell wohl die organischste Verbindung von Feminismus und der Kritik der politischen Ökonomie gelungen. Vielleicht ließen sich mit solch einem Analyserahmen auch die aufkommenden fluiden Familienmodelle der imperialistischen Zentren politökonomisch und damit auch ideologisch besser einordnen lassen. Oder anders gesagt: LGBTQI-Themen könnten für Marxist*innen fassbarer und relevanter eingeordnet werden. Garcia hat mit dem kurzen Beitrag jedenfalls empirisch und epistemologisch ein Fass aufgemacht. Jetzt muss es offen bleiben und der Inhalt geborgen werden.

Literatur:

Garcia, C. (2022): Unpaid Housework, Social Reproduction, and Accumulation of Capital: A Theoretical Framework and Empirical Evidence from Mexico. In: Fusaro, L. (Hrsg.) & Sandoval, L. (Hrsg.): The General Law of Capitalist Accumulation in Latin America and Beyond. Actuality and Pertinence. Lanham, Boulder, New York, London: Lexington. S.227-248.


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