⋄ Die Review of Radical Political Economy sammelte Aufsätze, welche den Forschungsstand der feministischen politischen Ökonomie aufzeigen. ⋄ Duc Hien Nguyen argumentiert in ihrem Essay für ein queerinklusives Klassenbewusstsein, dass Homophobie nicht nur als kulturelle, sondern auch materielle Frage versteht. ⋄ Die Bourgeoisie profitiere von einem bestimmten Bild queerer Arbeiter*innen, die als flexibel, ungebunden, hedonistisch und körperbewusst den Idealtyp de*r modernen Dienstleistungsproletarier*in verkörpern. ⋄ Sie werbe nur für die queerfreundlichen Positionen, etwa die Ehe für alle, welche helfen, die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu senken. ⋄ Queerinklusiver Klassenkampf hingegen nutzt die Vielfalt von Reproduktionsformen, um der Bourgeoisie dieses Mittel zu nehmen. |
„Privat können die Leute doch machen, was sie wollen. Es muss doch aber nicht dauernd öffentlich sein.“ Das ist eine der häufigsten Positionen, die Menschen zu queerer Politik einnehmen. Offene Feindschaft ist eher selten geworden, wenn auch vorhanden. Schmähungen finden auf den Fußballplätzen und in den Kneipen der Bundesrepublik noch statt, aber in den Medien oder der breiten Öffentlichkeit werden sie hart sanktioniert. Queere Aktivist*innen entgegnen, dass das Private auch immer politisch sei, aber näher erläutert wird dieser Satz selten. Duc Hien Nguyen zeigt auf, inwiefern Queerness in der sozialen Reproduktion eine Klassenfrage ist, was die Bourgeoisie daran feiert, was sie verdammt und warum vielfältige Reproduktionsstrategien der Arbeiter*innen ein Trumpf im Klassenkampf sind.
Ihr Aufsatz erschien in der aktuellen Review of Radical Political Economy, die ohne konkreten Anlass 50 Jahre feministische politische Ökonomie feiert und ergänzt den Essay von Sirisha Naidu, die nah an den Marxschen Schemata des ersten Kapital-Bandes die Grundlagen einer politischen Ökonomie der Heteronormativität entwickelte. Teil 2 von 2.
Die Redistribution-Recognition-Debatte
Duc Hien Nguyen geht von der Annahme aus, dass die Lücke zwischen queerem Aktivismus und marxistischer Theorie auf der beiderseitigen falschen Annahme beruhe, dass Sexualität etwas Privates sei. In der Realität würde sexuelles Verlangen durch die materiellen Beziehungen – und damit durch Wert, Arbeit, Kapital und Akkumulation – strukturiert. Diese Struktur bilde die fehlende Verbindung in der so genannten Redistribution-Recognition-Debatte zwischen Nancy Fracer und Judith Butler Mitte der 90er Jahre. Im Kern ging es darum, ob Umverteilung von Reichtum genügt, um marginalisierte Gruppen auf Dauer gleichzustellen oder ob es eines kulturellen Kampfes um Anerkennung bedarf. Im Streit zwischen Linkskonservatismus und Linksliberalismus spiegelt sich diese Debatte auch in der zeitgenössischen Deutschland wider. Nancy Fraser argumentierte in ihrem Buch Justice Interruptus, dass es ein konzeptioneller Unterschied sei, ob ein*e Arbeiter*in ausgebeutet werde und dadurch auch kulturell abgewertet würde oder ob umgekehrt eine queere Person kulturell abgewertet und dadurch in zusätzlichem Maße materiell entmachtet würde. Judith Butler entgegnete, dass diese Unterscheidung unzutreffend sei, da jede kulturelle Form ihre materiellen Voraussetzungen und Zwecke habe. Ideologie sei eine Reaktion auf die Bewältigung der Probleme bei der Reproduktion und lasse sich nicht unvermittelt an den Beginn der Argumentation stellen. Die Abwertung von Homosexualität leite sich in der Notwendigkeit der langfristigen Reproduktion der Arbeitskraft für das Kapital ab, deren Beitrag aberkannt würde.
Der Widerspruch innerhalb dieser Debatte ist keiner zwischen einer besseren oder schlechteren argumentativen Position, sondern ein realer Widerspruch des Kapitalismus. Auf der einen Seite strebt das bürgerliche System danach, alle Unterschiede jenseits des Produktionsmittelbesitzes und der Verwertbarkeit der Arbeitskraft zu nivellieren. Queere Menschen genießen daher eine Anerkennung durch die Gesellschaft wie nie zuvor … vorausgesetzt, sie sind in der Produktion verwertbar. Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion hingegen tragen sie nicht bzw. eingeschränkt zur langfristigen Reproduktion des Proletariats bei, da die Pflege von Kindern zumindest mit Hürden verbunden ist. Da das Kapital jedoch auf eine wachsende Arbeiter*innenklasse zum Wachstum des Absatzes und gegen die Verknappung des Arbeitskraftangebots (was zu einer vorteilhaften Klassenkampfsituation des Proletariats führen würde) angewiesen ist, bildet sie Homo- und Transphobie notwendigerweise als ideologische Reflexe aus.
Ideologische Form
Wie passt das jedoch damit zusammen, dass sich die Bourgeoisie gerne woke und queerfreundlich gibt, während Homophobie anscheinend vor allen Dingen in proletarischen Schichten anzutreffen ist? Das hat einen einfachen Grund: Bereits Karl Marx stellte in seinen Betrachtungen zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation fest, dass die Reproduktion der Ware Arbeitskraft vollständig den Arbeiter*innen überlassen wird. Für die Produktion aus Sicht der Kapitalisten ist es eine conditio sine qua non, dass sich die Arbeiter*in aus schlichtem Selbsterhaltungstrieb erneut reproduziert. Welche Mittel ihr dazu mindestens zur Verfügung stehen, ist das Ergebnis des Klassenkampfes. Der Kapitalist sieht jedoch nicht, ob er vielleicht zu sehr gesiegt hat und die Mittel nicht mehr ausreichen, auch so viele Kinder zu versorgen, dass die Ware Arbeitskraft in 30 Jahren noch reichlich vorhanden ist. Für große transnationale Unternehmen ist das Problem gering. Die Bevölkerung der Erde wächst und sie besitzen die Möglichkeit, andere Reservoirs anzuzapfen. Queere Arbeiter*innen sind daher vollkommen gleich den heteronormativen, vielleicht sogar vorzuziehen, da sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit Kinder mit versorgen müssen (auch wenn dies natürlich nicht ausgeschlossen ist). Kleine Kapitalisten, die ihre Produktion nicht international ausweiten können und auf den regionalen Arbeitskräftemarkt angewiesen sind, haben eine andere Position. Sie möchten auch in 30 Jahren noch auf ein Überangebot an Arbeitskraft treffen, das niedrige Löhne sichert. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Proletariat sich vollständig reproduziert inklusive einer hinreichenden Menge an Nachwuchs. Sie bilden eine heteronormative Ideologie aus, welche die traditionellen Werte der kinderreichen Familie hochhält. Diese Ideologie steht im unmittelbaren Interessengegensatz zu der des Proletariats, da das intendierte reichhaltige Angebot an Arbeitskraft dessen Klassenkampfposition schwächt. Sie können allerdings Ressentiments im Proletariat gegenüber den transnationalen Konzernen wecken, die für die komplette Reproduktion der Arbeitskraft keine Sorge tragen müssen und daher auch geringere Löhne zahlen müssen. Das ist der materielle Kern der queerfeindlichen Ideologie der AfD, welche momentan die lauteste Stimme der Fraktion der Kleinkapitalisten innerhalb der Bourgeoisie ist.
Die drei Sphären gesellschaftlicher Reproduktion
Nguyen differenziert das Problem der sozialen Reproduktion noch weiter aus, die in drei Sphären verstanden werden muss. Erstens muss ein*e Proletarier*in ihre Arbeitskraft täglich neu reproduzieren. In der Regel erfolgt dies im globalen Norden innerhalb innerhalb eines kleinen Familienverbandes, in dem Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Erwartungen untereinander aufgeteilt werden. Je nach Aufteilung kann die Stellung des einzelnen Familienmitglieds zum gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess variieren. Beispielhaft standen Frauen in der Geschichte an Speerspitze der manchmal revolutionäres Ausmaß annehmenden Brotaufstände, da sie mit der Haushaltsführung betraut waren und Teuerungen eher direkt erlebt haben. Die zweite Sphäre ist die der generationalen Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Auch hier sind viele feministische Kämpfe verankert, wie das Recht auf Abtreibung oder alle Fragen, welche die Betreuung der Kinder berühren. Und drittens werden auch Ideologien, Institutionen, Normen, sowie soziale und kulturelle Praktiken reproduziert. Ziel der Bourgeoisie in der hier wurzelnden Ebene des Klassenkampfes ist die Einhegung und Zurückdrängung des proletarischen Klassenbewusstseins. Bürgerliche Institutionen sollen wahlweise als unhinterfragbar oder wünschenswert erscheinen. Autoritäten und Strukturen sollen tradiert und konserviert werden, außer sie werden durch die Entwicklung der Produktivkräfte gesprengt.
Es ist offensichtlich, dass alle drei Reproduktionssphären miteinander verbunden sind. Krisen der täglichen Reproduzierbarkeit der Ware Arbeitskraft stellen das gesamte System in Frage. Ein Versagen der generationalen Reproduktion attackiert durch ausgleichende Migrationsbewegungen des Proletariats herkömmliche soziale und kulturelle Muster. Die Bewältigungsstrategien des Proletariats in den einzelnen Sphären können auch in Konkurrenz zu einander treten. So stellt die Integration von Frauen* in den Arbeitsmarkt eine kurzzeitige Lösung der Unfähigkeit zur generationalen Reproduktion des Proletariats dar, unterläuft aber zum Beispiel traditionelle Aufgabenverteilungen innerhalb der Familie. Dieser Umstand der gegenseitigen Durchdringung wird allgemein als Intersektionalismus bezeichnet.
Heteronormativität im Dienste des Kapitals
In allen drei Sphären dient nach Nguyen eine heteronormative und sexistische Ideologie den Interessen des Kapitals. Auf der Ebene der unmittelbaren Reproduktion verbilligt die Abwertung der unbezahlten Hausarbeit auch die Lohnkosten. Die Hausarbeit spiegelt sich zwar in den kulturell bestimmten Löhnen wieder, aber nicht paritätisch. Man wage das Gedankenexperiment, in einem Einverdienerhaushalt alle Tätigkeiten der zu Hause arbeitenden Person auch nur zum Mindestlohn anzurechnen und dies vom Haushaltseinkommen abzuziehen. Es bliebe wohl nicht mehr viel übrig. Diese Abwertung – für den proletarischen Haushalt notwendiger, für das Kapital aber lästiger Arbeit – versucht das Kapital durch entsprechende ideologische Mittel in den Köpfen der Arbeiter*innenschaft einzupflanzen, z.B. über Soaps, in denen Hausarbeit zu 90% aus Schwatz mit den Nachbar*innen besteht. Der Staat unterstützt Familienmodelle, deren Reproduktionskosten pro Person am geringsten sind und öffnet bei entsprechenden Voraussetzungen auch konservative Modelle, wenn es der Abwertung der Reproduktionsarbeit dienlich ist. Diese Flexibilisierung lässt dann auch zu, dass queere Familienmodelle mit der Kindererziehung betraut werden, da es die Nachfrage nach billiger Arbeitskraft auch in Zukunft zu decken.
Auf der Ebene der ideologischen Reproduktion des Kapitalismus ist die Markierung von queeren Personen als „die anderen“ ein Verweis auf eine doch noch vorhandene Unzulänglichkeit. In einer Gesellschaft, wo sich Gleiche als Gleiche (abgesehen von ihrem Geldvermögen) gegenüberstehen, ist diese vermeintliche Ungleichheit ein Vehikel der Entwertung. Der symbolische Selbstwert des Arbeiters wird gesteigert, in dem er sich mit dem queeren „Anderen“ vergleicht und zu einem zufriedenstellenden Ergebnis kommt. Das kann materielle Leistungen teilweise ersetzen. In vielen Filmen, die Homophobie thematisieren, taucht der Trope „Lieber arm als schwul.“ oder „Arm, aber wenigstens nicht schwul.“ auf. Das Kapital profitiert also auf allen Ebenen von heteronormativer Ideologie.
Eine queere proletarische Politik?
Nguyen warnt nun aber vor dem Kurzschluss, dass jede Politik, welche Heteronormativität in Frage stellt, proletarische Klassenpolitik sei. Im Gegenteil erkennt sie zwar die Erfolge von LGTQI*-Bewegung in den letzten Jahrzehnten an, aber geht mit den sich daraus ergebenden Wirklichkeiten hart ins Gericht.
Homosexuelle Paare dürfen in vielen Ländern heute heiraten. Aber dies ist nur die Affirmation einer heteronormativen Institution, welche den Wert der Ware Arbeitskraft gerade senken soll. Als queeren Menschen diese Möglichkeit noch nicht offenstand, haben sie häufig alternative familiäre Modelle gebildet, in denen sie die Erwartungshaltung des Kapitals mit der Kreativität dieser Sozialformen austricksen konnten. Ein viel progressiverer Ansatz sei es hingegen, wenn nicht-queere Menschen mehr alternative Familienmodelle pflegen würden, in denen sie die Reproduktionsarbeit effektiv und gleichberechtigt untereinander aufteilten.
Nicht weniger hart fällt ihre Kritik an der Reproduktionsmedizin aus. Es sei zwar gut, dass es mittlerweile Verfahren gibt, mit denen lesbische Paare Kinder bekommen könnten, aber diese seien sehr teuer und die Pharmaindustrie schöpfe gewaltige Profite ab. In einem Land wie den USA, wo sich viele Menschen schon den Zahnarzt nicht leisten, seien solche Behandlungen außerhalb jeder Möglichkeiten und stellten eine Benachteiligung gegen über cis-Paaren dar. Auch hier müsse man sich eher auf kreative Selbsthilfe und soziale Beziehungen verlassen, anstatt auf die Segnungen des Kapitals.
Letztendlich müsse man auch die regenbogenfarbene Brille bei der Konzernwerbung absetzen. Denn das Kapital hat ein ganz bestimmtes queeres Bild vor Augen: ultraflexible Arbeiter*innen, die weder Kind noch Familie binden, wenn es heißt, den Arbeitsplatz zu wechseln; die gut ausgebildet und auf ihr Äußeres bedacht seien; Menschen, deren Verlust traditioneller sozialer Kontakte als Kosmopolitismus ins Positive verkehrt wird, die im Gay Club in der neuen Stadt gleichwertige neue Beziehungen finden, wie am alten Wohnort. Sexuelle Flexibilität wird mit ökonomischer Flexibilität gleichgesetzt. Der angebliche Hedonismus queerer Menschen verweist zusätzlich auf ein vorblidhaftes Konsumverhalten. Das ist das gern gezeichnete Bild. Es trifft aber auf die übergroße Mehrheit der Queers nicht zu. Indem sie für die Integration fiktiver idealer Queers wirbt, exkludiert sie die Realen. Die Wirtschaft versucht, eine neue Ideologie zu zu verbreiten, in der Homo- und Transsexualität den Erwartungen der modernen digitalisierten Dienstleistungsökonomie gerecht wird. Von Unternehmen, die sich für kostenlose Reproduktionsmedizin aussprechen, hört man dagegen eher selten. Wenn das aber der postulierte Anspruch an das moderne Proletariat ist, ruft das natürlich Abwehrreflexe bei all jenen hervor, die diesem Bild nicht entsprechen können und die nun die Schuld nicht bei den Unternehmen, sondern den Queers suchen.
Zusammenfassung
Einer Linken darf es nach Judith Butler nicht darum gehen, traditionellen Formen der Sexualität und Familienstrukturen gegen fluide zu ersetzen. Es geht ihr um die Umgestaltung der ganzen Gesellschaft in dem Sinne, dass die Entscheidung zwischen diesem oder jenem keine für das Eigentliche oder das Andere ist und in der soziale Regulation kein Mittel der Kapitalakkumulation mehr ist, egal welche Form sie annimmt. Wie Duc Hien Nguyen zeigt, ist die Inklusion queerer Menschen in alle Sphären der Reproduktion noch nicht gelungen und kann auch nicht gelingen. Man sollte sich hier keinen Illusionen hingeben.
Für eine Linke heißt daher intersektionalistische Politik, bei jeder Forderung und jedem Klassenkampf zu bedenken, wie das Kapital durch die Hintertür der Reproduktion wieder versuchen wird, Gewinne des Proletariats zu nivellieren. Je pluraler die Reproduktionsformen des Proletariats aufgestellt sind, je mehr gegenseitige Akzeptanz für unterschiedliche Bewältigungsmodi vorliegt, desto schwerer wird es für die Bourgeoisie, solche Strategien zu finden. Einheit in Vielfalt ist keine leere Parole, sondern ein taktisches Mittel im Klassenkampf, wenn es gelingt, sich von den oberflächlichen Unterschieden nicht das gemeinsame Klassenbewusstsein stören zu lassen. Der Linksliberalismus liegt in seiner Festlegung aller auf größtmögliche kulturelle Flexibilität damit genauso falsch, wie der Linkskonservatismus, der glaubt, dass einmal bewährte Strategien ewig wären. Der Klassenkampf auf Höhe der Zeit ist queer und zwar in dem Sinne, dass er alle Formen der proletarischen Reproduktion mit einschließen muss, um erfolgreich zu sein … auch die traditionelle Kleinfamilie im Spessart.
Literatur:
Nguyen, D. H. (2023): The Political Economy of Heteronormativity. In: Review of Radical Political Economics. Jahrgang 55. Ausgabe 1. S.112–131.