Politische Ökonomie der Heteronormativität (1/2)

⋄ Die Review of Radical Political Economy sammelte Aufsätze, welche den Forschungsstand der feministischen politischen Ökonomie aufzeigen.

⋄ Sirisha C. Naidu begreift diese in der Tradition Tithi Bhattacharyas als Krise der Reproduktionszyklen der Ware Arbeitskraft.

⋄ Die Senkung des Wertes der Ware Arbeitskraft kann das Kapital nur durch zeitgleiche Abwertung der Reproduktionsarbeit erreichen.

⋄ Dazu verfolgt es im globalen Süden und Norden auf Grund der unterschiedlichen ökonomischen Voraussetzungen verschiedene Strategien, entweder durch Kommodifizierung oder durch Desozialisierung.

⋄ Im globalen Süden spielt die Natur als Ressource der Reproduktion eine bedeutende Rolle im Klassenkampf des Semiproletariats.
Den Blick durch die Genderbrille schärfen

Manchmal muss man sich auch ein Jubiläum an den Haaren herbei ziehen. Die Review of Radical Political Economics feiert 50 Jahre feministische politische Ökonomie. Der Anlass ist kein festes Datum, sondern die Tatsache, dass 1972 noch 2% aller Professuren in den Wirtschaftswissenschaften von Frauen* besetzt waren und es an vielen Fakultäten kein Verständnis dafür gab, „wozu man Frauen oder Marxisten“ brauche. Akademikerinnen wurden noch ohne jeden Aufschrei herabgewürdigt oder sexuell belästigt; ein Zustand, der auch heute noch lange nicht überwunden ist. Eine politische Ökonomie der Heteronormativität wurde verlacht und Frauen hatten sich zwischen Feminismus und „richtigen Wirtschaftswissenschaften“ zu entscheiden.

Seither hat sich vieles geändert, wenn auch nicht alles. Feministische Forscher*innen haben entweder eigene Institute gegründet oder konnten Anerkennung in etablierten Einrichtungen gewinnen. Und dennoch muss feministischer Marxismus und eine genderzentrierte Kritik der politischen Ökonomie noch immer gegen Vorurteile kämpfen. Die Review of Radical Political Economics druckte daher einige Aufsätze zur zeitgenössischen Forschung aus diesen Gebieten ab. Zunächst widmen wir uns einem Aufsatz von Sirisha Naidu.

Politische Ökonomie der Heteronormativität

Sirisha Naidu sieht das Patriarchat in der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion angesiedelt. In dieser muss die Arbeitskraft auf einem Niveau reproduziert werden, auf dem sie auch langfristig für das Kapital nutzbar ist. Die Krise der Care-Arbeit ist demnach auch eine Krise der gesamten Reproduktion proletarischer Arbeitskraft und wirkt somit auf die Produktions- und Zirkulationssphäre zurück bzw. liegt in ihr begründet. Da Produktion und Reproduktion die genderdominiertesten Bereiche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind, ist hier auch nach der Wirkmacht des strukturellen Sexismus zu suchen. Denn Menschen, welche in der unbezahlten sozialen Reproduktion konkret arbeiten, sind doppelt von kapitalistischen Krisen betroffen, da sie zwar mittelbar von der Lohnarbeit abhängen, unmittelbar jedoch keine Verfügungsgewalt über den Lohn besitzen.

Liegt das Problem der Heteronormativität in der Reproduktion der Ware Arbeitskraft begründet, dann muss sich ihr Charakter auch abhängig vom Stand der Produktivkräfte unterscheiden. Im globalen Süden, in dem Arbeitskraft so billig ist, dass auf Produktivität nicht geachtet werden muss (Näheres hier), erscheint sie anders als in einem Staat wie Deutschland. Sexismus und Heteronormativität sind dadurch mit den Produktivkräften unmittelbar verbunden und wirken wechselseitig dialektisch (Näheres hier).

Die Reproduktionszyklen

Dialektik bedeutet konkret folgendes. Jedem Produktionskreislauf, der nach Marx die Form

G-W … P … W’-G’

annimmt, steht ein Reproduktionsprozess der Ware Arbeitskraft gegenüber, der in der Form

G-A’ … P … A-G (Naidus Notationen wurden ein wenig an die deutsche Sprache angepasst)

erscheint. Da ersterer bekannt sein dürfte, zum zweiten. G ist das Geld, dass ein*e Arbeiter*in zum Kauf der notwendigen Waren zur Reproduktion der Arbeitskraft zur Verfügung hat. Damit kauft sie ihre Arbeit A’, in der nicht nur die Arbeit zur Produktion der eigenen Subsisdenzgüter steckt, sondern auch der Mehrwert, weshalb der Anstrich vor der Produktion erscheint. P ist der Produktionsprozess, in dem die Arbeiter*in nun ihre Arbeitskraft A verkauft und dafür den Geldbetrag G erhält, um diese zu reproduzieren. Die Differenz zwischen A’ und A, also dem Wert der Ware Arbeitskraft und der Arbeit selbst, ist die Differenz, die sich der Kapitalist als Mehrwert einbehält. In A’ verstecken sich jedoch nicht nur Waren, inklusive des Mehrwerts, sondern auch die Arbeit, die außerhalb der kapitalistischen Produktionssphäre für die dauerhafte Reproduktion der Ware Arbeitskraft notwendig ist:

A’ = A + M + AU

AU ist hierbei die unbezahlte Arbeit. Die Summe zählt auf, dass die Arbeiter*in für sich lohnarbeitet (A), den Mehrwert des Kapitalisten schafft (M) und darüber hinaus unbezhalte Reproduktionsarbeit leistet, um die eigene Arbeitskraft zu erhalten (AU). A’ wiederum ist im Durchschnitt auf einer bestimmten kulturellen Stufe ein Fixwert, außer die Klassenkampfsituation des Proletariats ist so günstig, dass sie mehr Geld erhalten, als zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft erforderlich ist, oder so ungünstig, dass sie diesen Gegenwert unterschreiten. Möchte die Bourgeoisie die Mehrwertrate M/A (man könnte auch analog zum Kapital m/v schreiben) steigern, muss sie notwendigerweise AU minimieren. Das ist aber schon alleine dadurch problematisch, dass eine Mehrwertratenerhöhung durch Erhöhung der Arbeitsintensität oder durch Verlängerung der Arbeitszeit der Proletarier*in immer mehr die Möglichkeit nimmt, Tätigkeiten zur Reproduktion selbst zu verrichten.

Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie

Zur Bewältigung dieses Widerspruchs gibt es zwei Methoden: Entweder wir die unbezahlte Arbeit selbst kommodifiziert, indem zum Beispiel die Frauen selbst arbeiten gehen und die Kinderpflege durch professionelle Tagesstätten übernommen wird. Um jedoch die nun um das doppelte angestiegene Arbeitskraft zur selben oder höheren Mehrwertrate beschäftigen zu können, müsste ebenso viel Kapital akkumuliert sein. Die Bedingung wäre

(A’1 + A’2) – (A1 + A2) > A’ – A – AU

Das gesamte Haushaltseinkommen A ist nun aufgeteilt in zwei individuelle Einkommen. Nehmen wir an, dass weibliche und männliche Arbeitskraft unter den Bedingungen einer modernen Produktionsweise gleich gut verwertbar sind, lässt sich diese Ungleichung umso besser erfüllen, je geringer die individuellen Haushaltseinkommen sind. Historisch hat sich der Druck auf das zweite Einkommen, dass der Frauen, als gesellschaftlich durchsetzbar erwiesen. Da jedoch die erhöhte Ausbeutung in der folgenden Produktionsperiode eine niedrigere Kaufkraft des Proletariats zur Folge hat, lässt sich diese Ungleichung dauerhaft nur durch permanenten Kapitalstrom von außen, z.B. durch die Überausbeutung der kapitalistischen Peripherie verwirklichen. Dieses wäre das Konzept der imperialistischen Zentren.

In der kapitalistischen Peripherie hingegen, aus dem die Profite beständig abgezogen werden, nutzt die Bourgeoisie eine andere Methode, um AU zu senken. Hier kann sich weder genug Kapital akkumulieren, um die gestiegene Lohnarbeiter*innenzhal zu beschäftigen, noch ist die Arbeit so produktiv, dass Körperkraft keine Rolle mehr spiele. Hier wird die AU dadurch reduziert, dass sie gar nicht bezahlt wird und somit aus der Verwertungsgleichung herausfliegt. Kurzfristig bedeutet dies, dass sich das Proletariat nicht dauerhaft reproduzieren kann, was funktioniert, wenn es ohnehin einen Arbeitskräfteüberschuss gibt. Oder es heißt eben, dass die unbezahlten Arbeiter*innen außerhalb der kapitalistischen Sphäre arbeiten und beispielsweise durch Arbeit auf einem eigenen Feld, im Garten oder in lumpenproletarischen Dienstleistungen einen Teil des Familieneinkommens mit bestreiten. Diesen Fall sehen wir vor allem im afrikanischen Semiproletariat (Näheres hier) verwirklicht.

Rosa Luxemburgs Feststellung, dass in imperialistischen Ländern, die gesamte Reproduktionssphäre kommodifziert wird, muss daher folgendermaßen präzisiert werden. Es ist nur ein Trend der imperialistischen Länder, die mit entsprechend produktiven Methoden genug Kapital akkumulieren, um die gestiegene Lohnarbeiter*innenzahl beschäftigen zu können und sei es durch Überausbeutung der kapitalistischen Peripherie. Dieser Trend ist aber nicht allgemein und für jedes Land gültig. Es gibt auch Länder, in denen die unbezahlte Arbeit einfach desozialisiert wird. Und das ist messbar. Nach Angaben der ILO ist 70% der gesamten Arbeit in Niedriglohnländern informeller Natur.

Zuspitzung der Widersprüche um modernen Imperialismus und die Umweltfrage

Damit ist die Argumentation jedoch noch nicht an ihrem Ende. Die Widersprüche spitzen sich international zu. Während in der Peripherie die proletarischen Haushalte auf informelle Arbeit angewiesen sind, die nicht in der Sphäre der Warenproduktion stattfindet, ist das imperialistische Kapital bestrebt, die ganze Welt auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten in Waren zu verwandeln. Im Landgrabbing spitzt sich dies zu. Imperialistische Konzerne kaufen das Land und die Ressourcen auf, welche das periphere Proletariat benötigt, um sich selbst zu reproduzieren. Was in Marxens Artikel über das Verbot des Reißigsammelns während der ursprünglichen Akkumulation anklingt, kehrt im globalen Maßstab wieder, nur das sich nun die unbezahlte Arbeitskraft gar nicht mehr proletarisieren lässt, weil das periphere Kapital dafür zu gering ist. Dies gilt nicht nur für den Boden, sondern alle Arten von Gemeingütern, wie Wasser, Holz, etc..

Springen wir wieder auf die konkrete Ebene zurück. Wenn die unbezahlte Arbeitskraft keinen Beitrag mehr zur Reproduktion leisten kann, wird sie überflüssig und damit prekär. Unter der Bedingung, dass diese Arbeit vorrangig von Frauen* durchgeführt wird, sind es konkret Frauen, die überflüssig werden. Die Dialektik des Kapitalismus kehrt im Sexismus brutal zurück. Während zu Beginn durch die Gleichmachung der Ware Arbeitskraft ein gewisser Grad an Überwindung des Patriarchats gegeben war, schlägt mit voll entwickelter Warenproduktion dieses emanzipatorische Potential wieder in sein Gegenteil um.

Kommen wir vor diesem Hintergrund dazu, warum Begriffe wie Heteronormativität oder eine Schreibweise wie Frauen* für Marxist*innen relevant sind: der beschriebene Prozess ist doppelseitig. Auf der einen Seite ist er blind gegenüber dem biologischen Geschlecht. Wenn Frauen zum Beispiel als Näherinnen besser auszubeuten sind und die Männer eher informell arbeiten, dann wird das Kapital dies nutzen. Historisch konkret betrifft es global dennoch in der Mehrheit Frauen und zwar Frauen* in der kapitalistischen Peripherie. Und dieser Abwertung der Arbeitskraft manifestiert sich dann in geschlechtlich gelesenen Erscheinungsformen: geringere Bildung, geringerer politischer Einfluss, geringerer Wert (was mit der Interpretation eines einfachen Zugriffs – auch in sexueller Hinsicht – verbunden ist).

Klassenkampf und Ideologie

Auf der Ebene der sozialen Beziehungen ist die Erhöhung der Mehrwertrate, sprich die Erhöhung der Ausbeutung, auf Kosten der unbezahlten Reproduktionsarbeit nichts anderes als Klassenkampf. Jede Verlängerung des Arbeitstages und jede Erhöhung der Arbeitsintensität führt dazu, dass die Proletarier*in selbst nicht mehr für die vollständige Reproduktion der Arbeitskraft Sorge tragen kann und diese auslagert. In den imperialistischen Kernstaaten erfolgt die Auslagerung durch die Proletarisierung der Reproduktionsarbeit. Die Bourgeoisie bezahlt bei ausreichend akkumuliertem Kapital lieber zwei Arbeiter*innen pro Haushalt, die dann die Pflege der Kinder, der Alten, Kochen und Putzen von anderen Lohnarbeiter*innen übernehmen lassen. Das Haushaltseinkommen ist an sich zwar höher, es wird aber auch mehr Lohn für die Bezahlung dieser Lohnarbeiten (und sei es indirekt über Steuern) benötigt. Hier hat das Kapital in der Reproduktion neue Profitquellen. Das führt zu zwei ideologischen Reflexen. Erstens möchte die Proletarier*in natürlich selbst die Kosten für die Reproduktion senken und gerät damit in einen Widerspruch mit den Reproduktionsarbeiter*innen. Wenn diese aus dem Ausland, beispielsweise aus der Ukraine oder Polen kommen, verbindet sich diese Opposition leicht mit nationalistischen Stereotypen, die eine geringe Bezahlung rechtfertigen. Und zweitens wird die Proletarisierung der gesamten Bevölkerung als Emanzipation verkauft. Da die Arbeiter*innen nicht mehr auf konkrete Familienstrukturen angewiesen sind, werden diese materiell willkürlicher und können ganz plurale Modelle und Formen annehmen.

Vice versa verläuft der ideologische Prozess im globalen Süden umgekehrt. Hier hängt die Reproduktionsfähigkeit der Arbeitskraft maßgeblich von der unbezahlten Arbeit und dem verlässlichen Zugriff darauf ab. Traditionelle oder zumindest verbindliche Strukturen gewinnen an Bedeutung. Allerdings sind hier Frauen* nicht kritiklos bereit, sich unterzuordnen. Sie erkennen jedoch deutlicher die materiellen Zwänge, welche der Kapitalismus ihnen als Hürde der Befreiung in den Weg legt und sind anders als viele bürgerliche Feminist*innen in Europa und den USA mehr bereit, für eine Überwindung des gesamten Systems einzutreten.

Und eine finale Komponente ist die Bedeutung der Umwelt in den Klassenkämpfen des globalen Südens. Während die Klimaerwärmung im Westen abgesehen von unangenehm warmen Sommern noch ein abstraktes Problem bleibt, ist der Erhalt der Qualität der Natur als Quelle der Reproduktion der Ware Arbeitskraft im globalen Süden unerlässlich. Verseuchtes Trinkwasser, die Einhegung und Abholzung von Wäldern, die Austrocknung von Böden, ausbleibender Regen auf dem eigenen Feld. All dies stellt den prekären Reproduktionsmechanismus der Ware Arbeitskraft unmittelbar in Frage. Dem können die semiproletarischen Haushalte auf zwei Arten begegnen: erstens im Kampf um höhere Löhne oder im Kampf um die Subsisdenzmittel. Beide Kämpfe tragen sie nicht nur gegen die eigene Bourgeoisie aus, sondern hauptsächlich gegen das imperialistische Kapital, dass Kapital bei zu hohen Löhnen abzieht und das Land aufkauft.

Zusammenfassung

Sirisha Naidu legt eine exzellente Analyse der Zusammenhänge zwischen Kapitalakkumulation, Feminismus und der globalen Arbeiter*innenklasse vor. Sie lehnt sich stark an Tithi Bhattacharya an, die sehr konsequent die Komplexität der Reproduktion der Ware Arbeitskraft unter den verschiedenen Bedingungen des Weltmarkts mit konkreten politischen Fragen zu verbinden weiß. Die Anschlussfähigeit zu Garcias Modell des allgemeinen Gesetzes der Kapitalakkumulation und der Verteilung von Reproduktionsarbeit fällt auf. Und auch, wenn es sich vielleicht verbietet, einzelne linke feministische Theoretiker*innen gegeneinander auszuspielen, ist es näher am historischen Materialismus und der Kritik der politischen Ökonomie als die jüngeren Werke von Silvia Federici. Diese Analyse erfüllt einen Anspruch Bhattacharyas, nämlich einen Feminismus für die 99% zu entwerfen.

Der Aufsatz zeigt letztendlich, dass Feminismus ein nicht reduzierbares Element der Analyse der politischen Ökonomie ist. Biologisierende und moralisierende Kritik gegenüber vermeintlicher Linksliberalität verbietet sich. Allerdings lässt sich das Patriarchat des modernen Kapitalismus eben nur durch Aufhebung der Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit, sprich durch Lohnarbeit überhaupt, überwinden.

Literatur:

Naidu, S. (2023): Circuits of Social Reproduction: Nature, Labor, and Capitalism. In: Review of Radical Political Economics. Jahrgang 55. Ausgabe 1. S. 93–111.

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