⋄ Wenn im Kapitalismus nur eine Minderheit profitiert, während die Mehrheit der Weltbevölkerung davon wenig hat, warum lassen es sich so viele Menschen gefallen? ⋄ Titus Stahl verglich zwei konkurrierende Konzepte: das marxistische des falschen Bewusstseins und das postmoderne der heuristischen Ungerechtigkeit. ⋄ Nach Stahl könne sich die Theorie des falschen Bewusstseins weder auf Evidenz, noch auf logische Konsistenz stützen, sondern argumentiere autoritär. ⋄ Hermeneutische Ungerechtigkeit bedeutet, dass Unterdrückte zwar sehr wohl ihre Unterdrückung erkennen, aber ihnen die Konzepte und Begriffe fehlen, diese intellektuell zu fassen. ⋄ Stahl versucht sich an einer materialistischen Aktualisierung der heuristischen Ungerechtigkeit, hat jedoch einen falschen Begriff vom „notwendig falschen Bewusstsein“ im Marxismus. |

Was genau Ideologie ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Fest steht meist nur: Ideologen, das sind immer die anderen. Sei es die AfD mit einer nationalistischen oder rassistischen Ideologie oder die Grünen mit einer Gender- und Öko-Ideologie. Für Marxist*innen ist der Begriff der Ideologie eng mit dem des falschen Bewusstseins verknüpft, worunter allerdings zuweilen sehr viel verstanden werden kann. Für Lenin war falsches Klassenbewusstsein mehr oder weniger die Vorstellung einer Trennbarkeit politischer und ökonomischer Kämpfe. Doch immer, wenn die Arbeiter*innen sich Dinge gefallen lassen – Aufrüstung, Lohnzurückhaltung, Kürzung des Sozialstaats, etc. – macht man es sich nur mit dem falschen Bewusstsein zu einfach. Es wäre schon genauer zu erklären, was damit gemeint ist.
Titus Stahl von der Universität in Groningen hat dem Begriff des falschen Bewusstseins das Konzept der hermeneutischen Ungerechtigkeit gegenübergestellt. Haben die Unterdrückten die Welt also bisher nicht falsch gesehen, sondern falsch interpretiert?
Das Problem
Wir leben in einem gesellschaftlichen System, in dem sich ein kleiner Teil der Bevölkerung den überwiegenden Teil des Reichtums aneignen kann. Die Reichen tun das sogar so sehr, dass sie gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld, denn selbst, immer neue, die Natur zerstörende Produktion anzuleiern, findet seine Grenze darin, dass die Mehrheit der Bevölkerung eben so wenig verdient, dass sie gar nicht alles kaufen können, was sie herstellen. Das ist dabei nicht einmal sonderlich neu. Vor Jahrhunderten schon haben Bauern ihren Grundherren und den Klerus ausgehalten. Davor waren es Sklaven, Kleinbauern und Schuldknechte, welche die Last der Arbeit zu tragen hatten, während aristokratische Klassen sich Kunst, Philosophie und Genuss hingeben konnten. Daraus ergibt sich eine denkbar einfache Frage: warum machen das die Leute eigentlich so lange mit? Wieso gibt es in einer sexistischen Gesellschaft so viele Frauen, die ihre Weiblichkeit im Sinne eines für reproduktive Zwecke vulnerablen Körpers auch noch feiern? Wieso vertrauen in einer rassistischen Gesellschaft noch so viele subalterne Gruppen der Polizei als institutioneller Form dieser Gesellschaft? Und wenn die Arbeiter*innen sich mal auflehnen, warum machen sie so häufig bei Klassenkompromissen halt anstatt die ganze Welt zu fordern?
Der Schlüssel für die Antwort liegt zweifellos in den Vermittlungsinstanzen der Herrschaft. Die können zum einem ganz materiell Polizei, Armee und die Möglichkeit des Kapitals, Lohnabhängige aus den Betrieben auszusperren, sein. Aber nicht hinter jedem Baum kann ein Polizist hocken und würde das Kapital jeden Klassenkampf bis aufs Blut ausfechten, fehlten schon bald neue Proletarier für Phasen beschleunigter Kapitalakkumulation. Es muss also noch eine gehörige Portion Ideologieproduktion hinzukommen, um das kapitalistische System der Ausbeutung der Arbeiter*innen und Überausbeutung des peripheren Proletariats am Laufen zu halten.
Aber ist Ideologie eine epistemische oder eine heuristische Frage? Kurz zum Unterschied. Bei der Epistemologie handelt es sich um die Wahrheitserschließung. Demgemäß würden die Ausgebeuteten auf Grund bestimmter Mechanismen ihre Ausbeutung nicht erkennen können. Wenn es sich um ein heuristisches Phänomen handelte, dann wäre es eine Frage der Interpretation der Wahrheit. Die Ausgebeuteten würden zwar alle Zumutungen erkennen, die ihnen angetan werden, ihnen würden jedoch Begriffe und Konzepte fehlen, um diese als einen Verstoß gegen ein ihnen adäquates normatives System zu begreifen.
Probleme der Idee vom falschen Bewusstseins
Titus Stahl wollte nun beide Erklärungsmuster für die„freiwillige Knechtschaft“ vergleichen, und zwar von einem materialistischen Standpunkt aus. Als eine Form der Erklärung von Ideologie als epistemologischen Problem wählte er das „falsche Bewusstsein“ als Begriff aus dem Marxismus. Stahl wird in der Folge den Begriff falsch verwenden, aber er soll hier erstmal so benutzt werden, wie der Autor ihn charakterisiert. Ein Richtigstellung folgt zum Schluss.
Er ordnet dem „falschen Bewusstsein“ drei Charakteristika zu. Erstens sei ein „falsches Bewusstsein“ eine falsche Anschauung von der Gesellschaft. Die Dinge verhielten sich in Wahrheit anders, als sie im Bewusstsein rekonstruiert würden. Das Bewusstsein repräsentiert also reale Kausalitäten falsch. Zweitens hat ein ideologisch hergestelltes falsches Bewusstsein die Funktion der Herrschaftserhaltung und werde daher bewusst von der herrschenden Klasse in die Wege geleitet. Und drittens habe Ideologie eine gesellschaftliche Genesis, die auf die Gesellschaft als Basis zurückführbar sei. Kurzum sei Ideologie die Struktur falscher Glaubenssätze, die durch die herrschende Klasse erzeugt werde. Dass unter den Quellen, auf die er sich bezieht, bestenfalls Terry Eagleton als Marxist bezeichnet werden kann, sollte bereits aufhorchen lassen. Auch werden weder die Deutsche Ideologie, die Einleitung in die Hegelsche Rechtsphilosophie, die Grundrisse oder das Kapitel im Kapital über den Warenfetischismus herangezogen.
Auf Grundlage dieser Vorstellung von falschem Bewusstsein setzt Stahl nun seine Kritik an. Die erste ist ein sehr allgemeines erkenntnistheoretisches Dilemma. Um eine Aussage über die Wahrheit zu verifizieren oder falsifizieren, bedarf es bereits als wahr anerkannter Prämissen, die sich ab irgendeinem Beginn der Wahrheitsprüfung entziehen müssen, da es kein übergeordnetes gültiges System mehr gibt. Zu sagen, es gäbe ein richtiges Bewusstsein, dass dem falschen gegenübergestellt werden könne, sei somit autoritär. Zweitens gäbe es überhaupt keine Evidenz für die strukturelle Existenz eines falschen Bewusstseins. Durch die Geschichte hinweg hätten die Leute revoltiert oder Parallelstrukturen aufgebaut, die sich der bürgerlichen Ideologieproduktion entzögen. Drittens sei nie eine genauere Bestimmung der praktischen Konstruktion eines falschen Bewusstseins durch die marxistische Literatur erfolgt. Selbst, wenn man zustimmte, dass falsche Glaubenssätze durch soziale Strukturen erzeugt würden, hilft es wenig, wenn man über den Modus operandi schweige. Und viertens erkläre die Rede vom „falschen Bewusstsein“ zu viel aus einer individuell psychologischen Ebene heraus. Daraus ließe sich nur schlussfolgern, dass Klassenbewusstsein entweder einer Frage des Glücks sei, eine gewisse psychische Resilienz gegenüber ideologischer Beeinflussung zu besitzen oder aber, die Theorie könne nicht erklären, warum sich systematsch kein Gegenbewusstsein aufbaue.
Hermeuntische Ungerechtigkeit
Nun vergleicht Stahl diese Interpretation eines falschen Bewusstseins mit Miranda Frickers Begriff der hermeneutischen Ungerechtigkeit. Dieser baut auf Wittgensteins Einsicht auf, dass man nur schweigen könne, wovon man nicht sprechen kann. Eine Kultur biete demnach immer einen gewissen historisch gewachsenen Fundus an Symbolen, Grammatiken, Begriffen und Konzepten. Sowohl der Zugang zu diesen hermeneutischen Ressourcen sei abhängig von der sozialen Lage, aber auch die Möglichkeit, diese hermeneutischen Ressourcen überhaupt zu schaffen. Ein Mensch ist ohne diese jedoch nur in der Lage, Ungerechtigkeit zu erfahren, aber nicht, sie sinnstiftend zu formulieren. Ein Beispiel. Die längste Zeit der bundesdeutschen Geschichte galt Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftat. Das Konzept war, dass Frauen mit der Eheschließung sowohl gewisse Rechte eingingen, wie sozial abgesichert zu sein, selbst für den Fall einer Scheidung. Auf der anderen Seite hätten sie im Rahmen gesellschaftlich akzeptierter Normen allerdings auch dafür eine Pflicht sexueller Verfügbarkeit zu leisten, die im Gegenzug nicht verwehrt werden können und wozu sich der Mann notfalls auch – quasi in Notwehr – gewaltsam sein Recht verschaffen könne. Es ist dabei nicht davon auszugehen, dass die Frauen die Gewalt, die ihnen angetan wurde, nicht erfahren hätten. Aber das hermeutische Werkzeug, jede Art nicht-einvernehmlicher sexueller Handlung als Vergewaltigung zu erkennen, fehlte ihnen und musste erst durch die Einheit von Überzeugung und juristischer Definition begreifbar gemacht werden. Insofern ist hier der Zugang zu hermeneutischen Ressourcen klassenabhängig, da sowohl die soziale Absicherung in der Familie, als auch die notfalls erzwungene Reproduktion der Ware Arbeitskraft, beide im Interesse des Kapitals stehen.
Soweit, so schlüssig. Stahl formuliert aber auch hier einen Strauß an kritischen Aspekten. Erstens könne die Theorie nicht erklären, warum benachteiligte Gruppen ihre hermeneutischen Ressourcen nicht einfach selbst schafften. Stahl dreht das Argument sogar weiter und sagt, dass sie dies beständig tun. Jede Art von Subkultur stellt eine eigene Hermeneutik auf, die nicht von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt werden muss, aber dennoch eigentlich zur Verfügung stünde. Zweitens beschränkt sich diese Theorie auf Situationen, wo Betroffene zwischen Leidensdruck und seiner Formulierung in einen Widerspruch gerieten. Damit werden aber all jene Aspekte der Ideologie nicht erfasst, die performativ auf Wünsche, Verlangen, Interessen, etc. wirkten. Und drittens ließe das Konzept noch unklar, ob es sich um hermeneutische Lücken oder hermeneutische Fehler handele. Kann man Leiden nicht formulieren oder nicht richtig formulieren und in welchen Fällen, trifft was zu?
Stahls materialistischer Kompromiss
Insbesondere stößt Stahl negativ an Fricker auf, dass nach ihr der Mangel an hermeneutischem Werkzeug der Beherrschten durch den Ausschluss dieser von den ideologisch einflussreichen Positionen erklärt wird. Allerdings beobachten wir in der Realität etwas vollkommen anderes. Die gesellschaftlichen Schranken sind für Individuen ohne Zweifel durchlässig. Wir haben eine weibliche Bundeskanzlerin genauso erlebt wie einen schwarzen Präsidenten. Der Witz wäre eine Erklärung dafür, warum es allerdings eben nicht so ist, dass eine Angela Merkel hermeutische Ressourcen für Frauen oder Obama für die schwarze Community geschaffen haben, sondern alle mehr oder weniger durch die herrschende Hermeneutik in ihre Positionen gekommen sind und diese reproduziert haben.
Stahl argumentiert hierbei für einen Begriff „unvollständiger Konzepte“. Dies ist ein Konzept, das mit einem Bein in der erkennbaren und allgemein geteilten Realität steht, mit dem anderen Bein aber frei schwingt, so dass er durch Machtstrukturen geprägt werden kann. Als Beispiel führt er etwa den Begriff einer Lady an, die auf der einen Seite zwar auf die gegebene größere Gefährdung weiblicher Körper in einer patriarchalen Welt Bezug nimmt, auf der anderen Seite aber die Schutzwürdigkeit und damit teilweise Entmündigung von Frauen als notwendige Konsequenz mit einschließt, obwohl auch die patriarchalen Strukturen änderbar wären. Solche unvollständigen Begriffe könnten genau dann ideologisch genannt werden, wenn sie der Aufrechterhaltung der herrschenden Strukturen dienen.
Und genau beim Zusammenspiel der materiellen gesellschaftlichen Gegebenheiten und der Füllung unvollständiger Begriffe hält Stahl Marx und Engels für relevant. Denn alle Mitglieder einer Gesellschaft würden zu kooperativen Praxen gezwungen, welche durch die vorgefundenen Machtstrukturen gestaltet sind. Darin würden sie zum einen mit der realen Basis der unvollständigen Begriffe konfrontiert, an die dann die herrschende Klasse die interpretative Dominanz ansetzen könne. Lohnzurückhaltung als Mittel gegen die Krise ist genau deshalb Proletariern so einleuchtend, weil das Problem der Entlassung bei mangelnden Gewinnen in der kapitalistischen Arbeitsteilung real ist, die Bourgeoisie aber über eine hermeneutische Vormachtstellung verfügt, welche die Mehrwertproduktion und Unterkonsumtion als Ursachen der Krise außen vor lassen kann.
Notwendig falsches Bewusstsein
Wir lassen dahingestellt, ob ein solches Konzept die theoretischen Probleme der Erklärung von Ideologie löst oder eine Praxis zum Bruch bürgerlicher Ideologie ermöglicht und wenden uns zum Schluss nochmal einer Korrektur von Stahls Begriff des „falschen Bewusstseins“ zu. In der marxistischen Theorie sprechen wir nämlich gar nicht von der Ideologie als einem falschen Glauben im unmittelbaren Sinne, sondern von Ideologie als „notwendig falschem Bewusstsein“ oder „objektivem Schein“. Beide Begriffe wurden von Marx nicht selbst bzw. nicht systematisch benutzt, aber sie haben in der marxistischen Theoriebildung einen umfassenden Konsens vom klassischen Marxismus-Leninismus bis hin zur kritischen Threorie gefunden. Nehmen wir aus Marxens Frühwerk die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie:
„Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur |Ehrenpunkt|, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“ (MEW1, S.378)
Für die bürgerliche Moderne kann man getrost an jeder Stelle für Religion auch Ideologie einsetzen. Der Punkt von Marx ist, dass die Ideologie die Logik der Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit ist. Der Mensch ist aber eben kein oder besser gesagt, nicht nur allgemeines Wesen, sondern ein bestimmtes Wesen der Gesellschaft; im Wesentlichen bestimmt durch die Klassenzugehörigkeit, aber eben auch durch Race, Gender, Ability usw.. Entgegen dem unmittelbaren Erleben ist die Ideologie der „Rechtfertigungsgrund“ der Verstöße gegen die Interessen des Individuums vom Standpunkt der Allgemeinheit aus; aber eben phantastisch, da die Gesellschaft eben gar kein allgemeines Interesse besitzt, sondern materiell von einer herrschenden Klasse bestimmt wird. Oder wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest ausrufen:
„Aber streitet nicht mit uns, indem ihr an euren bürgerlichen Vorstellungen von Freiheit, Bildung, Recht usw. die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums meßt. Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist, ein Wille, dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen eurer Klasse.“ (MEW 4, S.477)
Dass Marx den konkreten Modus der Ideologieproduktion aussparen würde, ist ebenso verkehrt. Marx dekliniert diese nur dort konkret aus, wo er auch konkret wird, wie etwa beim Warenfetisch. Hier verhält es sich ja so, dass die Herrschaft der Menschen über die Menschen über die Ware vermittelt wird. Sind die Menschen getrennt von den Mitteln ihrer Reproduktion, müssen sie anderweitig an diese kommen, vorrangig, indem sie ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel verkaufen. Dieser bestimmt über eine festgelegte Zeitdauer über das Leben des Proletariers weit rigider als antike Sklavenbesitzer über ihre Sklaven. Da der Zweck der Lohnarbeit aus Sicht des Arbeiters jedoch eben der festgelegte Lohn zum Kauf der Mittel der Reproduktion ist und nicht die Erfüllung des Zwecks des Kapitalisten, der mit der Lohnarbeit aber praktisch dennoch erfüllt wird, erscheint es so, als ob ein Arbeitsvertrag einer unter gleichen sei. Das ist jedoch nur zur Hälfte wahr: Juristisch sind Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft gleich, materiell könnten sie unterschiedlicher kaum sein. In der Trennung der Produktionsmittel von den Arbeiter*innen liegt damit die Ursache begründet, warum die unmittelbare Herrschaft der Bourgeoisie über die Proletarier als vermittelt über Lohn und Waren erscheint und damit die Realverhältnisse auch zu Teilen verschleiert und eine Theoriearbeit notwendig macht, die diesen Schleier lüftet,
Der marxistische Ideologiebegriff geht also weit über die Vorstellung Stahls eines falschen Glaubens hinaus. Das ideologische Dilemma für Marxist*innen ist ein anderes. Die Ideologie wird wie das gesellschaftliche Systeme von de vorgefundenen Gesellschaft reproduziert. Um die vorgefundene Gesellschaft aber wesentlich zu ändern, benötigt es ein Bewusstsein, dass bereits außerhalb der existierenden Gesellschaft liegt, dass aber eben durch diese nicht produziert wird. Hier argumentieren insbesondere Kommunist*innen mit der revolutionären Praxis, die den Widerspruch zwischen unmittelbarer Erfahrung und allgemeiner Ideologie in Bewegung zu bringen versucht.
Zusammenfassung
Stahl versteht leider das Konzept des falschen Bewusstseins als notwendig falschem Bewusstsein gründlich verkehrt. Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass im politischen Gebrauch des Begriffs auch häufig von marxistischen und kommunistischen Organisationen hier unsauber gearbeitet wird. Es wäre dabei wünschenswert gewesen, wenn Stahl seine Kritik genauer referenziert hätte, an Lenin oder Lukacs oder Marx selbst.
Stahl tut andererseits gut daran, neben der Kritik an den Unzulänglichkeiten und idealistischen Einfallstoren, den realen Kern der hermeneutischen Ungerechtigkeit herauszuarbeiten. Denn auch wir Marxist*innen stehen im alltäglichen Kampf um Begriffe und Konzepte, die beständig von der herrschenden Klasse versucht werden, in Vergessenheit zu bringen. Ohne das Konzept der Ausbeutung als vollständig abzuschaffender Herrschaft des Menschen über den Menschen, mitsamt dem Pferdeschwanz bis hin zur Zerstörung des Planeten durch Umweltverschmutzung und imperialistischen Krieg, wäre eine marxistische Linke nicht in der Lage zu formulieren, welche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft über utopisch-sozialistische Vorstellungen eines vollen Lohns hinausgehen können. Einzig, wenn die Sprache nicht mehr als Ausdruck der Realität, sondern als Ersatz für diese oder gar die Realität selbst gehalten wird, fällt der Kampf gegen die hermeneutische Ungerechtigkeit in eine idealistische Identitätspolitik oder haltlosen Konstruktivismus zurück. Letztendlich bleibt die materielle Umgestaltung einer Gesellschaft, in welcher die Herrschaft der Menschen über Menschen als Herrschaft der Waren erscheint, dennoch die einzige Möglichkeit, eine verkehrte Welt wieder auf die Füße zu stellen.
Literatur:
Stahl, T. (2024): False consciousness, hermeneutical injustice, and ideological power. In: Philosophy and Social Criticism. Online First. DOI: 10.1177/01914537241308133.