Die Heuschrecken sind weitergezogen

⋄ Mitte der 2000er Jahre gab es eine heiße Diskussion um die Shareholder Value Orientierung vieler Unternehmen, die zu Substanzverlust und Renditefixierung führen würde.

⋄ Diliara Valeeva, Tobias J. Klinge und Manuel B. Aalbers haben in der
New Political Economy, wie sich die Ausschüttungen an Aktionäre seither entwickelt hat.

⋄ Sie zeigen, dass sich die Zahlungen an die Anteilseigner in den letzten 20 Jahren um 50% gesteigert hat.

⋄ Bei der Art der Auszahlung der Shareholder lassen sich bedeutende sektorale und regionale Unterschiede finden.

⋄ So schütten insbesondere Unternehmen in der Peripherie und im Primärgütersektor überdurchschnittlich hohe Dividenden aus, während die Unternehmenswerte hinterherhinken oder gar stagnieren.

Zeitreise ins Jahr 2003/04. Deutschlands Wirtschaft schrumpfte das bisher einzige Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei aufeinander folgenden Jahren. Die Arbeitslosiggeit hatte einen der höchsten Stände nach der Wiedervereinigung erreicht. Die zeitgleich eingeleiteten Hartz-Reformen schürten den Unmut in der Bevölkerung. An der Weltwirtschaft lag es diesmal nicht. Deutschland lag in der EU an letzter Stelle hinter den wachsenden Ökonomien der Nachbarländer. Es bedurfte also einer alternativen Erklärung für die Missstände und die SPD-Linke ernannte die Orientierung am Shareholder Value zum Sündenbock. Anstelle der geradezu familiären Unternehmensführer, die sich noch um ihre Angestellten sorgten und nur das Beste für den Wirtschaftsstandort Deutschland im Blick hätten, regierten nun die „verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen“ (Müntefering 2005). Die Debatte wurde damals heiß geführt. Liberale witterten eine Hexenjagd auf Manager und zeigten sich zurecht verblüfft, dass nach die Sozialdemokratie offenbar ihr eigenes Godesberger Programm vergessen hatte.

Fast 20 Jahre später hat sich die Debatte zwar wieder abgekühlt, Aktionär*innen gibt es jedoch immer noch und man fragt sich, was denn seit dieser Zeit aus der Shareholder Value Orientierung geworden ist. Diliara Valeeva, Tobias J. Klinge und Manuel B. Aalbers haben in der New Political Economy die Ausschüttungen an Aktionäre weltweit empirisch untersucht.

Exkurs: Klassenbestimmung der Shareholder

In den bürgerlichen Finanzwissenschaften unterscheidet man die Anteilseigner an einem Unternehmen in Shareholder und Stakeholder. Hierbei sind Stakeholder diejenigen, die direkten Einfluss auf den Geschäftsbetrieb nehmen und Shareholder diejenigen, denen zwar Unternehmensanteile gehören, die jedoch nur durch Stimmrecht auf Aktionärversammlungen die Leitlinien einer Unternehmensentwicklung mitbestimmen dürfen.

Marxistische Analyse beginnt selbstredend mit der Klassenfrage und hier haben sich zwei Hauptinterpretationslinien herausgebildet, zu welcher Klasse Shareholder zuzurechnen sind. Die eine Linie zählt Aktionär*innen als Finanzkapitalist*innen mit zur Bourgeoisie und betont damit, dass diese nicht mehr und nicht weniger Interesse an der Ausbeutung der Arbeiter*innen haben als die fungierenden Kapitalisten. Sie sieht das Finanzkapital als den abstraktesten Ausdruck des Kapitalprozesses G-[W … P … W’]-G’, nur dass es für sich den Produktionsprozess selbst ausgeklammert hat. Da es aber Anfangs- und Endpunkt des Kapitals teile, erfülle es Wesen und Zweck der Bourgeoisie.

Die zweite Interpretation zählt Aktionär*innen zur Rentiersklasse. Da sich Aktionär*innen aus allen Aspekten des Wertbildungsprozesses heraushielten, könne man sie nicht zur Bourgeoisie zählen. Vielmehr fiele ihnen eine Rente zu, deren Höhe sich im Interessengegensatz des Industriekapitalisten bestimme und vom Klassenkampf innerhalb der herrschenden Klasse und Monopolstellungen geprägt sei. Die Rente für die Aktionär*innen müsse der Kapitalist von seinem Unternehmerprofit abziehen, sowie Marx es mit der trinitarischen Formel beschreibt.

Letztendlich schließen sich beide Perspektiven nicht aus. Die Klassenposition bestimmt sich aus den sozialen Beziehung und aus der Stellung im Produktionsprozess. Der Produktionsprozess kann jedoch nach verschiedenen Seiten hin beleuchtet werden. Auf der Ebene der Produktion des Kapitals an sich nehmen Aktionär*innen die Stellung der Bourgeoisie ein und teilen das Interesse an der größtmöglichen Ausbeutung der Arbeiter*innen. Auf der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses fällt das gemeinsame Interesse auseinander und der Kampf um die Höhe des Anteils am Profit beginnt. Den Aktionär also von der Seite des Arbeiter*innenstandpunkts zu betrachten, hieße, seine soziale Beziehung zum Proletariat anzuschauen und diese füllt er als Kapitalist aus.

Shareholder Value Verteilung und Orientierung

Für den vorliegenden Fall ist jedoch die Perspektive der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion entscheidend. Während die Bourgeois ihre Revenue aus den Profiten speist, erhalten Rentiers eine Rente, die sich als Teil des Profits darstellt. Der Kampf um die Höhe des Anteils ist ein Klassenkampf zwischen Rentiers- und Kapitalistenklasse. Rentiers schießen dem Kapitalisten in der Regel Kapital vor, wovon sie entweder Anteile am Unternehmen erhalten (Shares) oder Zinsen auf einen Kredit erhalten. Haben die Rentiers Unternehmensanteile, sprich Aktien gekauft, so gibt es zwei Möglichkeiten, wie sie am Profit beteiligt werden. Entweder verkaufen sie nach einer gewissen Zeit ihre Anteile wieder an das Unternehmen, wobei der Preis der einzelnen Aktie durch die Kapitalakkumulation gestiegen ist (Buy Back) oder das Unternehmen zahlt einen Anteil am Profit als Dividende aus.

Es gibt nun verschiedene Motivationen für die Bourgeoisie, ihre Anteile zurückzukaufen oder Dividenden auszuzahlen. Zum einen beschneiden Dividenden den Profit und da Anteile auch zumeist auch Stimmrechte bedeuten, verliert die Bourgeoisie einen Teil ihrer Macht. Auf der anderen Seite braucht die Bourgeoisie gerade in schnellen Wachstumsphasen monetarisiertes Kapital. Die Rentiersklasse kann bei hinreichendem Stimmrecht eine Unternehmenspolitik der Shareholder-Value-Orientierung durchsetzen, welche die Berücksichtigung der Interessen der Anteilseigner über eine nachhaltige Entwicklung des Unternehmens stellt. In Rezessionsphasen hingegen veräußern Rentiers ihre Anteile lieber schnell, um nicht spätere Wertverluste in Kauf zu nehmen, Zusammenfassend kann man sagen, dass hohe Dividenden eine hohe Macht der Rentiers anzeigen und hohe Buy-Backs auf die Macht der Kapitalisten verweisen, zumal die Aktien in der Regel in der Höhe des Börsenwerts gekauft werden und dieser den Wert des akkumulierten Kapitals anzeigt bzw. dessen Bewertung durch den Markt. Natürlich zeigt auch ganz allgemein die Höhe aller Ausschüttungen an die Anteilseigner das Verhältnis zwischen diesen beiden Klassen an.

Gerade in den 2000er Jahren hat die Kritik an der Orientierung am Shareholder Value durch Gruppen wie Attac oder eben die SPD-Linke an Popularität gewonnen. Dieser Kritik wurde in mehrfacher Hinsicht jedoch widersprochen. Erstens zeigten einige Studien einen Rückgang der Ausschüttungen seit den 90er Jahren und damit einen Machtverlust der Rentiersklasse. Hier muss jedoch eingewandt werden, dass entsprechende Studien nur auf einzelne Länder begrenzt waren. In theoretischer Hinsicht wurde der moralisierende Impetus beanstandet. Anstatt auf den prinzipiellen Widerspruch von Kapital und Arbeit zu beharren, werde ein Nebenwiderspruch zwischen zwei Klassenfraktionen ins Zentrum gerückt, obwohl beide am Ende versuchten, die Ausbeutung des Proletariats zu maximieren. Auch diese Kritik an der Kritik war wiederum geneigt, durch die Referenz auf die nationalsozialistische Unterscheidung von “raffendem” und “schaffendem” Kapital selbst zu moralisieren und den Widerstand gegen problematische Praxen unter den Generalverdacht des Antisemitismus zu stellen,

Letztendlich muss der Widerspruch zwischen Rentiers- und Kapitalistenklasse in seiner dialektischen Ausprägung erfasst werden. Auf der Ebene der Produktion muss der Unterschied zwischen den beiden Klassen zunächst nicht beachtet werden. Das erkennt man bereits daran, dass die FDP das produzierende Kapital gleichermaßen vertritt wie das Finanzkapital. Erst, wenn die Zirkulation und die Reproduktion des Gesamtkapitals analysiert werden, sind die Unterschiede zum Teil erheblich. Die Reproduktionsprozesse werden in der Regel dann relevant, wenn sie ins Stocken geraten, also in Krisenzeiten. Zur Analyse konkreter Krisen und ihrer ideologischen Kaschierung durch die herrschenden Klassen, ist die differenzierte Betrachtung essentiell.

empirische Befunde: die zeitliche Entwicklung

Auf die genaue Methodik der Studie von Valeeva, Klinge und Aalbers soll hier nicht konkret eingegangen werden. Es soll reichen, dass diese Studie eine der umfassendsten ihrer Art ist.

Abb.: Valeeva, D., Klinge, T. & Aalbers, M. (2023). Siehe Literatur. S.178.

In der ersten Abbildung ist zunächst einmal deutlich zu erkennen, dass die Ausschüttungen an Aktionär*innen seit 2000 tatsächlich konstant von zwei auf drei Prozent angestiegen sind. Diese Aktienausschüttungen dürfen nicht mit der tendenziell sinkenden Profitrate verwechselt werden, sondern sie sind der Anteil des Profits, der als Rente für einen finanziellen Vorschuss gezahlt wird. Diese können auch bei sinkenden Profitraten steigen und schmälern so den Unternehmensprofit der Kapitalisten. Auch in der Studie sind die Ausschüttungen als Nettoverkäufe erfasst, was anzeigt, dass Geld das Unternehmen verlässt.

Dabei liegen die Dividenden durchgängig höher als die Rückkauferlöse. Dies kann man so interpretieren, dass tatsächlich die Interessen der Shareholder stärker berücksichtigt wurden als die Kapitalakkumulation innerhalb der Unternehmen. Im Gesamttrend der letzten beiden Jahrzehnte macht sich die Weltfinanzkrise garnicht so stark bemerkbar, wie man vielleicht erwarten würde. Während sie mehr als eine Korrektur zuvor drastisch gestiegener Kurse erscheint, hat sie die Dividenden fast gar nicht berührt. Interessant ist vor allen Dingen, dass die kleinsten börsennotierten Firmen durchschnittlich höhere Dividenden ausschütten als die größten 10%, während sich die Kurse weniger stark entwickelten. Der Druck auf kleine Kapitalisten scheint also wesentlich höher zu sein, als gegenüber den etablierten Konzernen … was wenig überrascht.

Abb.: Valeeva, D., Klinge, T. & Aalbers, M. (2023). Siehe Literatur. S.181.

Die Verteilung auf die Weltregionen gibt einen noch deutlicheren Einblick in die Funktionsweise der Ausschüttungen. Während sich in den USA Dividenden und Kapitalakkumulation in etwa die Waage reichen, was nur zum Teil durch das Steuersystem erklärt werden kann, das Wachstum also recht organisch erfolgt, gilt dies für keinen anderen Teil der Welt. Besonders bemerkbar macht sich die Shareholder Value Orientierung in Lateinamerika, wo nach den durch WTO und IWF erzwungenen Marktöffnungen westliches Kapital in die Unternehmen strömte. Dieses hat mittlerweile dazu geführt, dass zwar teilweise Rekorddividenden gezahlt werden, die Unternehmenswerte selbst aber fast stagnieren. Betroffen sind vor allen Dingen die Primärgüterindustrie mit Lebensmitteln und Rohstoffen, also die Branchen, die durch ihren Extraktivismus in der Kritik stehen.

empirische Befunde: Verteilung von Dividenden und Rückkäufen

In der sektoralen Analyse zeigte sich, dass in der Regel Unternehmen, die ihre Aktien teuer zurückkaufen auch hohe Dividenden ausschütten. Dies ist nicht ungewöhnlich, da die Aussicht auf Dividende die Aktienkurse steigen lässt. Es ist überrascht weiterhin wenig, dass der Sektor, der seine Aktionär*innen am stärksten verwöhnte, der Gesundheitssektor ist, insbesondere die Medikamentenindustrie. Die Bergbauunternehmen haben insbesondere von der gestiegenen Rohstoffnachfrage auf dem Weltmarkt profitiert, sowie von den geringen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen in den peripheren Ländern. Geringe Zuwachsraten und Dividenden verzeichneten in der Regel Branchen, die strenger staatlicher Regulierung unterliegen.

Abb.: Valeeva, D., Klinge, T. & Aalbers, M. (2023). Siehe Literatur. S.180.

Die nationale Analyse ist die am wenigsten aussagekräftige, da hier die Besonderheiten der nationalen Steuergesetzgebungen maßgeblichen Einfluss auf die Verteilung der Ausschüttungsformen hat. Es sticht auf der einen Seite die Ländergruppe um die USA, die Schweiz und Irland hervor, bei denen die Dividenden in etwa dem Aktienzuwachs entsprechen. Das gegenteilige Prinzip bildet die Tschechische Republik ab. Dies könnte evtl. in der interessanten Privatisierungsgeschichte seit 1991 begründet liegen, als staatliche Unternehmen über ein Vouchersystem in das Eigentum von sieben Millionen Kleinanleger*innen übergingen. Auch wenn seit 2001 ein großer Squeeze-Out eingeleitet wurde, sind solche Volksaktien in Tschechien noch breit gestreut und es gibt immer noch einen hohen Anteil an staatlichen unternehmen, die an die öffentliche Hand zahlen, was den Staat zu einer dividendefreundlichen Gesetzgebung motivieren könnte.

Abb.: Valeeva, D., Klinge, T. & Aalbers, M. (2023). Siehe Literatur. S.182.

Zusammenfassung

Die Diskussionen um den Shareholder Value sind seit der Mitte des ersten Jahrzehnts unseres Jahrtausends wieder abgeebbt. Das Phänomen bleibt hingegen bestehen und Unternehmen schütten beständig mehr und mehr an ihre Aktionäre aus. Die Daten aus der vorliegenden Studie verdeutlichen jedoch, dass nicht alle Regionen der Welt gleich stark betroffen sind. Insbesondere in Südamerika sehen wir, dass hohe Dividenden gezahlt werden, während der Wert der Unternehmen mehr oder weniger stagniert. Das ist gelebter Imperialismus. Überspitzt könnte man sagen: der Heuschreckenschwarm ist weitergezogen. Die Restriktionen an den Finanzmärkten in den kapitalistischen Zentren wurden mit einer weltweiten Marktöffnung versüßt und der globale Süden lockt mit dauerhaft billiger Arbeitskraft, schwachen nationalen Bourgeoisien und noch schwächeren Regierungen, welche der internationalen Kapitalmacht gegenüberstehen. Man sieht an diesem Beispiel, was sozialdemokratischer Antikapitalismus wert ist. Wenn das deutsche Kapital betroffen ist, entdeckt man seine Kritik an der hiesigen Gesellschaftsordnung. Wenn das deutsche Kapital fleißig selbst andere Länder ausbeutet, dann ist sie auch wieder ganz schnell vergessen.

Literatur:

Valeeva, D., Klinge, T. & Aalbers, M. (2023): Shareholder payouts across time and space: an internationally comparative and cross-sectoral analysis of corporate financialisation. In: New Political Economy. Jahrgang 28. Ausgabe 2. S.173-189.

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