Bereits der Versuch ist strafbar

⋄ Die Geschichte der DDR wird zumeist aus Sicht der Oppositionellen und der BRD geschrieben, selten aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft.

⋄ Katja Hoyer wollte mit ihrem Buch
Beyond the Wall und der deutschen Übersetzung Diesseits der Mauer eine Lücke füllen.

⋄ In deutschen Leitmedien wie Spiegel und Süddeutscher Zeitung wurde das Buch für diesen Versuch scharf angegriffen, während es von vielen ostdeutschen Rezensient*innen wohlwollend aufgegriffen wurde.

⋄ Hoyer stellt die NÖP Ulbrichts als Grundlage für Stabilität und bescheidenen Wohlstand in der DDR dar, während Honecker durch zunehmende Importabhängigkeit die Erfolge wieder verspielte.

⋄ Das Buch analysiert nicht historisch-materialistisch und enthält wenig Neues, aber dafür sachliche Fehler. Dennoch ist der Ansatz Hoyers fruchtbar.

Wie würde ein Buch über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aussehen, wenn es nur aus Sicht der Opposition geschrieben wäre. Man würde darin von der personellen Kontinuität der Eliten zwischen Hitlerfaschismus und Adenauerdemokratie lesen und dass die gleichen Richter, die im Dritten Reich Kommunist*innen verurteilten, nun die KPD verboten. Das linke Beamte aus dem öffentlichen Dienst flogen. Man würde lesen, dass erst ein Generalstreik, der von britischen Panzern niedergeschlagen wurde, Ludwig Erhardt zur sozialen Marktwirtschaft zwang. Man würde lesen, dass die Frau an den Herd gefesselt wurde, um die Arbeiter*innenklasse in Brotverdiener und Kinderversorger zu spalten. Die Vergewaltigung in der Ehe war die gesamte Zeit über legal. Man würde lesen, dass Adenauer mit der Währungsreform, dem Grundgesetz und der Schaffung der Bundeswehr immer den ersten Schritt zur Spaltung Deutschlands machte und ihm das Angebot eines vereinigten, aber neutralen Deutschlands bereits zu links war.

Das alles könnte man lesen. Aber unsere Geschichtsbücher schreiben die Geschichte aus Sicht der Eliten und der von ihnen ideologisch dominierten Bevölkerungsmehrheiten. Wer jedoch die Geschichte der DDR genauso schreiben möchte, begibt sich auf gefährliches Terrain. Und nichts anderes versuchte Katja Hoyer mit ihrem in England erschienenem und ins Deutsche übersetztem Buch Beyond the Wall/ Diesseits der Mauer. Ist ihr Versuch gelungen? Den zu erwartenden Aufschrei hat sie zumindest erreicht.

Was will das Buch?

Das Buch verfolgt den groben Ansatz, nämlich eine Geschichte der DDR aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung zu schreiben. Dafür sprach sie zunächst mit sehr vielen Zeitzeug*innen. Und zwar nicht nur Oppositionelle, Verfolgte und Führungskader, sondern ganz einfache Arbeiter*innen, Rentner*innen oder Mütter, alte Kommunist*innen oder neue Idole aus Sport und Kultur. Und auch einige Oppositionelle, Menschen, die fliehen wollten oder die unter Stalin Leid erfuhren. Das Ergebnis: Für den Großteil dieser Menschen war die Stasi oder die Mauer nicht so omnipräsent, wie für die bundesdeutsche Geschichtsschreibung. Kindergarten, Versorgung, der Arbeitsplatz, das waren die Fixpunkte vieler Menschen. Und so versuchte Hoyer eine Geschichte zu konstruieren, die sich stärker mit diesen Alltagserfahrungen deckt.

Diesem methodischen Ansatz entspricht auch die Form. Die Kapitel beginnen zumeist mit biographischen Skizzen, mit Ereignissen und Begebenheiten, die im Nachhinein in einen größeren Kontext eingeordnet werden.

Ein sehr entscheidender Aspekt ist, dass das Buch nur die deutsche Übersetzung eines Buches ist, dass für ein englischsprachiges Publikum geschrieben wurde. Dadurch wirkt das Buch manchmal seltsam, da Topoi expliziert werden, die für ein deutsches akademisches Publikum vorausgesetzt würde. Zudem ist das Buch ein populärwissenschaftliches und stützt sich in der Regel auch eher auf populärwissenschaftliche Bücher oder Überblickswerke, als auf historische Studien oder Detailanalysen. Das vergrößert noch einmal das Gefühl, dass eigentlich nicht viel Neues geschrieben wurde.

Ein ungewöhnlicher Beginn

Diesseits der Mauer beginnt aber schon mal recht ungewöhnlich mit der Geschichte deutscher Kommunist*innen in der Sowjetunion. Zwei Punkte möchte sie hierbei herausarbeiten: Erstens bildete die Führungsriege der DDR nicht die kommunistische Bewegung Deutschlands ab, sondern nur einen besonders sozialisierten Teil, der sich mehr durch Anpassungsfähigkeit und Nützlichkeit als durch Führungsqualitäten oder theoretische Leistungen qualifizierte. Und zweitens war dieser Teil dann auch noch multiplen Traumata unterworfen, die ein übertriebenes Sicherheitsverständnis zur Folge hatte. Als die deutschen Kommunist*innen aus Moskau oder aus den Konzentrationslagern zurückkehrten, fanden sie zudem ein anderes Volk vor als 1933. Der Großteil war durch die Nazi-Propaganda indoktriniert und empfand bis über den Krieg hinaus den Sieg der Roten Armee nicht als Befreiung, sondern als Niederlage. Die politischen Typen, welche die Mitglieder der Gruppe Ulbricht vor Augen hatten, als sie wechselnd die sowjetische Besatzung kommunistische, sozialdemokratische und liberale Bürgermeister einsetzen ließ, gehörten bereits der Vergangenheit an. Der Pragmatismus in einem zerstörten und besiegten Land ließ die neuen Machthaber gewähren, entwickelte aber auch kein Bewusstsein für das sozialistische Aufbauprojekt aus.

Über die Gründungsjahre der DDR

Darüber hinaus war es gar nicht Stalins anfängliche Motivation, ein sozialistisches Deutschland aufzubauen. Er war mehr an der Neutralität uoder den Reparationen interessiert und hielt das sowjetische System nicht auf Deutschland anwendbar. Zähneknirschend musste Stalin der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik zustimmen, nachdem die Westzonen mit der Währungsreform und der Gründung der BRD Fakten geschaffen hatten. Den Aufbau der DDR stellt Hoyer als eine Mischung aus Übernahme sowjetischer Strukturen, Anleihen bei Naziorganisationen und scheindemokratischer Strukturen dar. Sie verbleibt dabei im politischen Überbau und geht recht wenig auf reale Produktions- und Planungsprozesse oder betriebliche Mitbestimmung ein. Daneben stellt sie immer wieder Aspekte der materiellen Verbesserung des Lebens vieler Arbeiter*innen und Bauern ins Zentrum. Sie nimmt dabei nicht die durch den Marshallplan und durch imperialistische Extraprofite unterstützte Entwicklung der Bundesrepublik, sondern das Leben in der Weimarer Republik zum Maßstab. Und in diesem Vergleich schnitt die DDR sehr gut ab. Viele Arbeiter*innen hatten das erste Mal warme und trockene Wohnungen, ohne Angst bei Arbeitslosigkeit oder Mieterhöhungen rauszufliegen. Die Meinung im Betrieb war plötzlich gefragt.

Den Bauer der Mauer führt Hoyer im Wesentlichen auf den Brain Drain von Ost nach West zurück. Während die DDR Arbeiter*innen und anderen Werktätigen erstmals in der deutschen Geschichte ein Studium ermöglichte, so egalisierte sie gleichzeitig den sozialen Status von Arbeiter*innen und Akademiker*innen. Im Ergebnis verdienten studierte Berufe nicht wesentlich mehr als Ausbildungsberufe, während im Westen hohe Gehälter und sozialer Aufstieg lockten. Liberale, Bourgeoisie und Kleinbürger*innen waren schon recht früh gegangen, aber nun ärgerte die SED, dass das ehemalige Proletariat, einmal als Arzt oder Ingenieur auf Staatskosten ausgebildet, eigene Standesdünkel entwickelte, die es im Kapitalismus besser aufgehoben sah. Außenpolitische Faktoren, wie den angemaßten Vertretungsanspruch der BRD auf Gesamtdeutschland und damit eine einmalige diplomatische Situation lässt sie aus. Ihre Schlussfolgerung ist dann jedoch auch diese, dass es die neuen Akademiker*innen waren, die neben individuellen Schicksalen, die Verlierer des Mauerbaus waren. Die Beschränkung der Reisefreiheit war für den Großteil der Bevölkerung, die auch vor der DDR nie in den Genuss einen massenhaften Auslandstourismus gekommen waren, kaum von Relevanz. Doch die stabilisierte DDR blühte auf. In der Folge bildete sich auch unter den Neuen Ökonomischen Politik die typische Produktions- und Konsumstruktur der DDR heraus: der Trabant fand Einzug ins Straßenbild, die Wohnungsfrage wurde allmählich gelöst, die klassischen Kinderbücher wurden geschrieben, der sozialistische Realismus nahm eine von der Sowjetunion unabhängige Forman, die Kinderbetreuung wurde flächendeckend ausgebaut und die Emanzipation der Frau wertet Hoyer nicht nur als Reaktion auf den Arbeitskräftemangel, sondern sieht diese auch systemimmanent.

Von der NÖP zur Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik

Nach Hoyer war der Übergang von Ulbricht zu Honecker eine entscheidende Zäsur. Ulbricht habe nicht wegen seines Alters, sondern wegen seines immer mehr selbstgerechten Führungsstils zurücktreten müssen. Er hinterließ Honecker jedoch ein stabiles Land, indem sich eine Minderheit unterdrückt fühlte, während sich die Mehrheit in den Verhältnissen gut eingerichtet habe. Honecker beendete die Neue Ökonomische Politik und trug mit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik den Konsumwünschen der Jugend Rechnung, deren Bedürfnisse ihm als ehemaligem Leiter der FDJ nicht fremd waren. Filme wurden in Schnitt und Thematik westlicher und der Rock hielt in Form des Ostrocks Einzug in die DDR. Quasi synchron entspannten sich die deutsch-deutschen Beziehungen, sodass die DDR immer leichteren Zugang zum Weltmarkt bekam und Familienbesuche zunehmend möglich waren.

Allerdings habe Honecker durch die neuen Importmöglichkeiten technische Innovationen in der DDR vernachlässigt und die alten Produkte nur mit Importwaren kombinieren lassen und die Preise angehoben. Eine Episode hat es Hoyer dabei besonders angetan. Als es 1978 nach einer schlechten Ernte in Brasilien zu weltweiten Kaffeepreisanstiegen kam, war die DDR nicht mehr in der Lage die erforderlichen Mengen auf dem Weltmarkt zu erwerben. Ersatzmischungen wurden von der Bevölkerung nicht angenommen und es entwickelte sich eine handfeste Kaffeekrise. Also schaute man sich im sozialistischen Ausland nach geeigneten Handelspartnern um und stieß auf Vietnam. Das kriegsgebeutelte Land besaß zwar nur eine rudimentäre Kaffeeproduktion, mit 20 Mrd. Mark aus der DDR, der Ausbildung vietnamesischer Kaffeebäuer*innen und dem Export landwirtschaftlicher Maschinen sollte diese jedoch auf Weltniveau gehoben werden. Die DDR sollte im Gegenzug zur Hälfte an den Ernten beteiligt werden. Und die Rechnung ging auf. Vietnam stieg zum zweitgrößten Exporteur von Kaffee hinter Brasilien auf. Die DDR hatte jedoch davon nichts mehr. Da Kaffeepflanzen mindestens acht Jahre wachsen müssen, bevor sie verwertbare Bohnen abwerfen, war die erste Lieferung aus Vietnam für das Jahr 1990 angesetzt.

Der Anfang vom Ende

Die Mischung aus ökonomischer Stagnation, Auslandsschulden und kulturellen Anleihen aus dem westlichen Ausland führte jedoch zu zunehmender Unzufriedenheit. Der materielle Vergleich wurde von der Vergangenheit auf die westliche Nachbarschaft gelenkt und da stand die DDR zurück. Der Fortschrittsglaube der späten Ulbricht-Zeit war verspielt. Und Künstler*innen testeten mit den neuen Freiheiten auch neue Grenzen aus. Immer mehr sah sich die SED gezwungen, zu oppositionelle Musiker*innen des Landes zu verweisen. Das machte die Repression sichtbar. Für die Importe wurde harte Weltwährung wie die D-Mark verlangt. Dem Staat standen hier zwei Quellen zur Verfügung: Warenexporte zu Dumpingpreisen in das kapitalistische Ausland und die eigenen Bürger*innen. Diese konnten Westwaren in speziellen Läden für D-Mark kaufen. Der Schwarzmarkt mit dem Geld der Bundesrepublik blühte und lähmte die konventionelle Wirtschaft noch stärker. Die Menschen, die bis zuletzt um Rationalisierungen, intelligente Planung und eine eigenständige Versorgung kämpften, wurden nicht nur weniger, sie wurden auch von der politischen Führung zunehmend alleine gelassen. Der Untergang der DDR liest sich bei Hoyer recht ruhig. Wenn man ohnehin schon so viel und so umständlich aus dem Westen importiert, warum nicht ein Teil dessen werden? Wenn man sich ohnehin nicht um die eigene Produktion sorgt, wofür den Staat verteidigen? Nicht die Montagsdemonstrationen, nicht die Zerfallserscheinungen in der Sowjetunion, sondern eine ganz allgemeine Resignation machte die friedliche Revolution so friedlich. Die wenigen Parteigänger*innen einer reformierten, demokratisch-sozialistischen DDR stammten gleichermaßen aus dem Lager der SED und der Opposition und auf beiden Seiten waren sie in der Minderheit. Bei den ersten freien Volkskammerwahlen wurde daher wenig überraschend die Allianz für Deutschland mit absoluter Mehrheit gewählt, die den koordiniertesten, direktesten und am besten ausgearbeiteten Plan für die kapitalistische Integration via Wiedervereinigung vorlegte. Die Wiedervereinigung stellt Hoyer häretisch in einen Zusammenhang mit der Deutschen Reichsgründung 1871: als Wegstein, nicht als Happy End.

Kritik

Die Stärke des Buchs ist das Angebot eines alternativen Narrativs, in der bereits bekannte Topoi der DDR-Geschichsschreibung neu arrangiert werden können. Von wissenschaftlichem Wert ist es eher nicht. Es ist voll von unmaterialistischen Geschichtsnarrativen, so etwa der der Deutung der bürokratischen Institutionen der Sowjetunion als verlängerter Arm der paranoiden Persönlichkeit Stalins. Viele historische Sachverhalte werden auch nicht in ihrer Diskursivität dargestellt. Marta Hillers Eine Frau in Berlin wird ziemlich kritiklos zitiert, ohne auf die Authentizitätsprobleme durch Nachbearbeitungen hinzuweisen. Das „Lied der Partei“ wird weitestgehend unkommentiert vollständig abgedruckt, ohne auf den ambivalenten Charakter und die multidimensionale Deutungsebene einzugehen. Man hätte es lieber ganz lassen sollen. Manche Daten sind auch schlichtweg falsch. Zum Beispiel ist die Zahl der 1937 unter Stalin erschossenen Deutschen mit den angegebenen 41.898, wie Hoyer sie nennt, die Zahl der in den FSB-Dokumenten angegebenen Verurteilungen zu Todesstrafen. Ob diese wirklich zu 100% vollstreckt wurden, ist den Quellen nicht zu entnehmen und angesichts kurzen Dauer und mangelhaften Kontrolle über den Großen Terror mehr als zweifelhaft. Auch das von neun in die UdSSR emigrierten KPD-Politbüromitgliedern nur Ulbricht und Pieck überlebt hätten, stimmt nicht. So erlebten auch Edwin Hoernle, August Kleine das Kriegsende und andere, wie Wilhelm Florin, starben in der Sowjetunion an natürlichen Ursachen in Folge eines kämpferischen Lebens.

Aber letztendlich wird das Buch auch dem Anspruch, eine Ideengeschichte zu schreiben, nicht gerecht. Weder gibt es ein Verständnis für die marxistische Theorie in KPD und SED und ihre Einbettung in den Weltkommunismus, noch für die ökonomischen, politischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die hinter den Entwicklungen in der DDR standen. Von einer Rückführung der Ideologien auf Klassenverhältnisse oder soziale Formationen ist da noch nicht einmal die Rede.

Abschließend stört der strenge schematische Aufbau mit einer Biographie am Anfang jedes Kapitels den roten Faden und den Lesefluss. Paradoxerweise verzichtet Hoyer an anderen Stellen, wo man gerne persönliche Auffassungen aus den verschiedenen Klassen gehört hätte, auf Stimmen von unten. Das Lektorat hat nicht nur den Feinschliff verfehlt, sondern das Buch fast roh durchgewunken.

Rezeption

Das das Buch Fleisch vom Fleische gängiger bürgerlicher Historiographie ist, ging die Presse extrem unsouverän mit ihm um. Die Süddeutsche Zeitung verurteilte per se das Unternehmen, eine Geschichte der Mehrheitsgesellschaft der DDR schreiben zu wollen. Ihr kommen nicht genug Oppositionelle zu Wort. Leider sagt sie auch nicht welcher Anteil an Oppositionsstimmen denn angemessen wäre und wie dieser zu begründen sei. Bei historischen Streitfragen wie dem Charakter der Stalinnoten behauptet sie einfach immer das Gegenteil von Hoyer, ohne die wissenschaftliche Diskussion zur Kenntnis zu nehmen. Und am wenigsten passen ihr ökonomische und politische Gründe statt moralischer Verurteilungen. Die taz wiederum warf Hoyer zwar nicht vor, staatliche Repression oder eingeschränkte Grundrechte zu ignorieren, sondern in einen Kontext mit den materiellen Lebensbedingungen zu stellen; also genau das, was das Buch tun wollte. Damit bestätigt sie Hoyers Kritik, dass man die DDR nur auf ihre Fehler reduzieren dürfe. Die taz selbst tat diesen Vorwurf großspurig als Verschwörungsideologie ab. Auch der Spiegel schrieb ein harschen Verriss, ergänzte diesen jedoch mit einigen relativierenden Folgebeiträgen, die zumindest den Anschein der Diskussion erzeugen sollten.

Allen gemeinsam war die Kritik, dass Hoyer nichts Neues vorgelegt habe, sondern sich auf bekannte Standardwerke beziehe. Die Kritik besticht erstens nicht, da das Buch im Original für ein britisches Publikum geschrieben wurde und diesem die deutsche Literatur durchaus neu sein dürfte. Und zweitens verfehlen sie damit den diskursiven Charakter von Geschichtsnarrationen. Denn auch bei gleicher Quellenlage und Einigkeit über die Ereignisgeschichte ist eben die Geschichtserzählung eine Frage der Perspektive und nicht zuletzt eine Klassenfrage. Es ist allein der Versuch, Geschichtsschreibung nicht nur demokratisch, plural und multiperspektivisch zu nennen, sondern die konkrete Inanspruchnahme einer neuen Perspektive, die offenbar sehr ungewohnt für die intellektuellen Eliten ist.

Zusammenfassung

Wer von Diesseits der Mauer eine historisch-materialistische Methodik, originelle Quelleninterpretation, neues Wissen oder auch nur interessante Literaturhinweise erwartet, wird sich enttäuscht zeigen. Das Buch steht in der Tradition bürgerlicher Geschichtsschreibung und hat alle Schwächen dieser geerbt. Es nimmt die gängige populärwissenschaftliche und Überblicksliteratur zur DDR zur Grundlage, ohne diese gewichtig zu ergänzen. Aber es fordert die bürgerliche Ideologie auf dem eigenen Feld heraus. Hoyer stellt Gewissheiten zur DDR in Frage, indem sie die bekannten Aspekte neu arrangiert und kontextualisiert. Ihr Buch zeigt auf, wie Geschichtsschreibung über die DDR aussehen müsste, wenn man den Gedanken zuließe, dass die politische Führung der SED Gründe für ihre Entscheidungen hatte, vielleicht sogar hin und wieder gute Gründe. Allein durch diese kleine Prämissenänderung entsteht ein wesentlich plausibleres Bild von den Vorgängen im zweiten deutschen Staat. Nicht das große Gegenkonzept, sondern der feine Unterschied macht hier die Differenz sichtbar. Und Hoyer hat vollkommen Recht: die Kaffeekrise erzählt viel mehr über die Funktionsweise der DDR als Stasi-Horrorgeschichten.

Das ist der Grund, warum die bürgerliche Presse tobt. Sie kann eine Aufhebung gewisser Denkverbote nicht akzeptieren, da dies den kompletten Teppich unter den eigenen Füßen wegziehen würde. Stillschweigende Voraussetzungen der Historiographie fallen nur auf, wenn sie laut ausgesprochen werden, aber dann funktionieren die alten Kartenspielertricks nicht mehr.

Dabei könnte das Buch einen verbindenden Charakter für die aufgeladene Rezeptionsgeschichte der DDR haben. Ohne ideologie- oder kapitalismuskritisch zu sein, schreibt Hoyer eine Geschichte, in der sich mehr Bürger*innen der ehemaligen DDR wiederfinden können und sich so wahrgenommen fühlen.

Ist das Buch also gut? Nein, davon ist es weit entfernt. Ist das Buch verdienstvoll? Absolut. Denn es übertritt eine Grenze, an der die bundesdeutsche Intelligentsia steht und sagt: bereits der Versuch der Übertretung ist strafbar.

Literatur:

Hoyer, K. (2023): Beyond the Wall. East Germany. 1949-1990. London: Penguin Books.

Hoyer, K. (2023): Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR. 1949-1990. Hamurg: Hoffmann und Campe.

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