⋄ Der Begriff des Metabolismus als totaler Zusammenhang aller Wert- und natürlichen Stoffkreisläufe hat in den letzten Jahren Bedeutung in der marxistischen Debatte gewonnen. ⋄ Ein anschauliches Beispiel für solche Metabolismen ist die Produktion von Hühnerfleisch, wie Catherine Oliver in den Social Studies of Science darstellt. ⋄ Denn Hühnerfleisch ist weniger wegen seiner produktiven, hochtechnischen Schlachtung das ideale Fleisch des Kapitalismus, sondern wegen seiner Beschleunigung der Zirkulationsprozesse. ⋄ So ermöglicht die Ernährung der Hühner nicht nur frühzeitige Schlachtung, sondern erzwingt sie sogar, wodurch die Kapitalumläufe kürzer werden. ⋄ Ebenso muss das Fleisch auf Grund der Anfälligkeit für Mikroorganismen sehr schnell verarbeitet und damit auch passend vermarktet werden. |
Wäre der Spätkapitalismus eine Mahlzeit, so wäre er sehr wahrscheinlich ein Chicken Nugget. Man mag es kaum glauben, dass so ein triviales Produkt sogar einen Erfinder hat, aber das Chicken Nugget wird so hochtechnologisiert hergestellt, dass Robert Baker nicht nur ein Verfahren entwickeln musste, wie die Panade auch nach dem Tiefkühlen am Formfleisch hält, sondern auch eine Soße, die das Produkt erst genießbar macht. Da mittlerweile fast alle Restbestandteile eines Huhns im Nugget verarbeitet werden können, wurde der konkrete Inhalt sogar so beliebig gegenüber seiner Form geworden, dass vegane Chicken Nuggets quasi nicht vom „Original“ zu unterscheiden sind.
Doch nicht nur das Chicken Nugget ist ein hochverarbeitetes Produkt. Das Huhn selbst hat 250 Jahre Kapitalismus auch nicht ohne Veränderung überstanden. Catherine Oliver zeichnete in der Social Studies of Science die Geschichte des Huhns unter der Herrschaft der Bourgeoisie nach und warum das Tier ein Sinnbild der aktuellen Gesellschaftsform ist.
Metabolismusforschung
Catherine Oliver hangelt sich in ihrem Essay am Begriff des Metabolismus entlang. Dieser hat in den vergangenen Jahren sowohl in der bürgerlichen als auch in der marxistischen wissenschaftlichen Debatte Huchkonjunktur erlebt. Gemeint ist mit dem Begriff, dass nicht nur das Kapital sich selbst reproduziert, wo bei es rein quantitativ wächst, sondern dass auch das konstante Kapital – Fabriken, aber auch Böden, Rohstoffe, Energieressourcen, etc. – beständig erneuert werden müssen, wobei sich jedoch im Gegensatz zum Geld auch dessen Qualität ändert. Der Begriff des Metabolismus, der dem Ineinandergreifen der verschiedenen Kreislaufsysteme des menschlichen Körpers entlehnt ist, soll herausstellen, dass jede dieser qualitativen Änderungen mit zahlreichen mittelbaren Auswirkungen auf andere Reproduktionszyklen verbunden ist. Zur Veranschaulichung kann man sich etwa die Schweinezucht heranziehen, wo nicht nur Schweine beständig produziert und reproduziert werden, sondern auf Grund der Enge in den Großbetrieben, die auch Krankheiten befördern, zu deren Bekämpfung Antibiotika verabreicht werden, die wiederum Viren und Menschen resistent machen. Durch den Bedarf an Medikamenten wiederum entwickelt sich eine mächtige Pharmalobby, deren Interesse eine möglichst flächendeckende Nutzung ihrer Erzeugnisse ist und so weiter.
Das metabolische Denken kann dabei bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden, als sich eine Gegenbewegung gegen die Auffassung der Aufklärung vom Menschen als Maschine etablierte. 1999 stellte John Bellamy Foster die These auf, dass auch Marx dieser Strömung zuzurechnen sei, da seine Vorstellung einer Totalität von Produktions-, Zirkulations- und Reproduktionsmechanismen, die alle das Potential der Krise in sich tragen würden, sehr eng mit den metabolischen Vorstellungen korrespondierte (Näheres hier). In der Folge wurde der metabolische Bruch als Einheit der Ausbeutung der Bourgeoisie gegenüber dem Menschen und der Natur zu einem populären Topos der ökosozialistischen Diskussion. Entlang dieser Debatten, die nun nicht nur die Kapitalkreisläufe, sondern auch die der Gebrauchswerte analysierten, entspannen sich immer weitere Detaildiskussionen, zum Beispiel, ob Tiere ausgebeutet werden könnten oder ob das Konzept der abstrakten Arbeit angesichts der Vielfältigkeit der konkreten Erscheinungsformen überhaupt haltbar sei. Solche Fragen führten offensichtlich wieder von Marxschen Kernkonzepten weg. Daher ist die Diskussion eines konkreten Beispiels hilfreich, um etwas Ordnung in die Debatte zu bringen.
Das Huhn vor dem und im Kapitalismus
Das Huhn ist dabei besonders geeignet, da sich kaum ein Naturprodukt so exzellent zur Verwertung eignete, wie die kleinen gefiederten Nachkommen der Dinosaurier. Das zeitgenössische Huhn, der gallus domesticus, ist weltweit verbreitet, wird in allen Kulturen gegessen und mit 26 Milliarden Exemplaren kommen auf jeden Menschen etwa drei Hühner. Die meisten davon werden in intensiver industrieller Haltung hochgezogen, nur in Afrika dominiert die extensive Hühnerzucht. Domestiziert wurden sie wohl vor 10.000 Jahren in China in der Region um den Gelben Fluss. Nach Europa kamen sie erst im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, wobei sie zunächst als exotische Tiere angesehen wurden, die zu rituellen Opferzeremonien geschlachtet oder für Hahnenkämpfe abgerichtet wurden. Bekannt ist die Geschichte, wie am Morgen der Seeschlacht von Drepana 249 v.u.Z. die Hühner an Bord der römischen Schiffe die Nahrungsaufnahme verweigerten, was die Matrosen verunsicherte und Karthago den einzigen Sieg in einem Seegefecht des ersten Punischen Krieges bescherten. Der Verzehr des Fleisches und der Eier wurde vermutlich aus der Levante und dem Heiligen Land herstammend während der Zeit der römischen Besatzung langsam etabliert. Von einer Massenhaltung, wie sie bereits früh in Asien zu finden war, konnte jedoch noch lange keine Rede sein. Man denke nur an Dürrenmatts Darstellung von Romulus dem Großen, der lieber Hühner züchtete, als Krieg zu führen und die Bürger*innen zu führen.
In Europa begann die exponentielle Verbreitung des Hühnerfleisches und der Eierspeisen mit der Industrialisierung. Hühner eigneten sich gleich aus mehreren Gründen zur industriellen Nutzung. Sie wachsen schnell, brauchen wenig Platz und sind nicht wählerisch beim Futter. Die kurzen Reproduktionszeiten haben darüber hinaus den angenehmen Nebeneffekt, dass Veränderungen durch Zucht sehr schnell bewerkstelligt werden können. Alsbald differenzierte sich die Züchtung in Legehennen und Schlachttiere. Die Ernährungsstrategien, die dabei angewendet wurden, waren eng verzahnt mit den aktuellen Entwicklungen in der Lebensmittelchemie und Landwirtschaft. Hühner wurden die bevorzugten Versuchstiere für spätere an Menschen adressierte Lebensmittel und Mitte der 1940er wusste die Forschung über die Auswirkungen verschiedener Futtermittel nirgends besser Bescheid als beim Huhn. Dabei ging es keinesfalls nur um schnelleres und volleres Muskelwachstum. Als in den 1920er die ersten Vitamin-D-Präparate verabreicht wurden, ging es auch darum, dass Hühner dieses Vitamin nicht mehr unter Aussetzung von Sonnenlicht produzieren mussten, was geschlossene Hühnerfabriken erlaubte.
Die spezielle Züchtung und Ernährung der Tiere führte zu einer Vervierfachung des Körpergewichts eines durchschnittlichen Schlachttieres seit 1957. Hühnerfleisch wurde immer stärker als billiges Ersatzprodukt für Schweine- und das noch teurere Rindfleisch vermarktet. Es wurde als recht gesund und bekömmlich angepriesen und die moralischen Bedenken bei der weiteren Intensivierung der Haltung waren nicht so stark, wie bei Säugetieren. Dabei ist bereits die spezielle Konzentration auf Schlachttiere Ergebnis bewusster Vermarktungsstrategien. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sank der Eierkonsum im Vergleich zum Hühnerfleischkonsum beträchtlich. Eier wurden als anfällig für Salmonellen und als negativ für den Cholesterinhaushalt kritisiert. Während Hühnerfleisch früher zumeist Abfallprodukt ehemaliger Legehennen gewesen war, reichte mit der erreichten Änderung der Konsumgewohnheiten dieses Fleisch bald nicht mehr aus, sodass verstärkt ausschließliche Schlachttiere gezüchtet wurden.
Die spezielle Eigenschaft des Fleisches, ungekühlt nicht lange haltbar zu sein und sich auch schlecht haltbar machen zu lassen, beschleunigte auch die Folgeindustrien. Das Fleisch musste schnell weiterverarbeitet werden, Kühlketten durften nicht unterbrochen werden. Eine so effizient gestaltete Fleischverarbeitung wirkte auf die Hühnerzucht zurück, die entsprechend der Produktionsbedürfnisse kontinuierlich liefern musste. Den Entfremdungscharakter des Kapitalismus macht in der Folge deutlich, dass durch die Veränderungen der Ernährung und der Haltung die Nährwerte des Fleisches – nicht unbedingt in Kalorien und Proteinen, aber bei sonstigen Nährstoffen – rapide sanken. Dem Fleisch mussten diese nun verstärkt biochemisch im Verarbeitungsprozess diese Stoffe zugesetzt werden, die im menschlichen Denken eigentlich an das Fleisch adressiert sind.
Mobilität und Immobilität
Den größten Selbstwiderspruch, den die Lebensmittelindustrie bei der Hühnerzüchtung jedoch zu überwinden hatte, war der zwischen Mobilität und Immobilität der Vögel. Während Muskelwachstum für gewöhnlich Anreize über die Bewegung voraussetzt, sollten die Tiere sich eigentlich möglichst wenig bewegen, um einen Minimalteil der zugeführten Kalorien zu „verbrennen“. Dieser natürliche Metabolismus des Huhns wurde immer mehr zur Schranke einer weiteren Intensivierung der Fleischproduktion. Das Ziel musste daher sein, den Metabolismus selbst kurz zu schließen. Die Methoden reichten dabei von äußeren Interventionen, wie Tageslichtmanagement, um die typischen Verdauungsprozesse in den Hühnern zu steuern, über pharmazeutische Mittel bis hin zu direkten Eingriffen in das Genom. Der Königsweg war dabei nicht, das Huhn trotz der Strapazen gesund zu halten, sondern den Ausbruch der Symptome – insbesondere Erkrankungen des Magens oder des Herzens – bis hinter den Schlachttermin zu schieben. Je schneller ein Huhn eine profitable Fleischmenge zulegte und geschlachtet werden konnte, desto gesundheitsschädlicher konnten auch die Methoden sein, da das Huhn den natürlichen Kollaps des Metabolismus nicht mehr erleben würde.
Immobilität der Hühner ist mittlerweile jedoch nicht mehr nur Zweck zur Produktivitätssteigerung geworden, sondern auch Selbstzweck. Die exzessiven Eingriffe in die tierischen Metabolismen auf allen Ebenen haben die Tiere extrem vulnerabel gegenüber Krankheiten gemacht. Die Käfighaltung der Vögel dient damit sowohl einer Abschottung nach außen, da jeder Keim ein potentielles Epidemierisiko darstellt, also auch nach innen, um ausgebrochene Krankheiten räumlich begrenzen zu können. Dennoch häuften sich in der Vergangenheit die Ausbrüche der Vogelgrippe, die über verschiedene Schnittstellen doch immer wieder die Schutzmauern zwischen Geflügelzucht und Außenwelt durchbrachen. Denn die schlachtereiinternen Metabolismen, in denen Legehennen Schlachtabfälle zur Fütterung verabreicht werden, konzentrieren die Problematik.
Die Immobilität von Hühnern hat in den zeitgenössischen Diskursen sogar zu immer mehr metaphorischen Einführungen von Begriffen aus der Pflanzenzucht geführt, z.B. den der Monokulturen. Doch mit der räumlichen Beschränkung des Metabolismus ist es spätestens mit den Abfallprodukten vorbei. Jede Legehenne produziert pro Jahr auch 20 kg nicht verwertbaren Abfalls, wie Exkremente, Federn oder Knochen. Neben der Freisetzung toxischer Gase bei der Verbrennung ist insbesondere die Entsorgung des Ammoniaks aus den Exkrementen zu einem kaum mehr bewältigbaren Problem geworden. Und auch hier kennt der Kapitalismus nur eine Lösung: Produktion. Mittlerweile wurden diverse Verfahren experimentell erprobt, aus Hühnerfedern, Knochen, Fett und Eierschalen Biofuels herzustellen. Wieder wird das Problem aber nur verschoben statt gelöst, denn auch Biokraftstoffe setzen CO2 frei, das ohne die Hühnerschlachtung noch im Boden gebunden wäre und befördern so den Klimawandel.
Arbeiter*innen in der Geflügelindustrie
Wo Fleisch billig ist, wird auch der Wert der Arbeitskraft gedrückt. Da die Knochen- und Organstruktur von Hühnern sehr feingliedrig ist, eignen sie sich nicht zu einer direkten maschinellen Verarbeitung, sondern die ersten Arbeitsschritte müssen per Hand erledigt werden. Die Verarbeitung wurde in Fließbandarbeit mit vielen einfachen Arbeitsschritten zerlegt, die wenig Ausbildung erfordern und somit geringe Löhne rechtfertigen. Nichtsdestotrotz sind die Arbeiter*innen den gesundsschädlichen Abfallprodukten massiv ausgesetzt, was zu zahlreichen Atemwegserkrankungen und der allgemeinen Schwächung des Immunsystems führt.
In Deutschland erregte vor vier Jahren der Fall der Großschlachterei Tönnies Aufmerksamkeit, als die elendigen Arbeitsbedingungen mitten in Deutschland publik wurden. 200 Stunden im Monat arbeiteten die meist migrantischen Schlachter*innen für 12000 Euro und wurden in verschimmelten Sammelquartieren untergebracht. Werkverträge mit Subunternehmen machten es möglich, dass der Konzern Milliarden mit Arbeitsbedingungen verdiente, die nicht zur dauerhaften Reproduktion de Arbeitskraft ausreichten. Viele hielten es nur Monate aus. Bekannt wurde der Fall nur durch einen Massenausbruch von Corona unter der Belegschaft. Denn die Möglichkeit, Hühner über Vitamin-D-Präparate vom Sonnenlicht unabhängig zu machen, ermöglicht es der Bourgeoisie auch, die Arbeiter*innen und ihre Lebensbedingungen zu verstecken.
Zusammenfassung: Hühnerfleisch in der Zirkulation
Betrachten wir zusammenfassend, was nun das Huhn zum idealen Schlachttier des Kapitalismus macht. Es ist weniger die Produktion, da Schweinefleisch teilweise wesentlich produktiver und technikintensiver verarbeitet werden kann. Hühnerfleisch besitzt seinen großen Vorzug in der Zirkulation. Marx schrieb in den Grundrissen:
„Zirkulation ohne Zirkulationszeit ist die Tendenz des Kapitals; daher auch Setzen der Instrumente, die nur zur Abkürzung der Zirkulationszeit dienen, in bloß vom Kapital gesetzte Formbestimmungen, wie die unterschieden Momente, die das Kapital in der Zirkulation durchläuft, qualitative Bestimmungen seiner eignen Metamorphose sind.“
MEW 42, S.572.
Schauen wir uns also an, wo das Kapital die Zirkulationszeit überall minimieren kann, um seine eigene Tendenz zu erfüllen. Erstens in der Gebrauchswert-Metamorphose des Hühnerembryos zum ausgewachsenen Schlachttier. Masthähnchen können unter industriellen Bedingungen bereits nach 28 Tagen schlachtreif sein. Damit kann das Kapital praktisch zwölfmal im Jahr umschlagen, vor etwa siebzig Jahren war die Umlaufzeit für ein gleiches Fleischgewicht viermal so lang. Interessant ist hierbei der Aspekt, dass die Art der Produktion selbst zu einer höheren Zirkulationsgeschwindigkeit nötigt. Da vor allen Dingen das Wachstum der Brust gefördert wird, würden die Tiere nach längerer Lebenszeit entweder nach vorne umkippen oder das Herz durch die eigene Muskulatur langsam erdrückt werden. Mit der Verringerung der Schlachtzeit verringert sich auch die Dauer der Vernutzung von zirkulierendem Kapital – dem Futter – und die Belegung des fixen Kapitals – den Ställen.
Doch auch nach der Schlachtung treibt das Hühnerfleisch durch seine eigenen biologischen Eigenschaften die Zirkulationsgeschwindigkeit voran, indem es sehr schnell verarbeitet werden muss. Und entsprechend der Realisierung des Werts muss ein zügiger und kontinuierlicher Verkauf gesichert werden, für das entsprechende Marketingstrategien erforderlich sein, da der Bedarf an haltbar verarbeitetem Hühnerfleisch vergleichsweise gering ist. Wenn also häufig die Rede davon ist, dass das Kapital eine autonome Bewegung gegenüber den Produzent*innen besitzt, verdeutlicht das Beispiel des Hühnerfleisches, dass es hier keineswegs nur um die abstrakte Tauschwertseite geht, sondern dass sich das Kapital seine Waren so schafft, dass der Gebrauchswert selbst die Zirkulationszeit verringert. Die kritische ökomarxistische Frage, ob die sich immer weiter verkürzenden Zirkulationszeiten der Gebrauchswerte nicht auch irgendwann eine Grenze in natürlichen Zirkulationszeiten der Erde finden, was seinen Ausdruck in einer systemischen Krise findet, erscheint anhand dieses Beispiels berechtigt.
Literatur:
Oliver, C. (2024): Chicken Metabolism, Immobilization, and Postindustrial Production. In: Social Studies of Science. Online First. DOI: 10.1177/03063127241247022.