Debatte: Die Quadratur der Pyramide – Die Imperialismus-Diskussion der KO

⋄ Der Ukraine-Konflikt hat die Linke über die Frage gespalten, ob Russland imperialistisch sei oder nicht.

⋄ Die
Kommunistische Organisation hat eine Serie von sechs Beiträgen veröffentlicht, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Debatte auseinandersetzen.

⋄ Für einen imperialistischen Charakter Russlands wird dessen kapitalistische Basis und deren Interventionen im Ausland ins Feld geführt.

⋄ Gegen den imperialistischen Charakter wird mit der politischen und ökonomischen Dominanz der NATO-Staaten argumentiert.

⋄ Die Kernargumente der Debatte sollen im Folgenden skizziert werden

Der russische Angriff auf die Ukraine spaltet das linke Lager seit Wochen. Während der Großteil sich immer noch gegen Waffenlieferungen und Sanktionen positioniert, besteht vielerorts Uneinigkeit über den Charakter des Krieges. Die Meinungen reichen von einer berechtigten Reaktion Moskaus auf die Ausbreitung der NATO bis hin zur Charakterisierung Russlands als imperialistisch. In diese Debatte intervenierte die Kommunistische Organisation, eine Abspaltung der DKP, mit sechs zur Diskussion gestellten Beiträgen. Außerhalb der KO wurden die Beiträge häufig als Pyramidentheorie kritisiert, die ähnlich der Weltsystemanalyse, der Staatenkonkurrenz ein Raster aus imperialistischen, halbimperialistischen und betroffenen Ländern überstülpe. Doch lassen sich die Beiträge auf eine solche A-priori-Setzung reduzieren? In folgendem Artikel sollen die argumentativen Grundzügen der Debattenbeiträge kurz vorgestellt und solidarisch diskutiert werden.

Thanasis Spanisdis: Das zwischenimperialistische Kräftemessen und der Angriff Russlands auf die Ukraine

Der erste Beitrag stammt von Thanasis Spanidis. Er stellte 20 Thesen zur Diskussion, welche mal weitere, mal engere Konsequenzen haben. Imperialismus sei nach ihm „keine auf einzelne Länder begrenzte Eigenschaft“, sondern ein Stadium des Kapitalismus als solchem, dem alle Länder mit der entsprechenden sozioökonomischen Basis unterliegen. Russland habe nach dem Zerfall der Sowjetunion nun diese Basis und sei daher auch imperialistisch, allerdings mit geringerem Erfolg als die USA, Deutschland oder China. Die einzelnen imperialistischen Länder hätten sich in zwei Blöcke aufgeteilt, einen westlichen und einen chinesisch-russischen. Die einzelnen Blöcke seien dabei in sich nicht widerspruchsfrei. Da der Ukrainekrieg ein Stellvertreterkrieg dieser beiden imperialistischen Blöcke sei, habe er mit den Interessen der Arbeiter*innenklasse nichts zu tun. Es sei „ein schwerer Fehler, Russland und China als rein defensive Mächte zu verstehen.“ Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen seien von militärischen untrennbar. Alle ideologischen Rechtfertigungen des Krieges seien durch Kommunist*innen zurückzuweisen.

Zuletzt widerspricht er der Ansicht, dass Lenin so zu verstehen sei, dass seine Ablehnung „jeder imperialistischen Herrschaft“ zwar abstrakt verständlich, aber konkret nicht haltbar sei. Eine solche Trennung von konkreter und abstrakter Ebene sei nicht haltbar. Die kommunistische Weltbewegung müsse daher alle imperialistischen Kriege ablehnen – konkret oder abstrakt.

Joshua Relko: Zum imperialistischen Krieg in der Ukraine und zur revolutionären Strategie

Der Beitrag von Joschua Relko fasst mehr oder weniger den Diskussionsstand innerhalb der Kommunistischen Organisation zusammen. Durch die Umgangssprache wird der subjektive Charakter des Beitrags hervorgehoben. Die KO versteht sich selbst als eine Organisation im Prozess, die Debatten der kommunistischen Weltbewegung systematisieren und anschließend auf wissenschaftlicher Grundlage selbst bewerten möchte.

Er stellt dar, dass noch eine nur schwache Kenntnis von der tatsächlichen Zusammensetzung des russischen Kapitals und dessen Bedeutung in der Weltwirtschaft vorliege. Er deutet weiterhin an, dass die Referenzen auf Lenin noch provisorischen Charakter tragen. Die Offenheit dieser Fragen, nicht nur in der KO, sondern auch bei anderen Parteien und Organisationen, macht er dafür verantwortlich, dass einige den imperialistischen Charakter Russlands noch relativierten. Die Hauptaufgaben von Kommunist*innen sieht er in der Entlarvung Russlands und seines Krieges als imperialistisch, sowie die Mobilisierung gegen den Imperialismus als System.

Fatima Saidi: Gefahren der aktuellen Diskussion um die Einordnung Russlands für unsere revolutionäre Strategie

Fatima Saidi sieht die aktuelle Diskussion weniger im Mangel an empirischem Material begründet, als in der unterschiedlichen Interpretation dieser und damit in den unterschiedlichen theoretischen Grundlagen. Zudem überreizten verschiedene Akteure die taktische Bedeutung einer Parteinahme auf Kosten der revolutionären Strategie. Sie sieht den Hauptfeind im deutschen Imperialismus, gegen den auch auf der Straße und im Betrieb unabhängig von der Bevölkerungsmeinung agitiert werden müsse. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, dass man sich auf die Seite der Bourgeoisie eines anderen imperialistischen Staates stelle. Bündnisse zwischen Proletariat und Bourgeoisie hingegen seien nur in nationalen Befreiungskriegen denkbar.

Philipp Kissel: Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland

Philipp Kissel hält die Bezeichnung „imperialistischer Krieg“ für nicht zutreffend. Sie sei eine zu starke Analogie zum Ersten Weltkrieg. Von diesem trenne der aktuelle Krieg, dass sich nicht ebenbürtige Mächte gegenüberstehen, sondern die NATO fast unipolar herrsche. Eine äquidistante Position zu Russland und zur NATO hält er daher für irreführend. Er fragt, ob nicht konkret zwischen Bündnissen und Staaten differenziert werden müsse. Kissel betont, dass die Sicherheitsinteressen eines Landes auch und insbesondere von der Arbeiter*innenklasse getragen würden, da die Bourgeoisie wesentlich mobiler sei. Er geht sogar soweit zu behaupten, dass die ukrainische Arbeiter*innenklasse ein Interesse an der Beseitigung der westlichen Marionettenregierung habe. Kissel sieht einen Fehler darin, andere Urteile kommunistischer Parteien, etwa der KPRF, von Vorneherein als reaktionär zurückzuweisen, sondern schlägt vor, Differenzen und Standpunkte materialistisch zu analysieren. Im zweiten Teil seines Aufsatzes versucht Kissel am konkreten Verlauf der Eskalation nachzuweisen, dass Russland sich vordergründig reaktiv verhalten habe. Er geht dabei auf die wachsende Kooperation zwischen NATO und der Ukraine, die Kooperation pro-westlicher Oligarchen mit faschistischen Kräften und die Zurückweisung russischer Gesprächsangebote durch den Westen ein. Anhand dieser Indikatoren kommt Kissel zu dem Fazit, dass sich die NATO als der eigentliche Aggressor erweise.

Klara Bina: Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung

Klara Bina beklagt in einem ersten Schritt die mangelnde Debattentransparenz. Einzelne Parteien würden nur Resultate veröffentlichen, ohne die dahinter liegenden Argumente und Kontroversen kenntlich zu machen. Eine solche Diskussion müsse jedoch transparent sein, wenn auch durch eine Autorität geleitet. Diese gäbe es nach Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale aber nicht mehr und es sei unklar, ob eine solche überhaupt gewünscht sei.

Das zentrale Motiv des russischen Angriffs sieht sie in dessen Sicherheitsinteressen. Eine Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen weist sie als „vulgär-ökonomistisch“ zurück. Die Eskalation begründet sie mit der zunehmenden Infragestellung des alleinigen Führungsanspruchs der Westmächte durch China oder Russland. Sie gibt zu bedenken, dass, an Stelle über den Charakter des russischen Imperialismus zu streiten, lieber der deutsche Imperialismus analysiert werden solle.

In einer breiten Diskussion von Lenins Imperialismusbegriff und seiner Interpretationen – als Vorstellung von einem alleinigen Imperium, als Vorstellung eines vom Kapitalismus losgelösten Phänomens (Sozialimperialismus), als Weltsystem- oder Pyramidentheorie – beharrt sie darauf, dass Lenin klar gekennzeichnet habe, dass sich imperialistische Mächte qualitativ vom Rest der Welt unterschieden. Sie nimmt den Monopolbegriff ernst, ob er sich nun wirtschaftlich oder national äußere. In ihren Schlussfolgerungen mahnt sie an, dass die Verurteilung der russischen Invasion auf Grund des mangelhaften Imperialismus-Verständnisses in eine Kumpanei mit der deutschen Bourgeoisie führen könne.

Tom Hensgen: Die ,,Lager” in der KO beim Namen nennen

Als vorerst letzter Beitrag erschien ein Statement von Tom Hensgen. Er sieht zwei sich ausbildende Lager innerhalb der KO, was sich aber auch auf die allgemeine kommunistische Bewegung erweitern ließe: d eine Lager, dass Russland als „imperialistisch“ charakterisiere (in der KO das „programmatische Thesen“-Lager) und das, welches dies ablehne (das „DKP/KPRF“-Lager). Hensgen greift nun Motive und Ängste der beiden Lager auf, um so etwas wie Zwischen- oder Mittelpositionen einzunehmen. Man solle sich klar gegen die NATO positionieren, aber nicht vom russischen Imperialismus schweigen. Vielmehr: gerade, wenn man gegen die NATO sei, müsse man erkennen, dass die NATO aus dem aktuellen Konflikt gestärkt hervorginge. Bündnisse zwischen Proletariat und Bourgeoisie seien möglich, aber unter den konkreten Bedingungen Russlands abzulehnen. Putin bekämpfe zwar Faschisten, aber stärke sie momentan dadurch.

Das Argument, mit einer Verurteilung des russischen Einmarschs ins Fahrwasser der Bourgeoisie zu geraten, lehnt er mit dem Verweis ab, dass es linksradikalistisch sei, einfach immer das Gegenteil der herrschenden Klasse zu tun. Er resümiert, es sei „Pflicht der Kommunisten den Einmarsch zu verurteilen und sich gleichzeitig und hauptsächlich gegen die Propaganda des Klassengegners zu stellen.“

Zusammenfassung

In ihren Beiträgen versammelt die Kommunistische Organisation verschiedene Standpunkte und Argumente, die sich sowohl innerhalb ihrer Organisation als auch in der kommunistischen Bewegung als solcher auftun. An Hand der Debattenbeiträge lässt sich zunächst feststellen, dass keinesfalls Konsens über eine Pyramidentheorie des Imperialismus innerhalb der Kommunistischen Organisation besteht. Es ist ihr großer Verdienst, diese Debatte transparent zu führen, offene Fragen und Leerstellen zu benennen und natürlich muss ein geordneter Prozess der Urteilsfindung noch folgen. Neben den vielen fruchtbaren Passagen und Darstellungen, seien noch vier kritische Anmerkungen dargestellt:

Der schwerwiegendste Mangel aller Texte ist die fehlende Ableitung des Imperialismusbegriffs aus marxistischen Grundkategorien. Durch einen reichhaltigen Bezug auf Lenin ist zwar anzunehmen, dass man dessen Imperialismusbegriff übernimmt. Damit erbt man jedoch auch Ungenauigkeiten und Schwächen von Lenins Begriff. Man lädt sich auch unnötigerweise eine Jahrhunderte währende Debatte um das richtige Verständnis Lenins auf. Kaum eine kommunistische Partei sieht sich nicht im Erbe Lenins, auch wenn sie teilweise konträre Schlussfolgerungen ziehen. Dass, was Lenin in seiner Imperialismus-Schrift kristallisiert hat, sollte wieder entfaltet werden: Reproduktions- und Akkumulationsprozesse des Kapitals, Reaktionen des Kapitals auf den Fall der Durchschnittsprofitrate, Staatsableitungen usw.. Das ist ein weiter Weg, viele Fragen sind noch gar nicht gelöst, aber anders wird eine breite Akzeptanz für einen Imperialismusbegriff kaum erreicht werden.

Zweitens wird nicht erläutert, wie sich Proletariat und Imperialismus eigentlich vermitteln. Es wird lediglich festgestellt, dass der Ukraine-Krieg nicht der Krieg des Proletariats ist. Aber hat es deshalb mit diesem nichts zu tun? Leidet es nicht unter Bomben und Sanktionen? Trägt es nicht freiwillig Z oder gelb-blau? Ist es tatsächlich unerheblich für die Klassenlage, ob die NATO Russland in die Schranken weist oder von diesem in die Schranken gewiesen wird? Solche Behauptungen wären zu kühn, um sie unbegründet aufzustellen. Philipp Kissel versucht sich als einziger an einer Kritik der Isolation des Proletariats vom Weltgeschehen. Sein Argument, dass das Proletariat konkrete physische Sicherheitsinteressen habe, greift jedoch zu kurz, da ein direkter Angriff der Ukraine oder der NATO auf Russland sehr unwahrscheinlich ist und war. Es müsste viel weitgehender analysiert werden, wie das Proletariat auch in scheinbaren Friedenszeiten durch den Imperialismus formiert wird.

Drittens wäre ein Vorschlag: Vielleicht sollte man den Begriff des Antiimperialismus doppelt fassen. Einmal als Bewegung gegen den Imperialismus als System, das andere Mal gegen den Imperialismus der dominierenden Blöcke. Je nach Art und Weise der Vermittlung zwischen Klassenwiderspruch und Imperialismus könnte man sich von der Parteinahme für einen der imperialistischen Blöcke berechtigterweise politische Geländegewinne erwarten, auch wenn man den Imperialismus als System ablehnt. Die kommunistischen Parteien Indiens beispielsweise scheinen in diese Richtung zu tendieren. Hier zu differenzieren, könnte die Debatte vielleicht entschärfen und versachlichen.

Viertens: Insbesondere der Beitrag von Joshua Relko macht deutlich, dass es noch ein großes Problem zwischen Theoriebildung und Schlussfolgerungen gibt. Obwohl Relko angibt, dass noch viele Fragen, die teilweise sehr prinzipieller Natur sind, noch offen wären, gibt er dennoch bereits Urteile über Russland und den Krieg ab. Hier fragt man sich natürlich, worauf die Urteile fußen, wenn die Grundlagen noch gar nicht geklärt sind. Es ist richtig und redlich, anzugeben, was man noch nicht weiß und dass die KO den Mut hat, Lücken zu benennen, ist begrüßenswert. Aber in der gleichen Redlichkeit müsste man auch auf die Urteile verzichten, bis man die Grundlagen geklärt hat.

Die Widersprüchlichkeit innerhalb der kommunistischen Bewegung reflektiert die notwendige Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Sie beruht nicht darin, dass einige Genoss*innen reaktionär sind, dass einige sich Illusionen über diesen oder jenen Charakter hingeben oder andere einfach ihren Lenin besser gelesen haben. Sie beruht nicht im Subjektiven, sondern im materiell Objektiven. Diese Widersprüche müssen in der kommunistischen Bewegung auf den Tisch gelegt werden, ob in einer Organisation, in Deutschland oder international und sie müssen – und da schließe ich mich Klara Bini an – durch eine noch zu schaffende Autorität moderiert und zum Ergebnis geführt werden.

Literatur:

Alle Beiträge finden sich unter https://kommunistische.org/ .

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