Imperialismus messen – der TADVA

⋄ Ein Hauptpfeiler des imperialistischen Potentials einer Nation ist die globale Wettbewerbsfähigkeit.

⋄ Maria Markaki und George Economakis haben versucht, einen Index für die Wettbewerbsfähigkeit zu entwickeln, welcher auf der Struktur der Ökonomie beruht.

⋄ Der Technological Advanced Domestic Value Added (TADVA) misst Diversifikation und Komplexität einer Exportwirtschaft.

⋄ Er zeigt auf, dass Deutschland in der Spitzengruppe positioniert ist, die USA und China gleichauf liegen und Russland nur einen der hinteren Plätze belegt.

⋄ Der TADVA gibt begrenzten, aber in sich schlüssigen Kontext für die Analyse imperialistischer Politik.

Egal, ob es um Sanktionen gegen Russland oder den Erhalt einer seltenen Krötenart geht: Kaum ein deutscher Politiker kommt heutzutage durch eine Rede, ohne einmal zu betonen, wie wichtig es sei, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten. Dies mache den Unterschied, Deutschland ist global wettbewerbsfähig und die nördliche Hemisphäre schreit ungeachtet der historischen Schuldenlast nach einem stärkeren militärischen und politischen Engagement des einstigen Schurkenstaats. Griechenland war nicht wettbewerbsfähig und musste sich von der EU politisch entmündigen lassen, Häfen verkaufen und Rentner*innen frieren, hungern und medizinisch unterversorgt lassen.

Die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit bestimmt also die Stellung einer Nation in imperialistischen Hierarchie der Weltmächte. Wer oben ist, sichert sich satte Extraprofite und kann unangenehme ausländische Regierungen erpressen. Wer unten ist, zahlt ständig drauf und kriegt bei Rebellion auf den Hut. Doch wie kann man internationale Wettbewerbsfähigkeit messen?

Die beiden Ökonom*innen Maria Markaki von der Hellenic Mediterranian University und George Economakis von der Universität in Patras haben in der World Review of Political Economics einen Indikator zur Messung der globalen Wettbewerbsfähigkeit entwickelt. Im Zentrum ihrer Analyse steht im Gegensatz zu anderen von Marxist*innen aufgestellten Indikatoren nicht der Preis der Ware Arbeitskraft, sondern die materielle Beschaffenheit einer nationalen Ökonomie.

Die Methode: Technological Advanced Domestic Value Added

Die Autor*innen stellen zunächst fest, dass es entwickeltere und weniger entwickelte Länder gibt. Ein entwickeltes Land habe hierbei eine hohe Einkommenselastizität. Wenn wir diesen Begriff ins Marxistische übersetzen, ist dies der Spielraum innerhalb dessen sich der Klassenkampf bewegen kann. Die untere Grenze sind die subsidären Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, die obere Grenze ist die Lohnhöhe, aber welcher kein Profit mehr erwirtschaftet wird und somit keine Motivation für den Kapitalisten zur Produktion besteht. Eine hohe Einkommenselastizität ist somit sowohl für dass Proletariat als auch für die Bourgeoisie gut, führt also tendenziell zur Befriedung des Klassenantagonismus.

Wenn man nun fragt, worin sich entwickelte und unterentwickelte Länder unterscheiden, nennen die Autor*innen zwei Hauptfaktoren. Erstens die Diversifikation der Exportproduktion und zweitens die Komplexität innerhalb einer Ökonomie, bevor ein Produkt exportiert wurde. Verdeutlichen wir an zwei Beispielen: Wird in Deutschland ein Auto produziert, hängen vielfältige Zulieferbetriebe an den einzelnen Bauteilen. Um die Beschäftigen in Automobil- und Zulieferindustrie zu versorgen, sind dann wieder viele Dienstleistungen, Konsumgüterproduzenten etc. vonnöten. Der Herstellungsprozess weist eine hohe Komplexität auf. Weiterhin ist es für Deutschland gut, wenn nicht nur Autos exportiert würden, sondern zum Beispiel auch chemische Produkte, deren Produktion eine ebenso hohe Komplexität aufweisen.

Nehmen wir als zweites Beispiel ein ölexportierendes Land wie Venezuela. Die Technologie für die Ölförderung muss auf Grund der geringen Komplexität der eigenen Wirtschaft zugekauft werden. Dieses Geld fließt dann eben auch nicht in die Konsumgüter und Dienstleistungen für den einheimischen Markt. Fällt dann auch noch der Ölpreis, kommt das Land schnell in Zahlungsschwierigkeiten für den Zukauf und die Wartung der Technologie und weil die nicht in der Produktion eingesetzten Arbeiter*innen durch die Ölrente mit versorgt werden müssen.

Markaki und Economakis haben nun Daten aus der Input-Output-Analyse (eine nähere Beschreibung hier) verwendet, um diese beiden Aspekte in einem Indikator zu kondensieren: in den Technological Advanced Domestic Value Added (kurz TADVA). Er ist in einem optimal wettbewerbsfähigen Land 1 und im schlechtesten Fall 0. An Hand von IO-Daten lässt sich die innere Komplexität einer Ökonomie sehr leicht ermitteln. Ist zum Beispiel der zugefügte Wert der exportierenden Firma im Vergleich zum Gesamtwert eines Produktes klein, muss ein großer Teil des Wertes durch andere Firmen zustande gekommen sein. Die Diversität lässt sich gut ablesen, da die der World Input Output Database entnommenen Daten nach Sektoren aufgeteilt sind. Die Daten umfassen die 42 Länder, welche von der WIOD erfasst sind. Da dies in der Regel die wirtschaftsstärksten sind, kann man davon ausgehen, dass der TADVA in den übrigen Ländern noch geringer ist.

Die Ergebnisse: Deutschland in der Spitze, USA und China gleichauf

Daten aus dem unten zitierten Beitrag, blau eingefärbt: für die Imperialismusanalyse interessante Länder

Wir sehen in den Daten, dass es eine kleine Führungsgruppe gibt, unter denen Japan und Deutschland die bedeutendsten Länder neben kleineren Tigerstaaten sind. Überraschend mag das Ergebnis sein, dass China und die USA den gleichen TADVA aufweisen. Die Volksrepublik wäre somit im ökonomischen Wettbewerb den USA mittlerweile ebenbürtig. Da der TADVA eine intensive Größe ist, kann dies auch nicht auf die Bevölkerungszahl zurückgeführt werden. Russland befindet sich auf Rank 38 von 42. Griechenland hat die rote Laterne der EU-Staaten in der Hand.

Interessant ist, dass der Unterschied zwischen Durchschnitts- und Maximal-TADVA gerade einmal den Faktor 2,41, während der Durchschnitts-TADVA 7,28mal so groß ist, wie der minimale. Das bedeutet, dass die Führungsgruppe den Schnitt hochzieht und somit die dominierende Fraktion auf dem Weltmarkt ein übergroßes Gewicht hat.

In der Sektorenanalyse arbeiteten die beiden Autor*innen heraus, dass die führenden Länder besonders auf die Automobil-, Elektronik- und Produktionsmittelindustrie setzen, gefolgt von der chemischen und pharmazeutischen.

Diskussion

Was sagt dieser TADVA nun eigentlich aus? Der TADVA ist kein Maßstab für den Reichtum eines Landes. Norwegen und Luxemburg belegen hintere Plätze, während Rumänien noch vor Kanada rangiert. Der Wohlstand der Vereinigten Staaten ist schlecht abgebildet, da er weniger exportabhängig ist, sondern der Dollar als weltweite Leitwährung Importe bevorzugt. Der Indikator zeigt daher eher an, wie stark der Reichtum eines Landes von der Exportproduktion abhängt.

Der Indikator sagt auch wenig darüber aus, wie „imperialistisch“ ein Land ist. Nehmen wir China und die USA als Beispiel. Der TADVA sagt nichts aus, dass China genauso imperialistisch auftritt wie die USA oder es kann. Dazu sind die Binnenmärkte und die Funktionen von Yuan und Dollar, sowie die Ausdehnung des Militärs zu verschieden. Er sagt aber aus, dass es für ein Land der kapitalistischen Peripherie ökonomisch gleichwertig ist, mit den USA oder mit China zusammenzuarbeiten. Somit werden politische Motive diese Entscheidungen dominieren.

Der TADVA quantifiziert ein wenig den Kontext, in welchem die jeweiligen imperialistischen Nationen ihre Interessen verfolgen. Während Deutschland als eines der wettbewerbsfähigsten Länder sich im Freihandel am wohlsten fühlt, hat es keine Interesse an Konflikten, welche diesen einschränken könnten. China und die USA befinden sich in einer ambivalenten Situation. Beide sollten interessiert sein, an Freihandelsbeziehungen zu ökonomisch schwächeren Ländern (Brasilien, Mexiko, die nicht aufgeführten Länder), aber gegenüber Japan und Deutschland eine eher protektionistische Strategie einschlagen. Die Regierung Trump hat eine Seite der Medaille dieses wechselvollen Verhältnisses wiedergespiegelt.

Russland kann auf Grund seiner ökonomischen Struktur wirtschaftlich nicht mithalten. Es ist jedoch zu groß, um sich in globalen Nischen wie Norwegen und Luxemburg einzurichten. Daher muss es seine Märkte, auf denen die russische Industrie noch überlegen ist (und die gibt es) nicht durch wirtschaftliche Attraktivität, sondern durch politischen und militärischen Druck erreichen.

Zusammenfassung

Der Technological Advanced Domestic Value Added erweist sich als ein in sich schlüssiger Parameter mit begrenzter Aussagekraft. Der Versuch, die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Stellung in der globalen Hierarchie aus der Diversifikation und Komplexität einer Ökonomie – also aus der ganz materiellen Basis – abzuleiten, ist spannend und verdient Beachtung. Zudem machen solche datenanalytisch tiefergehenden Indikatoren wie der TADVA die Effekte globaler Wertschöpfungsketten viel besser sichtbar als die simplen Wirtschaftsdaten der Statistikämter. Dennoch scheinen die auf der Arbeitswertlehre beruhenden Indikatoren etwas mächtiger für die politische Analyse zu sein. Als Beispiel sei der Unequal Exchange Dependency Index (näheres hier) von Andrea Ricci genannt, da dieser direkter auf die Beziehungen zwischen den Nationen eingeht, das Gesamtvolumen der Ökonomien mit einbezieht und durch die Zulassung negativer Werte zeigen kann, wo der Freihandel einzelnen Ländern direkt schadet.

Eine zeitgemäße Analyse des Imperialismus als Stadium des gegenwärtigen Weltkapitalismus sollte Indikatoren wie den TADVA kennen. Sie sollte wissen, was er aussagt, was er nicht aussagt und mit welchem Indikator man die Erkenntnislücken schließen kann. So könnte für die USA eine Inbeziehungsetzung zum Foreign Value Added, welcher die Importabhängigkeit untersucht, das Gesamtbild der USA besser zeichnen. Letztendlich können jedoch alle diese Parameter nicht die konkrete Politik eines Landes vorhersagen. Sie lassen aber Schlussfolgerungen und Prognosen zu Handlungsspielräumen und Attraktoren von Politik und Klassenkämpfen zu.

Literatur:

Economakis, G. & Markaki, M. (2021): International Structural Competitiveness in the World Economy. Theoretical and Empirical Research Evidence. In: World Review of Political Economy. Jahrgang 12, Nr. 2. S.195-219.

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