Ein hartes Stück abstrakte Arbeit

⋄ Harte Arbeit ist das Fundament unserer Zukunft. So lernten es jedenfalls unsere Eltern.

⋄ Bereits bei Marx war jedoch die Arbeitsintensität ein von der Produktivität unterschiedener Begriff.

⋄ Eine offene Frage im Marxismus ist, wie sich die Arbeitsintensität auf absoluten und relativen Mehrwert auswirkt.

⋄ Insbesondere die simultane und die temporale Interpretation der Marxschen Werttheorie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.

⋄ Alan A. Deytha Mon und A. Sebastián Hdez. Solorza aus Mexiko haben in der
World Review of Political Economy zwei Ansätze verglichen und eine Lanze für den TSSI-Ansatz gebrochen.

Harte Arbeit besitzt in Deutschland einen ziemlich guten Ruf. Wer hart arbeitet, darf auch hart feiern oder hat sich zumindest das Feierabendbierchen verdient. Die Berechtigung einer politischen Forderung wird hierzulande gerne an den Fleiß gekoppelt, egal ob Gewerkschaften ihre Lohnforderungen rechtfertigen oder die Ansprüche der Letzten Generation wegen deren angeblicher Faulheit zurückgewiesen werden. Und schon unsere Eltern haben hart gearbeitet, damit es uns heute besser geht. Aber geht es uns heute besser?

Nein, im Kapitalismus macht harte Arbeit nicht reich, nicht die Arbeiter*in, nicht die Gesellschaft. Dazu ist er auch nicht gemacht, sondern zur Bereicherung der Besitzer der Produktionsmittel. Was genau allerdings die Arbeitsintensität und deren Steigerung mit Mehrwert und Profit machen, darüber gibt es im Marxismus tatsächlich eine Kontroverse. Zum Beispiel zwischen den Vertretern einer simultanen Werttheorie und denen einer temporalen. Alan A. Deytha Mon und A. Sebastián Hdez. Solorza aus Mexiko haben in der World Review of Political Economy Partei für letzteres ergriffen.

Temporalisten und Simultaneisten

Nun ist der Marxismus nicht arm an verschiedenen gegensätzlichen Strömungen. Eine der eher unbekannteren Kontroversen ist die zwischen der so genannten Temporal Single System Interpretation (TSSI) und der simultanen Werttheorie. Beide Ansätze gehen im Gegensatz zur monetären Werttheorie davon aus, dass es einen Unterschied zwischen Tauschwerten und relativen Preisen gibt. Der Preis gibt nicht unbedingt die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit wieder. Beide unterscheiden sich jedoch in der Erklärung. Die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit lässt sich nicht mit der Uhr messen, sondern resultiert aus einem Vergleich aller konkreter Arbeiten, die Mengen konkreter Güter herstellen. Wie soll man also die abstrakte Arbeit messen? Marx hat im dritten Band des Kapitals ein Umrechnungsverfahren von Werten und Preisen vorgeschlagen, dass intuitiv einleuchtet, aber mit zwei Mängeln behaftet ist. Zum einen ist nicht klar, welche der Größen allein durch den Arbeitswert bestimmt ist und welche bereits in der Preisform vorliegt. Und zweitens gibt es bei der Aufstellung eines entsprechenden Gleichungssystems immer mindestens eine Unbekannte zu viel für die Anzahl an Gleichungen. Diese beiden Probleme werden unter dem Transformationsproblem zusammengefasst.

Die Simultaneist*innen gehen nun davon aus, dass es zwei verschiedene Systeme gäbe. Zum einen das System der Werte und zum anderen das System der Preise. Unter einer Gleichgewichtsbedingung und der Nutzung von zwei zusätzlichen Annahmen, über die wiederum es verschiedene Diskussionen gibt (Näheres hier), ließe sich das angesprochene Gleichungssystem, wie es ursprünglich von Bortkiewicz und später von Sraffa formuliert wurde, algebraisch lösen. Input-Output-Tabellen zur Arbeitszeiterfassung könnten genutzt werden, um die tatsächlich inkorporierte durchschnittliche Arbeitszeit zu ermitteln und müssten mit einigen statistischen Abweichungen der realen Preisbildung entsprechen, wenn das Marxsche Modell stimme.

Die Temporalist*innen widersprechen diesem Ansatz aus einem ganz prinzipiellen Grund. Algebraische Mathematik hat keinen Zeitpfeil, während dialektisches Denken und die menschliche Praxis eine zeitliche Richtung besäßen (Näheres hier). Vielmehr bestimmten sich Werte und Preise sequentiell. Bereits vor dem Verkauf würden Produktionsmittel und Arbeitskraft zu Preisen gekauft, deren Tauchwerte in der vorangegangenen Produktionsperiode in Form des Preises bestimmt wurden und die als c und v (hier entsprechen die Preise den Werten) in die Wertgleichung eingingen. In der Praxis des Verkaufs zeigt sich dann auf Grund des erzielten Preises, der nach Marx dem Produktionspreis + Durchschnittsprofit entspricht, ob die diese über-, unter- oder einfach durchschnittlich produktiv waren.

Arbeitsintensität und Wert

Marx bestimmt die Arbeitsintensität als die Dichte, Geschwindigkeit, Kraft und das Geschick, mit der eine konkrete Arbeit bei gegebenen Produktionsmitteln im Produktionsprozess verrichtet wird. Sie ist nicht das gleiche wie die Produktivität, die auch durch den Einsatz moderner Produktionsmethoden oder neuer Produktionsmittel gesteigert werden kann, auch wenn die Arbeitsintensität gleich bleibt oder sogar abnimmt. Die Bourgeoisie ist technisch gesehen neben der Verlängerung des Arbeitstages auch beständig darum bemüht, die Intensität der Arbeit zu steigern. Allerdings begibt sie sich mit der Steigerung der Arbeitsintensität in einen Widerspruch. Wird mehr lebendige Arbeitskraft durch einen intensiveren Arbeitsprozess aufgezehrt, so steigt auch der Bedarf an Mitteln zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft bzw. der Bedarf an Zeit. Daher lässt sich die Arbeitsintensität nicht einmal bis zu ihrer biologischen Grenze steigern, wenn die Ware Arbeitskraft zu ihrem Wert gekauft werden soll. Wenn der Staat oder die organisierte Arbeiter*innenklasse auch der Länge des Arbeitstages eine absolute Grenze setzen, ist die Bourgeoisie gezwungen, die Produktionsmittel zu entwickeln, um einen relativen Mehrwert zu erzielen.

Natürlich gab es von Seiten der Kapitalisten, für die eine Modernisierung der Produktionsmittel nicht möglich oder nicht rentabel war, immer wieder Versuche, die Arbeitsintensität soweit zu erhöhen, dass nicht mehr der volle Wert der Arbeitskraft bezahlt wurde und man sich so in der Konkurrenz halten konnte. Ein Beispiel ist die Geschwindigkeit der Maschinen im frühkapitalistischen England, welche die Regenerationsfähigkeit der Arbeiter*innen so stark überschritt, dass sie aus Erschöpfung und nachlassender Konzentration zu schweren Verletzungen führte. Wir können auch an die Methoden von Sweatshops und industriellen Landwirtschaft im globalen Süden denken. Und selbst bei uns in der aktuellen Debatte um die 4-Tage-Woche kann man schön verfolgen, wie die Kapitalisten Angst vor einer Steigerung der Arbeitsintensität machen, die am Ende für das Proletariat stressiger wäre, als die herkömmliche 40-Stunden-Woche.

Die Problemstellung

Eine eher kontraintuitive Folge steigender Arbeitsintensität ist, dass sie nicht den Wert einer Ware und nicht einmal aller an einem Tag produzierten steigert. Wenn die Arbeiter*innen einer Branche durch doppelt so viel Schweiß und Nerven doppelt so viele Waren produzieren, fällt der Preis jeder einzelnen hergestellten Waren um die Hälfte, wenn sich die höhere Arbeitsintensität verallgemeinert hat. Nur wenn ein einzelner Kapitalist die Arbeit seiner Angestellten effektiver zu nutzen weiß als die Konkurrenz, dann kann er in der selben Arbeitszeit einen höheren Warenwert für sich herstellen. Gesamtgesellschaftlich bedeutet das jedoch nur, dass alle anderen Kapitalisten unterhalb der gesellschaftlich möglichen Intensität arbeiten und somit weniger notwendige Arbeit vergegenständlichen als der Durchschnitt.

Aber was geschieht mit dem Mehrwert? Zunächst ist zwischen absolutem und relativem Mehrwert zu unterscheiden. Absoluter Mehrwert ist die Menge an Mehrarbeit, über die ein Kapitalist verfügt. Diese kann durch mehr Arbeiter*innen für einen Betrieb oder durch eine Verlängerung des Arbeitstages pro Arbeiter*in gesteigert werden. Der relative Mehrwert gibt an, wie hoch das Verhältnis zwischen Mehrarbeit und gesellschaftlich notwendiger Arbeit zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft ist.

Wenn eine höhere Intensität den absoluten Wert nicht steigern kann, dann sollte sie auch den absoluten Mehrwert nicht steigern können. Es würden zwar mehr Produkte in der gleichen zeit hergestellt, aber diese hätten jedes für sich einen geringeren Wert. Der relative Mehrwert wäre davon jedoch berührt, da die Senkung der Warenwerte die Senkung der zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft nötigen Waren reduzierte. Die Arbeiter*in bräuchte einen geringeren Teil des Tages, um das Äquivalent ihres Lohns zu erwirtschaften. Allerdings stiege sowohl der Bedarf an Erholung als auch an Mitteln zur Erholung. Es gibt also mit der Erhöhung der Arbeitsintensität Tendenzen und Gegentendenzen hinsichtlich der Erhöhung des relativen Mehrwerts. Die Frage ist, wie sich das mathematisch ausdrücken lässt.

Die simultane Lösung

Um diese Frage zu analysieren, verfolgen simultane und temporale Interpretationen verschiedene mathematische Ansätze mit unterschiedlichen Ergebnissen. Basu, Haas, and Moraitis (2021) als Vertreter einer simultanen Lösung haben entsprechend des dualistischen Ansatzes von Geld und Wert als getrennten Systemen auch einen getrennten Ausdruck für die Arbeitsintensität im Geld- und Wertsystem. Im Geldsystem messen sie die Arbeitsintensität als Output pro Input. Eine Steigerung der Intensität macht sich als durch ein mehr an verkauften Waren bei gleichbleibenden Produktionsmitteln bemerkbar oder als Senkung des Werts der Produktionsmittel bei konstantem oder steigendem Output. Da Outputs und Inpus in Preisen gemessen werden, funktioniert dies im Preissystem. Im Wertesystem gibt die Arbeitsintensität an, wie groß die Kapazität der Ware Arbeitskraft ist, neuen Wert zu schaffen. Die Daten müsste man einer Arbeitszeiterfassung über die gesamte Wirtschaft entnehmen, was die empirische Prüfung schwer macht. Dann vergleichen sie in einer mathematischen Formel die Fähigkeit der Arbeit durch höhere Intensität mehr Inputs in Outputs umzuwandeln mit der, einen höheren Wert zu generieren. Würde bei steigender Outputmenge der geschaffene Wert nicht in gleichem Maß mitsteigen, würde nur ein absoluter, aber kein relativer Mehrwert geschaffen. Wenn allerdings die Arbeit durch die höhere Intensität mehr Wert schaffe als es ein Mehr an Gütern gibt, dann stiegen sowohl die relative als auch der absolute Mehrwert.

Der zweite Fall ist allerdings kontrafaktisch und von Marx im Kapital auch nicht vorgesehen. Man könnte ihn physikalistisch interpretieren, dass die hergestellten Waren hochwertiger seien, aber hier würde die Analyse an der Substanz des Werts, der vergegenständlichten Arbeit, vorbeigehen. Wenn der Fall aber mathematisch möglich ist, sollte er auch realistisch möglich sein, wenn die simultane Mathematik die Wirklichkeit abbilden möchte. Zudem lässt sich die Preisform der Arbeitsintensität garnicht von der Produktivität unterscheiden. Doch auch diese sind bei Marx explizit unterschiedene Größen. Zudem hält Marx die Intensität für gar kein Mittel, um den absoluten Mehrwert zu steigern. Diese Interpretation würde Marx also widersprechen. Aber wer hat nun Recht? Marx oder die Simultaneisten?

Eine temporale Interpretation der Arbeitsintensität

Deytha Mon und Solorza argumentieren, der grundsätzliche Fehler von Basu, Haas und Moraitis sei es gewesen, unreflektiert ein algebraisches System aufzustellen, dass der Dialektik der Marxschen Argumentation keine Rechnung trage und sich in Anbetracht der Ergebnisse einer nur scheinbar „neutralen“ Methode die Zitate herauszupicken, welche die Ergebnisse stütze. Marx selber sei klar darin gewesen, dass sich der absolute Mehrwert nur durch Verlängerung des Arbeitstages steigern ließe, der relative jedoch durch eine höhere Intensität der Arbeit.

„Die Produktion des absoluten Mehrwerts dreht sich nur um die Länge des Arbeitstags [und] die Rate des Mehrwerts [ist] nur erhöhbar durch relativen Größenwechsel seiner Bestandteile, der notwendigen Arbeit und der Mehrarbeit, was seinerseits, soll der Lohn nicht unter den Wert der Arbeitskraft sinken, Wechsel in der Produktivität oder Intensität der Arbeit voraussetzt.“

MEW 23, S.532ff.

Aber wie löst der temporale Ansatz die genannten Probleme bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Wechsel der Intensität der Arbeit, den Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft und dem relativen Mehrwert? Indem der zeitlichen Komponente Rechnung getragen wird. Bei der Analyse ist es wichtig, zu unterscheiden, ob ein Wert bereits als Preis in der vorangegangenen Periode realisiert wurde oder es sich um Arbeitswerte der aktuellen Produktionsperiode handelt. Durch die Indices „t“ und „t+1“ werden die jeweiligen Größen sauber getrennt. Ohne auf die entsprechenden Gleichungen einzugehen, erhalten sie das Ergebnis, dass die Intensität der Arbeit nur dann den relativen Mehrwert erhöht, wenn der Anstieg größer ist als der des Reallohns. Dieses Ergebnis stünde nicht nur im Einklang mit den Aussagen im Marxschen Kapital, sondern ist auch intuitiv verständlich. Für den Kapitalisten rechnet sich die intensivere Arbeit seiner Arbeiter*innen nur, wenn ihr Lohn nicht im gleichen Verhältnis steigt.

Zusammenfassung

Wenn nun ein Ergebnis zustande kommt, welches schon vor der ganzen mathematischen Betrachtung intuitiv plausibel war, warum ist der Vergleich eigentlich interessant? Zum einen, weil er ein Urteil über die Gültigkeit der jeweiligen theoretischen Ansätze spricht. Die simultaneistische Methode fand Widersprüche bei der Betrachtung der Arbeitsintensität bei Marx. Diese Widersprüche wurden aber durch die Methode selbst verursacht. Der Ansatz über ein algebraisches Gleichungssystem mit einem Preis- und einem Arbeitswertsystem ignoriert die Zeit als fundamentale Größe der Dialektik und des historischen Materialismus. Der Formwechsel zwischen Werten und Preisen, der durch die Bildung der Durchschnittsprofitrate auch einen Größenwechsel einschließen kann, erfolgt in eine Richtung und nach dem Wechsel ist es sinnfrei, zwischen Preis und „eigentlichem Wert“ zu unterscheiden.

Für die Diskussion um die 4-Tage-Woche sagt Marx genau das voraus, womit Arbeitgeber im Moment argumentieren. Sinkt die extensive Größe Arbeitszeit um einen Tag pro Woche, sinkt auch der absolute Mehrwert um 20%. Dieser müsste durch die Erhöhung des relativen Mehrwerts durch Intensivierung der Arbeit kompensiert werden, um die Mehrwertrate zu halten. Es bliebe nach Marx und der TSSI also alles beim Alten, wenn der Arbeitstag einfach kraftraubender würde. Klassenkampf ist allerdings der Kampf um die Höhe der Mehrwertrate als solcher, also sowohl der extensiven als auch der intensiven Nutzung der Ware Arbeitskraft. Und daher muss man sich bewusst sein, dass eine 4-Tage-Woche nicht nur bei vollem Lohnausgleich, sondern auch nur bei gleichbleibender Intensität der Arbeit, ein realer Klassenkampf ist, welcher dem Kapitalisten tatsächlich einen Teil der Lebenszeit abluchst.

Literatur:

Mon, A. & A. Solorza, S. (2023): A CRITIQUE OF THE SIMULTANEIST INTERPRETATION OF WORK INTENSITY IN MARX’S VALUE THEORY FROM THE TSSI PERSPECTIVE. In: World Review of Political Economy vol. 14. Jahrgang 14. Ausgabe 1. S.99–121.


Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert