⋄ Teile der Linken sehen das Kapital als ein automatisches Subjekt an, das sowohl Kapitalisten als auch Proletarier unter seine Gesetze zwinge. ⋄ Miika Jaarte von der Universität in Stanford hat am Beispiel der Kapitalflucht diskutiert, ob diese Ansicht haltbar ist. ⋄ Er verwirft Ansichten, welche die Bourgeoisie als Riesen in der Nähe eines Dorfes betrachten, der zwar merklich Dominanz ausübt, aber für seine Beschaffenheit nichts kann. ⋄ Er zeigt viel mehr auf, dass das Handeln auf Grund gemeinsamer Interessen die personale Herrschaft einer Klasse über eine andere herstellen kann, ohne dass sich die einzelnen Mitglieder absprechen müssten. ⋄ Diese Interessen können auch nicht als Nullsummenspiel arrangiert werden, sondern sie stehen sich unvereinbar gegenüber. |
Jeder kennt das Szenario: Eine progressive Regierung kommt an die Macht und hebt die Sozialstandards oder vergesellschaftet sogar Großunternehmen. Die Bourgeoisie zieht auf Grund der gesunkenen Profitraten ihr Kapital aus diesem Land ab und investiert im Nachbarland. Durch steigende Arbeitslosigkeit erhöhen sich die Sozialkosten, während die Einnahmen bröckeln und die einst progressive Regierung gezwungen wird, einen wirtschaftsfreundlicheren Kurs einzuschlagen. In ähnlicher Form verläuft auch gerade hierzulande die Diskussion. Weil die Lohnkosten, die Sozialausgaben (besonders das Bürgergeld) und eine überbordende Bürokratie (die meist der Vereitelung der größten kapitalistischen Schweinereien dient und meist so kompliziert ist, weil das Kapital jedes Schlupfloch nutzt, das es gibt) den Standort Deutschland so teuer machten, verschwindet das Geld lieber in den USA, in China oder sonstwo.
Diese Analyse wird von reaktionären wie sozialistischen Kräften unter jeweils anderen Vorzeichen geteilt. Die einen begrüßen die darin enthaltene Drohung, die anderen sehen die Grenzen einer sozialen Marktwirtschaft hier begründet. Aber ist das wirklich der Modus, mit dem die Bourgeoisie herrscht, ohne in der Regierung zu sitzen. Miikka Jaarte von der Eliteuniversität in Standford hat kritisch nachgefragt.
Zur Problemstellung
Dass der Kapitalismus die faktische Herrschaft der Bourgeoisie durch die Kontrolle der Produktionsmittel über alle anderen Klassen der Gesellschaft ist, ist eine zentrale Erkenntnis der marxistischen Analyse. Da diese Herrschaft jedoch nicht auf einer unterschiedlichen Rechtsstellung der einzelnen Individuen beruht, ist diese Herrschaft selbst äußerlich nicht leicht zu fassen und in Fragen der Vermittlung heiß diskutiert. Insbesondere republikisch orientierte Linke wie Sozialdemokrat*innen oder demokratische Sozialist*innen weisen auf den Umstand hin, dass demokratische Staaten ein großes Instrumentarium zur Beschränkung der Kapitalmacht entwickelt hätten, das durch ein unzureichendes soziales Netz vielleicht noch Ungerechtigkeiten aufweise, aber keinesfalls mehr als strukturelle Herrschaft zu verstehen sei. Die Herrschaft der Bourgeoisie können sie sich nur als einen Ausschuss der konkreten Kapitalisten vorstellen, der ihre Interessen unmittelbar artikulieren würde und entsprechende Agenten (wie Zeitungen, Behörden, Politiker etc.) kaufen müsste, um die Herrschaft durchzusetzen. Da dies aber nicht der Fall sei, rückt man solche Ansichten gerne in die Nachbarschaft von Verschwörungstheorien. Und ein wenig ist da auch was dran, wenn man sich die vielen Legenden zu den Treffen in Davos oder den Bilderbergern anschaut. Die sich manchmal antikapitalistisch gebärdende Rechte ist hier in der Tat zu keiner elementaren Kapitalismuskritik in der Lage.
Allerdings scheitern die linksrepublikanischen Ansichten selbst immer wieder an der Realität. Nehmen wir etwa das Jahr 1981. Der Sozialist Francois Mitterand gewinnt die Präsidentschaftswahlen in Frankreich und zusammen mit dem ebenfalls sozialistischen Premierminister Pierre Mauroy, sowie einem Bündnis mit den Kommunisten gibt es keine politischen Barrieren mehr für ein so radikal linkes Programm, wie es nicht mal unter der Volksfrontregierung unter Blum denkbar war. Der Witz ist hierbei, dass die Sozialisten anders als die deutschen Sozialdemokraten, einmal an der Macht, nicht von ihren linken Forderungen abrückten, sondern diese aktiv in die Realität umsetzen wollten. Großbetriebe wurden verstaatlicht, die 39-Stunden-Woche eingeführt, der Mindestlohn um 40% erhöht und die Stellung der Gewerkschaften gestärkt. Es dauerte kein Jahr, bis Frankreich in eine tiefe Rezension rutschte. Bereits 1982 stoppte Mitterand das linke Programm und bis 1984 hatte er sogar eine komplette Kehrtwende eingeleitet, durch eine Abwertung des Francs die Löhne entwertet und die Konkurrenzfähigkeit der Ökonomie zu obersten Priorität erhoben. Die kommunistischen Minister zogen sich zurück und diese Wende hallt bis heute in der politischen Landschaft Frankreichs wider.
Was war passiert? Es fand massive Kapitalflucht statt. Dabei ist unter Kapitalflucht nicht nur zu verstehen, dass das Kapital in andere Länder abgezogen wird, sondern auch, dass Kapitalisten Investitionen zurückhalten, also das Geld seine Rolle als Kapital in die des Schatzes ändert. Häufig wird auch von einem Kapitalstreik gesprochen. Die Frage ist, wie konkret sich dieser Kapitalstreik organisiert hat. Schließlich hätte jeder Kapitalist bei einer Investition noch immer auf, wen auch gesunkene, Profite hoffen können, was mehr ist, als das Geld unter dem Kopfkissen zu verstecken. Dennoch gelang es dem Kapital, sich so zu organisieren, dass für einen kurzfristigen Verlust, die langfristige Dominanz der Kapitalinteressen gesichert wurde. Um dies zu erklären, gibt es in der politischen Philosophie zwei verschiedene Ansätze.
Vermittelte Herrschaft
Eine in der bürgerlichen Philosophie, aber auch in der linkssozialistischen Diskussion, anzutreffende Ansicht sieht die bürgerliche Herrschaft im wesentlichen als systemisch vermittelte an. Hierbei sind die eigentlichen Urheber eines Machtungleichgewichts vorrangig unpersönlicher Natur. Darunter wird verstanden, dass es zwar begünstigte Personen in einer Gesellschaft gibt, diese aber mehr oder weniger durch Fehler des Systems begünstigt werden und nicht durch aktive Herrschaftsausübung.
In dieser Interpretation übt etwa eine Person A über eine Person B dann Kontrolle aus, wenn A eine freie Wahl von B stärker beeinflussen kann als B die von A. In einer demokratischen Gesellschaften hätten zunächst alle Mitglieder Freiheiten und gleichzeitig Einschränkungen, denen sie unterlägen. Zu diesen Freiheiten gehört auch ein gewisser Schatz an Ressourcen, der die freie Wahl möglich macht, wie die Verfügung über elementare Lebensmittel. Besitzt nun A ein Haus und lässt B zur Miete darin wohnen, dann könnte sich etwa unter der Bedingung offener Wahlen ein Machtungleichgewicht auftreten, wenn A die Verfügung über den Wohnraum zur Erpressung von B nutzt.
Das Besondere dieser Interpretation ist zum einen, dass Herrschaft nur persönlich zwischen einzelnen Individuen besteht und nicht kollektiv. Vermieter A kann nur seinen Mieter B erpressen, aber nicht Mieter D von Vermieter C. Und zum anderen ist Herrschaft Resultat eines behebbaren Fehlers, der sich politisch auch anders gestalten lässt. Durch geheime Wahlen etwa könnte abgesichert werden, dass die direkte Kontrolle von A über B ihre Grundlage verliert. Eine Metapher für diese Ansicht ist etwa die des gutmütigen Riesen, der in der Nähe eines Dorfes lebt. Der Riese über natürlich Macht über das Dorf aus, dass er jederzeit zerstören könnte, allerdings könne er nichts für seine Beschaffenheit und nur dann moralisch zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er wirklich Unheil anrichtet. Dass sich die Dorfbewohner aus Eigeninteresse sicherlich den Wünschen des Riesen anpassen werden, kann hier noch nicht als Herrschaft gedeutet werden.
Unvermittelte Herrschaft
Miika Jaarte schließt sich dieser Auffassung nicht an. Um sein Konzept einer unvermittelten Herrschaft plausibel zu machen, bemüht er ebenfalls ein bildhaftes Beispiel. Man stelle sich einen Fluss vor, an dem zwei Chemiewerke stehen. Beide lassen jeweils ihre Abwasser in den Fluss ab, wobei jede einzelne Fabrik allein für sich gesehen nichts giftiges in den Fluss leitet und daher nicht von Gesetzen daran gehindert wird. Vermischen sich allerdings die Abwässer, dann reagieren sie so, dass der Fischbestand beschädigt wird und die anliegende Fischerei ihr Auskommen verliert. Ein Gespräch der Fischerei mit einem der beiden Betriebe zeigt die Bereitschaft, ihre Abwässer zu recyceln, unter der Bedingung, dass die Kosten von der Fischerei übernommen würden. Zähneknirschend muss die Fischerei dies akzeptieren.
Das Spitzfindige an der Metapher ist nun, dass die beiden Chemiebetriebe ein diffuses Kollektiv bilden. Ohne sich abzusprechen oder auch nur voneinander wissen zu müssen, ist für beide das Ergebnis klar. Sie können kostenneutral aus der Sache rausgehen. Entweder bezahlt die Fischerei die Entsorgung oder sie leiten weiter die Abflüsse ins Wasser. Und egal, welchen von beiden Betrieben die Fischerei bezahlt. Sie muss von ihrem Gewinn einen Teil abzweigen, um ihre Existenzgrundlage nicht zu verlieren. Ebenfalls zu beachten an ist, dass die Betriebe moralisch nicht für den verursachten Schaden zu verurteilen sind. Es gibt kein Nullsummenspiel. Entweder zahlt ein Betrieb auf eigene Kosten die Entsorgung, dann gerät er in einen Wettbewerbsnachteil zum anderen. Oder beide bezahlen ihre Entsorgung selbst, dann steht auf einmal die Fischerei als übervorteilt da. Das allerdings würde ein vollkommen altruistisches Vorgehen der beiden Chemiefabrikanten voraussetzen. Unter rationalen Handlungen würde diese Situation allerdings nicht Pettits Augenscheintest für Herrschaft bestehen, nämlich dass der Fischer „aufrecht gehen und anderen gerade in die Augen blicken“ könne; schließlich ist er auf Gedeih und Verderb nicht nur darauf angewiesen einen Chemiefabrikanten zu bezahlen, sondern auch dass dieser sich überhaupt auf den Deal einlässt.
Daraus entwickelt Jaarte eine Definition unmittelbarer Herrschaft und die lautet: „Wenn mehrere As ein identifizierbares diffuses Kollektiv darstellen, dominieren sie B genau dann, wenn sie ein gemeinsames Interesse verfolgen, das einen unkontrollierten Eingriff in die Grundfreiheiten von B darstellt.“ Diese Definition hält der Autor für nicht weniger robust als die vermittelte Herrschaftsdefinition, da auch hier Herrschaft nicht erst wirksam wird, wenn sie real ausbeübt wird, sondern bereits als Potential vorhanden ist und über eine Analyse der Interessen der Klassen bestimmbar ist.
Kapitalflucht als unvermittelte Herrschaft
Die beschriebene Situation soll veranschaulichen, dass es auch in einer demokratischen Gesellschaft ein folgendes Szenario gibt: Es gibt eine persönliche und unvermittelte Herrschaft eines Gesellschaftsmitgliedes über ein anderes. Die Herrschaft ist kein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Regeln, sondern eine Konsequenz. Die herrschende Klasse muss sich untereinander nicht absprechen, um eine direkte Herrschaft auszuüben. Das neue an Jaartes Szenario ist, dass die bürgerliche Sozialphilisophie ein solches Szenario konsensuell ausschließt. Aber nun steht noch der Nachweis an, dass nicht nur ein solches Szenario denkbar ist, sondern das Kapitalflucht die Voraussetzungen eines solchen Szenarios erfüllt.
Zunächst einmal hält Jaarte fest, dass Kapitalisten, die ihr Kapital zurückhalten oder in andere Regionen abziehen, dies nicht abgesprochen tun, sondern in der Verfolgung ihrer Interessen. Zweitens tun sie dies innerhalb der staatlich gewünschten Rahmenbedingungen, dass Kapital so mobil ist, dass es sich daran orientiert, wo die besten Profitchancen sind. Und bei der Kapitalflucht halten sich die Kapitalisten genau an diese Regeln. Drittens üben die Kapitalisten damit Druck auf die Freiheiten der anderen Gesellschaftssubjekte aus. Die Menschen haben nicht die Möglichkeit, für eine höhere Unternehmensbesteuerung oder höhere Löhne zu votieren, da durch den Einschnitt in die Profitraten, mit dem Kapital eine wesentliche Steuerquelle flieht. Das gespiegelte Problem ist, dass massive Einschnitte in die Kapitalverkehrsfreiheit wiederum einen permanenten Eingriff in die Freiheit der Kapitalisten darstellt und damit das Setting in der Form umdrehen würde, als ob die Chemiefabrikanten zu Gunsten des Fischers ihren Müll auf eigene Kosten recyceln müssten.
Man könnte nun einwenden, dass diese Übertragung nur für ideale freie Märkte gelten würde. In Realität gibt es aber viele Monopolunternehmen, die nicht nur zu groß und mit einem Staat verwoben sind, um einfach zu fliehen. Aber hier wird das a-posteriori-Ergebnis nur gegen eine a-priori-Intervention ausgetauscht, indem das Monopolkapital bereits im politischen Entscheidungsprozess seine Interessen geltend machen kann und nicht nur als Reaktion. Letztlich bleibt nur der idealistische Appell an den Idealismus der Kapitalisten – auch unter schwierigen Bedingungen – ihr Geld im Inland zu investieren. Auf jeden Fall passen alle Kriterien Jaartes, die eine personale und unmittelbare Herrschaft des Kapitals beschreiben, auf die Kapitalflucht.
Zusammenfassung
Was Jaarte hier aus der Logik und Tradition einer bürgerlichen Philosophie heraus ableitet, ist im Marxismus eigentlich eine Binsenweisheit. Eine kapitalistische Gesellschaft besteht aus Klassen mit entgegengesetzten Interessen und die Kontrolle über die Produktionsmittel (die in etwa der Lage der Chemiefabrikanten in Jaartes Beispiel gleich kommt) verschafft der Bourgeoisie einen Machtvorsprung, der auch bei rechtlicher Egalität immer zur Herrschaft der Bourgeoisie führt. Das, was tatsächlich von einigen marxistischen Strömungen bestritten wird, ist dass diese Herrschaft personaler Natur ist. Für Vertreter*innen der kritischen Theorie etwa ist das Kapital ein automatisches Subjekt, dass sowohl Kapitalisten als auch Proletarier unter die eigene Logik zwingt. Jaarte macht aber das Gegenteil plausibel. Es braucht keine verschwörerischen Gruppen von Kapitalisten, um eine unmittelbare Herrschaft über die Arbeiter*innen auszuüben. Das strukturell gemeinsame Interesse ist vollkommen hinreichend. Und entweder wird das Interesse des Kapitals nach Bewegungsfreiheit zugunsten der Arbeiter*innen beschnitten oder die Arbeiter*innen bleiben Zeit ihres Lebens auch in der hübschesten Demokratie in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Ersteres nennen wir die Diktatur des Proletariats, zweiteres die Diktatur des Kapitals. Etwas dazwischen gibt es nicht.
Literatur:
Jaarte, M. (2024): Capital flight and domination by diffuse collectives. In: Politics, Philosophy & Economics. Online First. DOI: 10.1177/1470594X241292374.