Wählen linke Staaten in den UN proletarisch?

⋄ Lassen mittels der Klassenbasis von nationalen Regierungen ihre Abstimmungspräferenzen in den Vereinten Nationen voraussagen?

⋄ Diese Frage untersuchte Nicholas Lees in einer aktuellen Studie.

⋄ Er verglich dabei die Prognosekraft neogramschianischer Staatsmodelle mit der liberalen Einteilung in Demokratien und Autokratien.


⋄ Er fand heraus, dass die Klassenbasis sehr stark mit der Zustimmung oder Ablehnung der Positionen der USA korreliert.

⋄ Dagegen stimmten Autokratien nicht signifikant gegen die USA, sondern positionierten sich je nach konkreter Lage. Die marxistische Theorie scheint hier aussagekräftiger.

Gibt es eigentlich Klassen unter den Staaten, sowie es Klassen innerhalb von Gesellschaften gibt? War China während seiner Zeit als Werkbank der Welt irgendwie ein*e zur Nation gewordene*r Proletarier*in? Ist Großbritannien nach außen hin ein Akteur des Finanzkapitals, Deutschland des Monopolkapitals und Indien der Bauernklasse? Lassen sich solche Konzepte also auf die Ebene von Nationen übertragen? Oder nimmt eine solche Sichtweise als vulgärer Antiimperialismus die Bestimmung aller bürgerlichen Staaten als Instrument der Bourgeoisie nicht ernst genug?

Nicholas Lees hat in der Cooperation and Conflict das Abstimmungsverhalten aller Länder in der UNO zwischen 1946 und 2020 untersucht. Er versuchte herauszufinden, ob die dominierenden Klassen mehr Einfluss auf das Abstimmungsverhalten hätten als bürgerliche Kategorien wie Autokratie und Demokratie.

Der neo-gramscianische Ansatz

Das offensichtlichste Problem dabei, Staaten einen Klassencharakter zuzuordnen, ist natürlich, dass alle Staaten Klassengesellschaften sind. Ohne Klassen mit widersprechenden Interessen bräuchte es keine vereinigende Gewalt, welche die Widersprüche regeln müsste. Ist nun eine Klasse an der Macht, so repräsentiert sie zwar vordergründig die Interessen ihrer Klasse, muss aber in der Regel ein bestimmtes Maß an Rücksicht auf die Interessen anderer Klassen nehmen, um nicht das Erstarken oppositioneller Bündnisse zu riskieren. Besonders die neo-gramscianische Staatstheorie hat Gramscis Konzept der dominierenden Machtblöcke wieder in die Debatte zurückgeholt. Ein Machtblock ist dabei ein historisches Klassenbündnis, dass abhängig vom Stand der Produktivkräfte, der Einbettung in den Weltmarkt und vom Stand des Klassenbewusstseins der einzelnen Klassen ist. Ein ganz praktisches Beispiel wäre die moderne Sozialdemokratie, welche die Interessen des Industrieproletariats mit denen des Monopolkapitals zu vereinigen versucht, indem z.B. durch Lohnverzicht ein Standortvorteil geschaffen wird und die Verschlechterung der Lage des Proletariats durch exportbedingte Extraprofite wieder ausgeglichen wird. Der Faschismus trat häufig als Machtblock aus Finanzkapital, Kleinbürgertum und der Bauernschaft auf, während linkspopulare Regierungen neben dem Proletariat Teile des Kleinbürgertums und die arme Bauernschaft einbanden. Auf diese Weise kann man verschiedenste politische Systeme bzw. Regierungen als Ausdruck von Klassenbündnissen verstehen.

Umstritten ist allerdings, in welcher Art und Weise eine Regierung Autonomie gegenüber konkurrierenden Machtblöcken genießt. Funktionieren Herrschaften nach dem Winner-Takes-It-All-Prinzip oder leisten herrschende Blöcke bereits im Vorfeld Anpassungsarbeit an die Opposition, um die Klassenwidersprüche einzuhegen? Zu beobachten ist letzteres aktuell in Deutschland, wo eine durch das Monopolkapital, das liberale Kleinbürgertum und die Arbeiteraristokratie getragene Regierung sehr viele Zugeständnisse an das kleine und mittlere Kapital macht.

Der liberale Interpretationsansatz hingegen geht zwar auch vom Kampf unterschiedlicher großer Interessengruppen aus, ohne aber die Verfügung über die Produktionsmittel als den wesentlichen Aspekt zu betrachten. Dabei könnten politische Führer sich durchaus auf wechselnde Interessensgruppen stützen, um an der Macht zu bleiben oder die Kampffelder auf wechselnde Institutionen verlegen. In diesem Interpretationsansatz ist die Unterscheidung von Demokratien bzw. Polyarchien und Autokratien sehr wesentlich, da beide Systeme unterschiedliche Mittel des Interessenausgleichs anwendeten.

US-Hegemonie und die populare Herausforderung

Auf der internationalen Ebene spielt die UN-Hauptversammlung eine wichtige Rolle bei der Identifikation der außenpolitischen Leitlinien von Staaten. Obgleich in dieser sehr viele und komplexe Themen behandelt werden, während der Einfluss auf konkrete Situationen weitestgehend begrenzt bleibt, dient sie doch als wichtiger Seismograph für Veränderungen in den internationalen Beziehungen. Da viele Probleme Staaten nicht unmittelbar betreffen, werden die Abstimmungsergebnisse auch häufig als Ausdruck der Zustimmung oder Ablehnung der US-Hegemonie betrachtet. Seit dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach dem Zerfall der Sowjetunion gelang es den USA, ihre Vorstellung einer auf freiem Handel und bürgerlichen Staatssystemen beruhenden Weltordnung zu etablieren. Allerdings geraten diese Grundlagen der US-Herrschaft immer wieder in Kollisionen mit popularen Regierungen, etwa wenn Ressourcen und Konzerne verstaatlicht werden sollen, progressive Steuersysteme eingeführt und ausländische Interventionen abgelehnt werden. Solche Regierungen wollen eine stärkere Autonomie von den globalen Machtverhältnissen durchsetzen, was in der UN entweder unterstützt und behindert wird.

Seit Gründung der Vereinten Nationen hat sich allerdings die Staatenwelt und ihre Klassenzusammensetzung gründlich geändert. Die ehemals realsozialistischen Staaten sind bis auf wenige Ausnahmen von der Weltbühne verschwunden. In den kapitalistischen Zentren ist die Industriearbeiter*innenschaft zu Gunsten von immer mehr White-Collar-Jobs geschrumpft. China ist mit einer riesigen Arbeiter*innenklasse zu einer der führenden Mächte der Welt aufgestiegen. Der globale Süden hat sich dekolonisiert, durch die verbleibende Abhängigkeit wechseln aber immer wieder Regime, die sich entweder auf die arme Arbeiter- und Bauernschaft oder auf die Kompradorenbourgeoisie stützen. Und jedes System stellt natürlich explizite Fragen an seinen Klassencharakter. Waren etwa die realsozialistischen Staaten wirklich Arbeiterstaaten? Kann man hierfür schlecht demoskopisch demokratische Voten zur Hand nehmen, legitimierten sich jedenfalls die Regime durch die Berufung auf das Proletariat und in vielen Staaten wie der DDR ist eine binnengesellschaftliche Besserstellung im Vergleich zu den kapitalistischen Staaten durchaus nicht abzusprechen. Aber die Problemlage bei der Bestimmung des Klassencharakters einer Regierung sollte deutlich werden.

Methode: die sechs Klassen des VDem-Projekts

Nicholas Lees schloss an diese Überlegungen an und untersuchte, ob der Klassencharakter von Staaten mit der Zustimmung und Ablehnung gegenüber US-hegemonialen Interessen in der UN-Hauptversammlung korreliert. Der einfache Part sind dabei die Abstimmungsergebnisse, wo man einfach das Votum der Länder mit denen der USA vergleichen kann. Die Schwierigkeit besteht darin, zum einen das Abstimmungsverhalten durch ein Modell zu erklären und zum anderen die Klassenzusammensetzung von Regimen zu bestimmen. Schon allein die Auflösung ist problematisch. Definiert man zu wenige Klassen und damit mögliche Machtblöcke, könnte man zu unterschiedliche Systeme in einen Topf werfen. Definiert man hingegen zu viele Klassen, wird jeder Staat zum Einzelfall und es gibt kaum kategoriale Trennschärfe.

Die Einteilung der Klassen übernahm Lees vom VDem(Varieties of Democracy)-Projekt, dass sechs Klassen definierte: besitzende Klassen in Stadt (Kapitalisten) und Land (Großgrundbesitzer), urbanes Proletariat, Landarbeiter*innen, Bauern und Mittelklassen. Heute eher kaum noch vorhanden, aber trotzdem enthalten sind auch aristokratische Herrschaften. Die hier definierten Klassen entsprechen nicht unmittelbar marxistischen Definitionen, aber selbst innerhalb der marxistischen Debatte gibt es ja wenig Einigkeit über konkrete Klassendifferenzierungen.

Als Hypothesen bildete Lees auf dieser Grundlage, dass Staaten eher dann zusammen mit den USA abstimmen, wenn die besitzenden Klassen oder die Mittelklassen dominieren und wenn die oberen besitzenden Klassen ein strategisches Bündnis mit dem Proletariat eingehen. Stützt sich hingegen eine Regierung eher auf die urbane und ländliche Arbeiter*innenklasse oder ein Bündnis aus Proletariat und Bauern, dann würden Staaten eher gegen die USA stimmen. Als Kontrollvariable hat Lees noch die liberale Hypothese getestet, ob das Abstimmungsverhalten nicht besser mit der Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur korreliert. Als mathematisches Modell wurde die Methode der Regression der kleinsten Quadrate zugrunde gelegt. Der Umfang der Daten beträgt knapp 10.000 Abstimmungsergebnisse von 179 Staaten.

Ergebnisse

Spannend ist bereits die Verteilung der einzelnen herrschenden Klassenfraktionen über die Zeit. Während Großgrundbesitzer und Aristokraten konstant an Bedeutung verloren, begann mit 1990 insbesondere der politische Ausstieg urbaner Mittelklassen und der Wirtschaftseliten.

Abb. 1: Entwicklung der Klassenbasis der Staaten. Quelle: siehe Literatur. S.14.

Dass mit dem Zerfall der sozialistischen Staatenwelt der Einfluss der Arbeiter*innenklasse – wohlgemerkt nicht als dominierende Fraktionen im Sinne einer Diktatur des Proletariats, sondern als Alliierte der Mittelklassen und Kapitalisten – nicht so stark fiel wie vermutet, liegt an neuen Klassenallianzen, insbesondere in den kapitalistischen Zentren. Langsam aber kontinuierlich stieg auch die Bedeutung der ländlichen ärmeren Bevölkerungsteile an, die sich insbesondere während der Dekolonialisierung etablierten und seitdem konstant an der Macht einiger Staaten beteiligt waren. Man kann jedoch auch, wenn man die jeweiligen Anteile der Klassen an den Bevölkerungen zugrunde legt, klar erkennen, dass der bürgerliche Staat, wie Lenin einst sagte, die passendste Hülle für die Herrschaft der Bourgeoisie ist. Sie dominiert in mehr als der Hälfte aller Länder formal, von der realen Dominanz mal ganz zu schweigen.

Abb. 2: Abstimmungsverhalten mit den USA durch herrschende Klassen. Quelle: siehe Literatur. S.18.

Im Kern der Untersuchung fand Lees dann heraus, dass jeweils gleiche Klassen in unterschiedlichen Staaten an der Macht auch ein ähnliches Abstimmungsverhalten zeigen. Die Differenzen erklären sich hier im Wesentlichen dadurch, dass die Bündnispartner jeweils andere sind. Regiert also eine Partei der Arbeiter*innenklasse mit einer Partei der Wirtschaftseliten zusammen, weicht das Ergebnis natürlich von einer Arbeiter-Bauern-Regierung ab, ist sich aber ähnlicher als beispielsweise eine Regierung aus Kapitalisten und urbaner Mittelklasse. Am ehesten stimmten Staaten gemeinsam mit den USA ab, in denen die ländlichen Mittelklassen mitregierten. Am ehesten stimmten Staaten gegen die USA, wenn Arbeiter- oder Bauernparteien an der Macht waren. Dass Wirtschaftseliten deutlich weniger mit den USA abgestimmt haben, liegt an den wechselnden Bündnispartnern, wobei kein Bündnissystem so kontinuierlich mit den Vereinigten Staaten gestimmt hat, wie Bündnisse aus Arbeiterparteien und Wirtschaftseliten. Am flexibelsten hat sich die urbane Mittelklasse erwiesen, für die kein statistisch signifikanter Zusammenhang festgestellt werden konnte. Das bestätigt die marxistische Annahme über das Kleinbürgertum, dass sie eher eine Mitläuferklasse ist, die sich ihrem jeweiligen Bündnispartner unterordnet.

Ebenfalls spannend ist, wie sich die einzelnen Klassen im Verlauf der letzten 70 Jahre gegenüber den USA verhalten haben. Während sich etwa bis 1960 die sozialistischen Staaten, die damals das Gros der Arbeiterregierungen ausmachten, langsam den USA angenähert haben, entzweite man sich mit dem Aufschwung der Dekolonialisierung.

Abb. 3: Entwicklung der Zustimmung von Arbeiterregierungen zur Politik der USA. Quelle: siehe Literatur. S.21.

Eine erneute Annäherung ist bereits im Vorfeld des Zusammenbruchs der Sowjetunion zu beobachten und erreicht ihren Höhepunkt kurz vor dem 11. September 2001, der Hochzeit des Neoliberalismus. Seitdem emanzipiert sich die Arbeiter*innenklasse selbst in ihrer reformistischen Variante immer weiter von den USA. Dazu gesagt sei, dass die Ergebnisse relativ zu lesen sind und die Arbeiterparteien immer eher gegen die USA gestimmt haben. Auch spannend: mit dem Zerfall des Ostblocks haben sich auch die globalen Wirtschaftseliten von den USA emanzipiert und erst seit ca. 10 Jahren nimmt deren US-Orientierung wieder zu.

Die Kontrolle der Ergebnisse zeigte zuletzt, dass zwar auch liberale Demokratien überdurchschnittlich häufig mit den USA gestimmt haben, jedoch mit einer geringeren Signifikanz. Autokratien hingegen haben keineswegs häufiger gegen die USA gestimmt, sondern sich jeweils an ihren Partikularinteressen ausgerichtet. Damit liefert das Klassenmodell zumindest in dieser Studie die aussagekräftigeren Ergebnisse.

Zusammenfassung

Class matters … und das auch auf den hohen Ebenen der internationalen Politik. Das kann man sich aus Lees’ Studie mitnehmen. Natürlich kann diese keine eindeutige Antwort auf die komplexe Frage nach dem Zusammenhang von Produktionsmitteln, Klassen, Staaten und politischer Oberfläche vorlegen. Das Konzept ist sehr roh, aber eben auch roh genug, um einen Großteil der Feinheiten getrost ignorieren zu können. Die genaue Rolle eines Abstimmungsverhaltens in der UN, die globalen Abhängigkeiten, die Differenz von Innen- und Außenansichten der Regierenden, Blockbildungen, historische Kontexte … all das musste außen vor gelassen werden. Und dennoch zeigt sich, dass trotz all dieser Einflüsse Arbeiter*innen eben eher wie Arbeiter*innen, Bauern wie Bauern und Kapitalisten wie Kapitalisten abstimmen. Mit über 99%iger Wahrscheinlichkeit können wir von der Klassenbasis einer Regioerung eines Landes sagen, dass sie bei der politischen Artikulation nach außen eine Rolle spielt. Welche genau und wie sie vermittelt wird, das muss noch genauer diskutiert und untersucht werden. Marxist*innen befinden sich hier aber immerhin schonmal auf dem richtigen Weg.

Literatur:

Lees, N. (2024): Is world politics class politics? States, social forces and voting in the United Nations General Assembly 1946–2020. In: Cooperation and Conflict. Online First. DOI: 10.1177/00108367241269623.

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