Zur Klassenanalyse Afrikas

⋄ Die Frage, ob Afrika als sozio-politische Einheit betrachtet werden kann, ist umstritten.

⋄ Der brasilianische Forscher Paris Yeros hat aufgezeigt, wie die politischen und ökonomischen Prozesse der letzten 150 Jahre Afrika geschaffen haben.

⋄ Er zeigt hierbei die Entwicklung der sozialen Formationen seit dem Ende des Kolonialismus auf.

⋄ Das Semiproletariat, dass sowohl von Lohnarbeit als auch von Zusatzeinkommen oder Sudsisdenzwirtschaft lebt, macht in Afrika die größte Klasse aus.


⋄ Seine Theorien stützt Yeros auf die Datensätze der International Labour Organisation.

Wohin geht Afrika? Wenn ein*e Marxist*in eine Antwort auf diese Frage sucht, dann wird sie sicher zunächst die Produktionsverhältnisse und die daraus hervorgehende Klassenstrukturierung anschauen. Das ist jedoch gar nicht so einfach. Eine politisch fruchtbare Klassenanalyse bereit schon in den imperialistischen Kernländern Probleme, wo es eine exorbitante Datenlage und vergleichsweise konventionelle und homogene kapitalistische Gesellschaftsorganisationen gibt. Afrika ist viel pluraler, viele Regionen sind politisch instabil, der Kapitalismus prallt noch immer auf vormoderne Lebensweisen und das koloniale Erbe lastet in verschiedenen Facetten auf den einzelnen Ländern. Einige Wissenschaftler*innen sehen daher zunehmend davon ab, Afrika als einen zusammenhängenden kulturellen Raum zu begreifen.

Und doch kann man ein Konzept Afrikas nicht leugnen, dass die Völker zwischen Mittelmeerküste und Kap Horn in einen gemeinsamen Kontext setzt. Dass er postkolonial dekonstruiert werden kann, tut nichts zur Sache, dass er wirkmächtig ist. Paris Yeros von der Staatlichen Universität in Sao Paolo hat sich in seinem Paper Generalized Semiproletarianization in Africa an eine gesamtafrikanische Klassenanalyse gewagt. Yeros trat bereits als Herausgeber und Forscher zu den Themen Agrarökonomie, Nationbuilding und soziale Formationen in der kapitalistischen Peripherie auf. Er zeigt im vorliegenden Artikel, dass der Kontinent mittlerweile real unter das Kapital subsummiert ist und genau dies seine Homogenität begründet.

Geschichte der afrikanischen Klassengesellschaften

Möchte man eine gesamtafrikanische Klassenanalyse anfertigen, so bedarf es zunächst einer gemeinsamen Erzählung, die hinreichende Kohärenz erzeugt, um die Zusammenfassung plausibel zu machen. Das erste wichtige Konzept, dass den gesamten afrikanischen Kontinent betrifft, ist Yeros zufolge die Semiproletarisierung. Das bedeutet, dass sich die Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse nicht allein am formalen Beschäftigungsverhältnis ablesen lässt. Vielmehr gäbe es eine Bandbreite an äquivalenten Abhängigkeitsverhältnis, die jedoch das gleiche Klassenverhältnis repräsentierten (zum Beispiel Contract Farming, Näheres hier). Allerdings darf man hier nicht außer Acht lassen, dass die gesellschaftlichen Klassen, auch wenn sie real unter das Kapital subsummiert sind, andere Bewusstseinsformen entwickeln, als beispielsweise ein*e Fabrikarbeiter*in in den imperialistischen Zentren.

Das Semiproletariat ist ein Produkt ganz spezifischer Umstände. Historisch gesehen basierte die afrikanische Gesellschaft nach dem Fall des antiken Ägyptens auf lokalen und meist feudalen Herrschaftsbereichen, in denen das gesellschaftliche Mehrprodukt recht unterschiedlich verteilt wurde. Vom Aufbau von Kriegerkasten über sehr egalitäre bis hin zu sehr flexiblen Systemen (Näheres hier) ließ sich alles finden. Durch den ganzen Kontinent zog sich ein feines Handelsnetz, dass sich im islamischen Norden oder an den Küsten bündelte. Die merkantilen Strukturen und die gesellschaftliche Fragmentierung erleichterten zunächst die Ausplünderung des Kontinents durch den Sklavenhandel, von dem einige wenige Kriegerreiche und der Norden profitierten. Nachdem die Sklaverei in Amerika durch die Lohnarbeit abgelöst worden war, das Kapital aber nach weiteren Expansionsmöglichkeiten suchte, wurde Afrika immer mehr auch formal als Kolonie der kapitalistischen Zentren organisiert. Einst mächtige Kriegerstämme, die andere mit Krieg und Tributen unterdrückten, wurden zu Marionetten der mit Kanonen ausgestatteten weißen Siedler. Anders als in Südamerika wurde die indigene Bevölkerung durch die koloniale Besiedelung größtenteils nicht ausgerottet. Es entstand ein heterogenes System von hierarchischen, aber auch parallelen Strukturen, die nur gemeinsam hatten, dass am Ende die Kolonialherren das letzte Wort besaßen. Die Kolonialmächte brachten auch die Strukturen des Monopolkapitalismus auf den Kontinent. Samir Amin schälte drei grobe Strukturen heraus: die kommerziellen Monopole im Norden, in denen die Kolonialmächte politisch bestimmten, darunter jedoch nationale und reiche einheimische Eliten entstanden; die Konzessionsmonopole im mittleren Afrika, wo die politischen Systeme zwar weitgehend in lokalen Händen lagen, die großen Bergbau- und Landwirtschaftsunternehmen durch Wirtschaftsrechte die Gesellschaften bestimmten; und die Siedlermonopole des Südens, in denen meist relativ autonome weiße Siedler gelegentlich militärische Hilfe der Heimatnationen erhielten und die schwarze Bevölkerung in der extensiven Landwirtschaft beschäftigten. Nicht zu vergessen ist, dass der Kolonialismus mit weitgehend willkürlichen Grenzen soziale Zusammenhänge zerschnitt, langfristige wie zyklische Siedlungsbewegungen einhegte und politisch aufgeladene staatliche Entitäten schuf. Auch nach der Kolonialzeit konnten sich Partikularinteressen nur über den Staat durchsetzen, wodurch sich der Kampf um die Staatsgewalt in vielen Ländern brutal zugespitzt wurde. Die die Besitztümer der Siedler überlebten die Revolutionen meist unbeschadet, sodass sie weiter informell und unabhängig von ihren ehemaligen Mutterländern herrschen konnten. Da sich staatliche Strukturen in vielen afrikanischen Ländern ähneln, der Staat jedoch nur der institutionelle Überbau seiner Klassenverhältnisse ist, schließt Yeros auch auf Ähnlichkeiten der Klassenlagen. Zudem habe das Fehlen nationaler Bourgeoisien dem Panafrikanismus entscheidenden Vorschub geleistet.

Die Klassenstruktur zum Ende der Kolonialzeit

Als mit den ausgehenden 60er Jahren die meisten afrikanischen Kolonien – mal revolutionär, mal evolutionär – in eigenständige Nationalstaaten übergegangen waren, gab es eine ganz substantielle Gemeinsamkeit der sozialen Formation: sie ließ sich in fünf größere Klassen unterscheiden: die oberste Schicht der weißen Land- und Fabrikbesitzer, ein Kleinbürgertum aus Händlern, Beamten und liberalen Berufen nichtafrikanischer Herkunft, ein kleines Proletariat (vor allen Dingen im Transport-, Rohstoff- und und Dienstleistungssektor), die übergroße Mehrheit der ländlichen Bauernschaft und ein städtisches Lumpenproletariat.

Abbildung: siehe Literatur. S.166.

Zwei Aspekte stechen heraus. Die Arbeitsteilung unterliegt auch der geschlechtlichen Teilung und Frauen verrichteten einen Großteil der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Die zweite Sache macht die Darstellung hervorragend. Während rechts die etwas feinere Aufschlüsselung der einzelnen Klassen expliziert wird, verweist die linke Zusammenfassung als „beginnendes Semiproletariat“ auf die Gemeinsamkeit und trägt so dem dialektischen Charakter einer jeden marxistischen Klassenanalyse zur Einheit von Einheit und Differenz Rechnung. Der Begriff des Semiproletariats ist dabei schon recht alt und wurde bereits von Kautsky für periphere Klassengesellschaften verwandt. Er beschreibt jedoch kein einheitliches Konzept außer der Betonung seines transitorischen Charakters. Yeros selbst versteht darunter die gesellschaftliche Klasse, die nicht mehr von den eigenen Produktionsmitteln leben kann, aber auch nicht allein von der Lohnarbeit. Diese Klasse bestreitet ihren Lebensunterhalt aus verschiedenen Kombinationen von Lohn, Rente, unbezahlter Reproduktionsarbeit, Verkauf kleiner Warenmengen, anderen Kleinsteinkünften, Subsistenzproduktion und staatlichen Zuwendungen. Es ist sowohl auf gesellschaftliche wie natürliche Almenden angewiesen und kann ganz allgemein als Mischform proletarischer und bäuerlicher Existenz angesehen werden.

Die transitorische Falle des Semiproletariats

Das Monopolkapital profitierte massiv von der halbproletarischen Lebensweise. Während es bei voller Proletarisierung für die vollständige Reproduktion der Ware Arbeitskraft, inklusive Pflege der Kinder und Haushaltsarbeit aufkommen müsste, reicht es, den Semiproletariern nur einen Teil dessen zu bezahlen und den anderen Teil in die Eigenverantwortung der Lohnabhängigen zu legen. Dies führt wiederum zur Instrumentalisierung von Zugehörigkeiten (Gender, Race, Ethnie, Religion, soziale Beziehungen) im Kampf um die Verteilung von Reproduktionsarbeit und Zugriff auf Allmenden. Häusliche, fremdenfeindliche und strukturelle Gewalt verschärften sich hierdurch. Diese Konflikte wiederum rufen nach Befriedung, wodurch die Länder auf die Hilfe imperialistischer Mächte und ihrer transnationalen Organisationen (NATO, IWF, UNO, ….) angewiesen sind, entweder durch finanzielle oder militärische Hilfen. So kann die direkte Verbindung zwischen dem Semiproletariat und dem Imperialismus klar herausgearbeitet werden.

Die Konvergenz-These von Yeros

Die beschriebene Klassenstruktur war eine des Monopolkapitalismus. Dieser geriet in den 70er Jahren jedoch in eine Krise und wurde nach die Neuordnungsprozesse im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion vom Neoliberalismus abgelöst. Dieser hat in vielen Ländern, insbesondere in den Nicht-Siedler-Monopolstaaten die Landfrage zugespitzt. Ausländisches Kapital erhielt über freie Märkte Zugriff auf die afrikanischen Böden und alte Allmenden oder Pachtverhältnisse fielen weg. An Bedeutung hingegen gewannen regionale Märkte, auf denen Großunternehmen agrarische Produkte von Kleinproduzenten aufkauften und durch ihre Marktmacht die Bedingungen bestimmten. Aus der Schicht der einheimischen Zwischenhändler entstanden embryonale nationale Bourgeoisien, die zum Motor bürgerlicher Bewegungen werden konnten. In Simbabwe beispielsweise führte diese unter Nutzung einer radikal-nationalistischen Ideologie in den 2000ern eine Landreform durch und legte so den Grundstein für eine kleine Industrialisierung von unten. Die Herausbildung selbstständiger kapitalistischer Systeme bedeutet letztendlich eine einhegende Wirkung auf ethnische und religiöse Konflikte. Abgelöst werden diese von zunehmenden Klassenkonflikten, die sich nicht so sehr in der immer noch schwachen Industrie abspielen, sondern im primären Sektor, in dem der Extraktivismus Hand in Hand mit skandalösen Arbeitsbedingungen geht. Damit stützt der Autor seine These, dass Afrika auf einem anderen Produktivitätslevel dennoch als Klassengesellschaft den Zentren ähnlicher wird.

Die aktuelle Klassenstruktur

Aus den skizzierten Entwicklungen leitet Yeros eine neue Klassenstruktur ab. Wieder ist zwischen linker und rechter Beschriftung der Pyramide zu unterscheiden. Auf der Ebene der konkreten Erscheinungsformen hat sich die Sozialstruktur weiter ausdifferenziert. Eine neue nationale Bourgeoisie ist entstanden, das Contract Farming auf eigene Rechnung hat sich stark ausgeweitet und das Proletariat hat sich in gelerntes und ungelerntes Proletariat ausdifferenziert. Die mittleren Gesellschaftsschichten sind weiblicher geworden. Auf der Ebene der Großklassen aber nimmt das allgemeine Semiproletariat fast die gleiche Bedeutung ein, wie zuvor. Trotz des teilweise scharfen strukturellen Wandels im Überbau hat sich die gesellschaftliche Basis erhalten.

Abb.: siehe Literatur. S.172.

Was leider in dieser Grafik nicht dargestellt werden konnte, ist, dass sich die Gesamtarbeiter*innenzahl mehr als verdoppelt hat und dass das Kapital alle abhängigen Beschäftigungsformen massiv entwertet hat.

empirische Befunde

Zuletzt werfen wir einen Blick auf die empirischen Daten, auf die sich die Darstellung von Yeros stützt. Seine wichtigste Quelle sind die Arbeitsstatistiken der ILO. Diese unterteilen im Wesentlichen nach Beschäftigungsstatus (beschäftigt, selbstständig, arbeitslos, Arbeitgeber, …) und schlüsseln diesen nach Geschlecht, Region und Sektor grob auf. Die Pyramiden ergeben sich quasi aus Querschnitten der einzelnen Datensätze. Ohne jetzt genauer darauf einzugehen: Anhand der Daten konnte Yeros zeigen, dass sich die beschriebenen Trends für alle afrikanischen Regionen zeigen lassen, auch wenn sich der Norden, Süden und Westen in den absoluten Zahlen mit einem erheblich größeren Dienstleistungssektor vom Osten und Zentrum abheben. Dem Problem, dass die Daten natürlich einer bürgerlichen Quelle entstammen, begegnet Yeros auf dem selben Weg, wie er dem Problem der generellen Anwendbarkeit einer Klassenanalyse auf Afrika begegnet: durch Plausibilisierung anhand einer historisch-materialistischen Genese, die den Daten zu Grunde liegen.

Zusammenfassung

Über die Frage, ob man Afrika als kohärenten Raum ansehen könnte, würden Geograph*innen, Kulturwissenschaftler*innen oder Politolog*innen Bibliotheken vollschreiben können. Paris Yeros beantwortet diese Frage nicht mit abstrakten Debatten, sondern indem er die Homogenisierungsprozesse in der Geschichte konkret nachweist. Das ist Leninsches Denken im allerbesten Sinne. Yeros’ Erzählung ist dabei unglaublich dicht, konsistent und im Licht der ILO-Daten plausibel. Die Schemata sozialer Formationen, die als Kondensat dieser Erzählung entstanden sind, zeigen in dialektischer Manier sowohl die geronnene Geschichte, als auch die gemeinsame politische Perspektive der semiproletarischen Klasse auf, die sich als Partei der großen Mehrheit etablieren kann, wenn sie ihr gemeinsames Interesse zu artikulieren im Stande ist.

Die konkreten politischen Prozesse, die in Afrika stattfinden, müssen am Maßstab dieser sozialen Formation gemessen werden, nicht am Maßstab der europäischen Gesellschaften. Wenn es an dem Artikel etwas zu kritisieren gibt, wird es in den Details historischer und soziologischer Bewertungen liegen. Das kann und will dieser Artikel hier nicht beurteilen. Und sicher gibt es noch elaboriertere Klassenmodelle. Aber hinter die vorgestellte Methodik sollte keine marxistische Klassenanalyse mehr zurückfallen.

Literatur:

Yeros, P. (2023): Generalized Semiproletarianization in Africa. In: The Indian Economic Journal. Jahrgang 71. Ausgabe 1. S.162–186.

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