Konkreter Marxismus konkret (2/2)

⋄ Die International Critical Thought veröffentlichte unter der Überschrift “konkreter Marxismus” verschiedene Artikel zur Anwendung des Marxismus auf politische Probleme.

⋄ Van Loi Le diskutierte, warum die Doi-Moi-Politik der KP Vietnams marxistisch-leninistischen Prinzipien folge.

⋄ Aleksander Buzgalin leitete aus den Charakteristika des Spätkapitalismus eine Neuorientierung der Linken her.

⋄ Annamaria Artner beschreibt Samir Amins Leben und Wirken als Praktiker und Theoretiker.

⋄ Alle Aufsätze zeigen, dass konkrete Fragen der wissenschaftlichen Analyse nicht allein mit dem Verweis auf abstrakte Grundsätze besprochen werden können.
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Ohne lange Vorrede: Unter der Klammer des “konkreten Marxismus” versammelte die Dezember-Ausgabe der International Critical Thought mehrere Aufsätze zu marxistischen Ansätzen aus verschiedenen Ländern der Erde. Hier sollen drei Ansätze vorgestellt werden, die alle eine andere Form der Konkretisierung umfassen. Zum einen die konkrete Anwendung auf ein Land – Vietnam. Dann die Anwendung auf eine Phase des Kapitalismus – den Spätkapitalismus. Und die Anwendung durch einen konkreten Denker – Samir Amin. Abschließend soll diskutiert werden, was alle drei konkreten Formen des Marxismus überhaupt noch gemeinsam haben, um unter einem gleichen Begriff zusammengefasst werden zu können. Teil 2 von 2.

Van Loi Le: Wie steht es um den Marxismus-Leninismus in Vietnam?

Ein Land, in dem die Revolutionsromantik ebenfalls den harten Ebenen des sozialistischen Aufbaus mitsamt Rückschritten und Problemen weichen musste, ist Vietnam. Mit der Doi Moi, der Politik der Erneuerung, hat die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) längst eine florierende Marktwirtschaft geschaffen, die einiges an Fragen hinsichtlich der marxistisch-leninistischen Ausrichtung der Partei aufkommen hat lassen. Van Loi Le, Philosophieprofessor aus Hanoi und Mitglied des Zentralkomitees für theoretische Studien in der KPV, erklärt, weshalb man den Kurs der Partei als Matxist verteidigen könne.

Le stellt zunächst fest, dass der Marxismus-Leninismus eine geschlossene Einheit aus Methologie und Weltanschauung darstelle. Fünf Elemente seien hierbei wesentlich. Erstens müsse man die Bewegung von Natur, Denken und Gesellschaft alle unter dem Blickwinkel des dialektischen Materialismus heraus erfassen. Insbesondere seien die sechs Paare der Einheit der Widersprüche

  • das Besondere und das Allgemeine
  • Ursache und Wirkung
  • das Natürliche und das Künstliche
  • Inhalt und Form
  • Wesen und Erscheinung
  • Realität und Möglichkeit

zu berücksichtigen. Zweitens sei der historische Materialismus die Wissenschaft, die den dialektischen Materialismus auf die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft anwende. Drittens sei wiederum die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie die Anwendung des historischen Materialismus auf die kapitalistische Gesellschaft. Viertens ergebe sich aus der marxistischen Analyse des Kapitalismus die historische Mission des Proletariats zu Überwindung dieser Gesellschaftsform. Und fünftens hebe das Proletariat durch den Sozialismus als Übergangsform zum Kommunismus die warenförmige Gesellschaft auf.

Auf dem 6. Parteikongress 1986 seien unter den Bedingungen der Stagnation innerhalb der sozialistischen Staatenwelt diese Prinzipien zur Erneuerung der Partei angewandt worden und das Überleben des Sozialismus nach dem Zerfall der Sowjetunion zeuge von einer richtigen Entscheidung. Die wesentlichen neu gesteckten Ziele seien ein breiter Wohlstand des Volkes, ein wehrhaftes Land, der Ausbau der Demokratie, die stärkung des Rechtes und eine Fortentwicklung der Zivilisation gewesen. Um diese Ziele zu erreichen, wären sieben Maßnahmen erlassen worden:

1. die Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Erlaubnis von Investitionen aus dem kapitalistischen Ausland

2. Entwicklung einer sozialistischen Marktwirtschaft

3. Aufbau einer Wissensökonomie

4. Weiterentwicklung der Sozialsysteme

5. Schutz der Umwelt

6. Wahrung der friedlichen Koexistenz auf Basis möglichst weiter Autarkie

7. Kampf der Korruption und Stärkung des Justizwesens

8. Erziehung hin zu stärkerer Identifikation mit der vietnamesischen Nation

9. Ausbau der Volksdemokratie

10. Säuberung der Partei von Mitläufern

Der wesentliche Hebel, den die KPV genutzt habe, sei die Ware-Geld-Beziehung gewesen, um die Relationen von Produktion, Management und Distribution zu beeinflussen. Ein wesentlicher Punkt hierbei: Vietnam sei zum Zeitpunkt der Revolution und Befreiungskrieges noch ökonomisch rückständig gewesen sei. Die mangelnde Produktivität und die gesundheitliche Belastung in der Industrie seien erhebliche Probleme gewesen, die unter den Bedingungen einer Verkleinerung der sozialistischen Welt ab 1989 nicht mehr ohne Auslandsinvestitionen lösbar gewesen seien. Da das Proletariat die führende Klasse sei, wäre jedoch die Hebung des Lebensstandards unumgänglich gewesen.

Die Konsolidierung der vietnamesischen Wirtschaft, die Basis für die organische Lösung der gesellschaftlichen Probleme des Landes gewesen sei, eröffne nun allerdings neue Möglichkeiten des sozialistischen Aufbaus. Zwischen 2021 und 2030 soll die sozialistische Marktwirtschaft so weit stabilisiert sein, dass mit Blick auf das Jahr 2045 neue Ansätze der Sozialisierung der Gesellschaft auch praktisch umsetzbar sind. Wichtig sei hierbei für ein sozialistisches Land wie Vietnam, dass Aufbau und Kampf harmonisch und synchron verlaufen sollten. Der Aufbau verweise auf das strategische Ziel, der Kampf sei das permanente Elemte des Wegs.

Aleksander Buzgalin: Was ist spät am Spätkapitalismus?

Aleksander Buzgalin von der Lomonossow-Universität in Moskau wandte den Marxismus nicht konkret auf ein Land, sondern auf die Phase des Spätkapitalismus an. Momentan zeichne sich eine Konfliktlinie zwischen neosozialdemokratischen Richtungen wie Corbyn oder Sanders und der autoritär-nationalistischen Richtung ab. Beide Richtungen seien Ausdruck der gesellschaftlichen Dynamik des Spätkapitalismus, der sich durch eine “Sozialisation des Kapitalismus” auszeichne. Darunter ist zu verstehen, dass die Wirtschaft ohne den Vorgriff auf postkapitalistische Elemente – Kontrolle des Finanzmarktes, öffentliche Daseinsfürsorge, etc. – nicht mehr zu Wachstum in der Lage sei, wodurch Raum für einst sozialdemokratische Ideen auch unter den Konservativen entstünde. Die Einschnitte, die diese für das Finanzkapital, teilweise jedoch auch für das prekäre Kleinbürgertum bedeuteten, provozierten eine Reaktion, die sich im Neoliberalismus und Neokonservatismus manifestiere.

Beide Strömungen seien jedoch nur Antwort auf die krisenhafte Entwicklung des Spätkapitalismus, in dem immer weniger produktive Arbeit immer mehr akkumuliertem Kapital gegenüber stehe. Die im Wesentlichen profitierenden Schichten wären die “kreativen” Jobs, sowie die Manager, deren Revenue sich jedoch auf Grund der eigenen Unproduktivität aus anderen Quellen speisen müsse. Da sich die entwickelten Länder hier in der eigenen Entwicklung selbst blockierten, konnten Länder wie China allgemein oder Russland, Brasilien, etc. in bestimmten Sektoren bisherige Monopolstellungen in Frage stellen. Das Ende vom “Ende der Geschichte” nahte.

Buzgalin schließt nun aus der Analyse, dass der reproduktive Sektor zwar immer bedeutender werde, dieser aber nach kapitalistischer Rechnung eben nicht produktiv sei, dass dieser Widerspruch ein taktisches Fenster für die Linke eröffne. Der Kampf um den allgemeinen Zugang zu den Mitteln der Reproduktion – Gesundheit, Bildung, Wohnen -, um die Teilhabe an der digitalen Welt, die Umverteilung der Superplusprofite in die Reproduktion und die Entbürokratisierung könnte nach ihm den traditionellen Kampf um die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien vielleicht nicht ersetzen, aber eine neue Priorität setzen. Buzgalin geht davon aus, dass eine Rückgewinnung des Sozialen in der Politik die Grundlage für ein Anwachsen des Sozialen an sich bedeute und damit ein Anwachsen der Solidarität gegenüber den Arbeitskämpfen in der Industrie und den antiimperialistischen Kämpfen in der Peripherie. Reformistische Politik könne also hier eine Stufe für eine weitere revolutionäre Entwicklung werden.

Annamaria Artner: Wer macht warum und wie nach Samir Amin Revolution?

Annamaria Artner ist politische Ökonomin am Institute of World Economics of the Centre for Economic and Regional Studies in Budapest. Wenn über den konkreten Marxismus als Marxismus eines einzelnen Intellektuellen gesprochen wird, ist nicht nur wichtig, wie die einzelne Person den Marxismus angewandt hat, sondern wie diese Anwendung an anderen Orten und Zeiten durch andere konkrete Personen verstanden wurde. Im vorliegenden Beispiel ist es die Sichtweise einer ungarischen Ökonomin.

Artner geht zunächst auf Amins Biographie ein. Geboren in Ägypten, aber aufgewachsen in Frankreich erlebte Amin beide Welten: das kapitalistische Zentrum und die Peripherie. In Ägypten kam er mit der alltäglichen Armut in Kontakt, auch wenn seine Eltern dem Bildungsbürgertum entstammten und er wollte seine Möglichkeiten nutzen, um die Armut in der Welt mit zu bekämpfen. Bereits mit 16 Jahren wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Samir Amin war beides:Theoretiker und Praktiker. Als Professor schrieb er über 30 Bücher und nahm an vielen Debatten teil. Als Aktivist organisierte er unter anderem das Weltsozialforum mit, beriet die UNO oder die Planungsinstitute Ägyptens und Malis. Er wurde so etwas wie ein “globaler organischer Intellektueller”, dessen Stimme innerhalb und außerhalb der marxistischen Sphäre gehört wurde.

Sein politischer Ansatz orientierte sich stark an der Weltsystemtheorie. Er sah, dass der Imperialismus und seine Monopolisierungstendenzen die Welt in mehrere Pole aufspaltete, dessen einer Pol – Europa, USA, Japan – sich imperialistische Renten sichern konnte. Dieser Pol würde der Welt seine kulturelle, politische und ökonomische Ideologie aufzwängen, um seine Herrschaft stabilisieren zu können. Er trat daher für eine Entflechtung der Gesellschaften des globalen Nordens und Südens ein, da unter diesen Bedingungen ein Aufholen unmöglich sei. Unter Entflechtung verstand Amin aber keinesfalls Autarkie, sondern eine Zurückweisung neoliberaler Ansprüche. Diese erfordere auch eine lange Transformationsphase, in der die Kommunist*innen noch nicht direkt zum Sozialismus schreiten könnten, sondern sich als führende Kraft popularer, demokratischer, anti-feudaler und anti-imperialistischer Bewegungen etablieren müssten. Der Kapitalismus sei ein globales Phänomen und die marxistische Analyse könne daher die globalen Abhängigkeiten und Zwänge nicht ignorieren. Auf dieser globalen Skalierung gäbe es sechs entscheidende Klassen, die zueinander in Beziehung gesetzt werden müssten. Die Bourgeoisie und das Proletariat der kapitalistischen Zentren, die Kompradorenbourgeoisie und das überausgebeutete Proletariat der Peripherie, sowie die Millionen Bauern und vorkapitalistische Ausbeuterklassen. Da mehr als zwei Klassen gegeneinander kämpften, könne das einfache Schema des bipolaren Klassenkampfes nie konkret angewandt werden.

Zusammenfassung

Die drei verschiedenen konkreten Interpretationen des Marxismus stellen uns vor ein erkenntnistheoretisches Problem. Auf der einen Seite sind Klassenkampf, Revolution und die Abschaffung der warenförmigen Gesellschaft unbestreitbare Grundelemente des Marxismus. Auf der anderen Seite finden sich diese Aspekte in allen drei Interpretationen nur sehr vermittelt, man könnte fast sagen, bis zur Unkenntlichkeit entstellt wieder. Viel ist von langsamen Wandel, von Zugeständnissen an den Kapitalismus, von schrittweisen Reformen oder unorthodoxen Klassenbündnissen die Rede. Ist das noch eine revolutionäre Weltanschauung?

Leider bringt uns der Umkehrschluss ebenfalls nicht weit. Fast alle kommunistischen Parteien, die sich an die abstrakten Prinzipien – Aufbau einer rein proletarischen Partei, kompromisslose Vertretung der gewaltsamen Revolution, sofortige Abschaffung des Kapitalismus – klammern, haben sich weitestgehend isoliert. Sie können abstrakt argumentieren, weil sie nicht vor konkreten Problemen stehen. Man muss angesichts dieser Situation sogar noch tiefgreifender fragen: Welchen Wahrheitsgehalt kann der Marxismus in seiner abstrakten Form überhaupt für sich beanspruchen, wenn er im Konkreten kaum formulierbar ist?

Hierauf eine Antwort zu erwarten, wäre ein grober Kategorienfehler. Eine Antwort wäre abstrakt, obwohl eine konkrete Frage beantwortet werden soll. Es sei hier an eine Bemerkung Friedrich Engels´ erinnert, die auch Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus aufgriff:

„Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben nur für ein äußerst beschränktes Gebiet [… .] Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum außerhalb jenes oben bezeichneten engen Gebiets anwenden, wird er relativ und damit für genaue wissenschaftliche Ausdrucksweise unbrauchbar; versuchen wir aber, ihn außerhalb jenes Gebiets als absolut gültig anzuwenden, so kommen wir erst recht in die Brüche; die beiden Pole des Gegensatzes schlagen in ihr Gegenteil um, Wahrheit wird Irrtum und Irrtum Wahrheit. Wirklich wissenschaftliche Arbeiten vermeiden daher regelmäßig solche dogmatisch-moralische Ausdrücke wie Irrtum und Wahrheit, während diese uns überall entgegentreten in Schriften wie die Wirklichkeitsphilosophie, wo leeres Hin- und Herreden uns als souveränstes Resultat des souveränen Denkens sich aufdrängen will.”

Engel, F.: Anti-Dühring, MEW 20, S.84f.

Der Wahrheitsgehalt einer Antwort kann nur in den Grenzen der Möglichkeiten der entsprechenden Abstraktionsebene bestimmt werden. Oder anders gesagt: Es macht wenig Sinn, von konkreten Fragen abstrakte Prinzipien gegenüberzustellen. Versuchen wir also nicht, Strömungen, Parteien oder Theoretiker*innen mit Begriffen, wie Revisionisten, Opprotunisten oder Revolutionäre zu ettiketieren. Hören wir uns an, was sie sagen. Schauen wir uns an, was sie tun. Beurteilen wir konkrete Sachverhalte konkret und abstrakte Sachverhalte abstrakt. Natürlich sind beide Ebenen dialektisch verbunden, aber auch eine falsche Schlussfolgerung vom Abstrakten zum Konkreten ist am besten konkret kritisiert. Das bedeutet mehr Arbeit. Aber mehr Arbeit, welche die kommunistische Weltbewegung gemeinsam angeht.

Literatur:

alle Aufsätze aus:

International Critical Thought. Jahrgang 12. Ausgabe 4.

Artner, A. (2022): Samir Amin and the Changing of the World. S.627-639.

Buzgalin, A. (2022): The End of the “End of History”: A New Wave of Conflict in the World between a Liberalism That Is Becoming Conservative and a Socialism That Is Seeking Renewal. S.556-574.

Le, V. L. (2022): The Use of Marxist-Leninist Principles for Establishing Socialism in Vietnam. S.538-555.


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