⋄ Aktuell erscheinen aus verschiedenen Gründen nur wenig dezidiert historisch-materialistische wissenschaftliche Publikationen. ⋄ Der Forschungsstrang der ökonomischen Anthropologie wird hingegen weit stärker bearbeitet. Ein Essay von Isaac Stanley gibt Aufschluss darüber, ob dieser anknüpfunsfähig für Marxist*innen sein könnte. ⋄ Immerhin sucht die ökonomische Anthropologie nach Weisen menschlicher Wirtschaft jenseits der zeitgenössischen Marktlogik, anstatt diese zu naturalisieren.. ⋄ Die verschiedenen Strömungen orientieren sich dabei entweder stark an Polanyi, der Wirtschaft nie von anderen Sphären des Lebens trennen wollte, oder Sraffa, der die Frage nach der Verteilung des Mehrprodukts stellte. ⋄ Stanley macht sich für die Synthese nach Cesaratto und Di Bucchianico stark, die mit ihrer dialektischen Analyse von Basis und Überbau sehr nah an historisch-materialistische Methodik heranreichen. |

Es gibt wesentlich mehr Theoretiker*innen und Wissenschaftler*innen, die sich positiv auf Katrl Marx beziehen als auf den historischen Materialismus. Das verwundert, da letzterer eigentlich das übergreifende Konzept ist. Wie kann man der Analyse der historisch-spezifischen Produktion und Verteilung des Mehrprodukts im Kapitalismus von Marx zustimmen, wenn man die Bedeutung des Kampfes ums Mehrprodukt in anderen Epochen ablehnt? Manche verweisen darauf, dass Marx selbst nie den Begriff des historischen Materialismus in den Mund genommen hat. Oder sie verwechseln einen starren Urgesellschaft-Sklavenhalterei-Feudalismus-Kapitalismus-Schematismus mit den Kerngedanken des historischen Materialismus.
Was auch immer die Gründe seien. Sie stellen marxistische Historiker*innen vor ein Problem. Auf welche Empirie und welche modernen theoretischen Grundlagen kann man seine Forschung stellen, wenn es kaum historisch-materialistisch arbeitende Kolleg*innen gibt. Kann man vielleicht in der ökonomischen Anthropologie etwas räubern? Isaac Stanley gab einen kleinen Einblick.
Eine nicht ganz so ursprüngliche Akkumulation
Einer der einflussreichsten modernen marxistischen Ethnologen, Stephen Gudeman, erzählte 1978 folgende Geschichte des Dorfes Los Boquerones in Panama. Die Versuche der Spanier, seit der erstmaligen Kolonisierung um 1500, mit Mais- und Reisanbau eine weltmarktfähige Landwirtschaft zu entwickeln, konnten sich hier nicht flächendeckend durchsetzen und so gab es noch einige Landstriche, die subsidär für den eigenen Gebrauch wirtschafteten. Diese waren dabei nicht rein indigen, sondern im Wesentlichen ethnisch aus Hispanics, Indigenen und ehemaligen schwarzen Sklaven durchmischt. Wenngleich die Orte hier subsidär wirtschafteten, so überlebte doch eine arbeitsteilige Organisationsform, die mehr den Charakter eines Kollektivs statt eines profitorientierten Unternehmens trug. An der Spitze dieser Kollektive standen die so genannten Campesinos, die das entstandene Mehrprodukt verwalteten.
Diese Campesinos verwandten das Mehrprodukt jedoch nicht, um es zu akkumulieren oder die Produktivkräfte zu steigern, sondern um Freizeit zu organisieren. Trotz der Subsistenzwirtschaft nahm man sich fast die Hälfte des Jahres frei von der Landwirtschaft. Man feierte Feste, um die Heiligen zu ehren. Man besuchte Nachbarn und Verwandte. Man blieb zu Hause. An vielen Tagen wurde auch betont langsam gearbeitet oder man legte die Arbeitsgeräte bereits am frühen Nachmittag nieder.
In den 1960er Jahren wurde das Dorf an eine Landstraße angeschlossen, welche dieses mit zwei benachbarten Zuckermühlen verband, die vorrangig für den Export in die USA arbeiteten. Was nun stattfand, war keine feindliche Landnahme, wie sie in typischen Beispielen der ursprünglichen Akkumulation erfolgt, sondern eine allmähliche ökonomische Durchdringung. Aus ganz verschiedenen, meist eher persönlichen Motiven, begannen die ersten Bauern, in den Zuckermühlen zu arbeiten. Andere begannen, Zuckerrohr für die Mühlen anzupflanzen und es zu verkaufen. Dafür erhielten sie Düngemittel, Pflanzenschutz und zinsfreie Kredite. Die Bauern begannen, länger zu arbeiten. Der Rhythmus der Zuckermühlen passte nicht mehr zum Rhythmus der Feiertage. Auch die Campesinos mussten sich ändern, den die Produktionsweise, auf der ihre Herrschaft beruhte, war im Umbruch begriffen. Sie wandelten das Kollektiv allmählich in einen Zulieferbetrieb der Zuckermühlen um. Spannend hierbei: während man zuvor mit Macheten und Grabstöcken gearbeitet hat, produzierte man nun mit … Macheten und Grabstöcken. Die Werkzeuge änderten sich nicht, aber sehr wohl Arbeitszeiten, der Arbeitsrhythmus und die Form der Reproduktion der Ware Arbeitskraft.
Auf den ersten Blick scheint dieses Beispiel von Gudeman nicht wirklich in die historisch-materialistische Erklärung der Geschichte zu passen. Wir haben im Ursprung des Wandlungsprozesses bereits eine sehr konkrete Arbeitsteilung. Wir haben ein Mehrprodukt. Wir haben Kenntnisse über entwickelte Produktivkräfte in der Landwirtschaft. Wir haben sogar eine Klasse, die über die Verwendung des Mehrprodukts bestimmt und sich eine entsprechende kulturell-spirituelle Landschaft aufgebaut hat. Also eigentlich sind die Voraussetzungen für einen Übergang zur Warenproduktion schon seit Jahrhunderten vorhanden gewesen, ohne dass dieser Übergang erfolgt wäre. Wir haben dafür auch gar keine externe Gewalt und keine Vertreibung der Bauern vom Land wie in der ursprünglichen Akkumulation. Wir haben nicht einmal die Entwicklung der Produktivkräfte im technischen Sinne, welche den Übergang bewirkt haben könnte. All das gibt Rätsel auf. Handelt es sich hier um die berühmte Ausnahme von der Regel, eine Widerlegung des historischen Materialismus oder erinnert uns die Geschichte nur daran, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, wie man den historischen Materialismus überhaupt anwendet.
Höhe der Reproduktionskosten
Gucken wir zuerst zu Marx. Auch wenn der historische Materialismus eng mit der Kritik der politischen Ökonomie verknüpft ist, so geht er nie vollständig in ihr auf. Bereits eine so fundamentale Frage nach der unteren Lohngrenze des Proletariats, wie sich sich im ersten Band des Kapitals stellt, kann gar nicht allein aus der Logik des Kapitals heraus erklärt werden.
„Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element.“ (MEW 23, S.185)
Das eigentliche Problem hierbei ist es, dass sich das historische Element der Reproduktionskosten und die Produktionsweise selbst dialektisch durchdringen. Eine Gesellschaft, die der Arbeiter*in z.B. eine sehr hohe Produktivität abverlangt, muss diese Arbeitskraft auf einem Niveau bezahlen, das es ermöglicht, Kinderbetreuung und Altenpflege professionell betreiben zu lassen. Die Familie als zentrale Einheit der Reproduktionsarbeit wird damit durch kollektive, wenn auch noch kommodifizierte Reproduktionssysteme abgelöst, was zu einem Mehr an individueller Freiheit führt. Die Möglichkeit, dieses Maß an individueller Freiheit zu verwirklichen, ist umgekehrt für die Arbeiter*innen bewusstseinsbildend im Klassenkampf um die untere Lohnschranke. Wird die Ware Arbeitskraft allerdings nicht in dieser Höhe bezahlt, weil die proletarischen Klassen im Kampf nicht erfolgreich sind, müssen intergenerationale Reproduktionsarbeiten wieder in die Familie integriert werden, wodurch mit niedrigeren Löhnen auch ein Verlust moralischer Freiheit einhergeht und die festen Sozialstrukturen an Bedeutung gewinnen.
Vom Standpunkt des historischen Materialismus aus ist es nun gefordert, nicht einseitig alle Geschichte aus einer essentialistischen Produktionsweise herzuleiten oder umgekehrt, eine moderne Produktionsweise aus einem moralischen oder institutionellen Vorsprung heraus zu erklären, sondern die Dialektik zwischen beiden Polen des historischen Prozesses aufzuspüren. Um dabei wirklich wissenschaftlich vorzugehen, d.h. auch hinreichend empirisch gestützt und methodisch kontrolliert arbeiten zu können, reicht auf dem jetzigen Stand die marxistische Geschichtsschreibung nicht aus. Man muss sich daher fragen, welche wissenschaftlichen Strömungen der bürgerlichen Geschichts- und Wirtschaftsforschung am ehesten Ansätze verfolgen, die sich historisch materialistisch weiterentwickeln lassen.
Solche Fragen sind dabei übrigens nicht nur Freizeitbeschäftigung für Hobbyhistoriker*innen. Bei der Frage des Begriffs der Überausbeutung (für Interessierte eine aktuelle Folge der „Kommunistenkneipe“ zu diesem Thema) etwa ist genau diese historisch-moralische untere Schranke des Lohnniveaus von zentraler Bedeutung. Die Vertreter*innen dieser Theorie sagen, dass die geringen Löhne im Globalen Süden es ermöglichen, in den kapitalistischen Zentren einen gehobenen Lebensstil zu führen und den Klassenkompromiss damit materiell abzusichern. Marxistische Kritiker*innen des Begriffs wenden ein, dass die Lohnarbeit immer zu ihren Reproduktionskosten bezahlt wird, im globalen Norden wie im Süden. Langfristige Überausbeutung sei gar nicht möglich, weil sich die Arbeitskraft ja gar nicht langfristig reproduzieren könne. Genau in dieser Debatte ist nun die historische Genese der kulturellen Stufen, der moralischen Reproduktionskosten und der institutionellen Voraussetzung so entscheidend.
Ökonomische Anthropologie
Eine Disziplin der bürgerlichen Ökonomie, die sich in ähnlicher Gestalt wie der Marxismus der menschlichen Produktionsweise annähert, ist die so genannte ökonomische Anthropologie. Diese sieht im Bild des homo economicus eine anachronistische Projektion der historisch gewachsenen kapitalistischen Menschen in dessen gesamte Geschichte und Natur. Der französische Anthropologe Benoît de L’Estoile etwa unterscheidet zwischen der Ökonomie als der spezifisch markt- und warenwirtschaftlichen Sichtweise der Distribution der gesellschaftlichen Produktion und der Oikonomia als die Lehre der guten Hauswirtschaft und des Strebens nach einem guten Leben. Die substantivistische Richtung der ökonomischen Anthropologie orientiert sich stark an den Arbeiten Polanyis. Nach diesem sei Ökonomie immer in kulturelle und soziale Zusammenhänge eingebettet, welche die Reziprozität des Austauschs, die Arbeitsteilung einer Gemeinschaft und die Anforderung an dessen, was gute Haushaltsführung ist, regeln. Bei ihm ist wichtig, dass es keine Trennung der Ökonomie vom Leben als solchem gibt, sondern eine solche Trennung ein spezifisch modernder Schein ist. Die Sraffaistische Schule wiederum interessiert sich für das Mehrprodukt einer Gesellschaft und wie es verteilt wird. Wie im Marxismus ist dabei vorausgesetzt, dass eine spezifische Arbeitsteilung erst dann entstehen kann, wenn die einzelnen Individuen nicht völlig mit der unmittelbaren Reproduktion ausgelastet sind, sondern ein Mehrprodukt schaffen, mit dem Menschen versorgt werden können, die ganz spezifische Aufgaben erfüllen. Dieses Mehrprodukt ist dabei nicht unbedingt ein Geldbetrag wie bei der kapitalistischen Ausbeutung, sondern war die meiste Zeit ein Überschuss an Naturalprodukten.
Unter diesen Richtungen gibt es auch einige Differenzen. So wirft L’Estoile Polanyi vor, dass Ökonomische überhaupt als eine vom Sozialen und Kulturellen gesonderte Sphäre zu betrachten. Gegen den Sraffianischen Ansatz wendet er ein, dass die Produktion eines Mehrproduktes sehr wenig über dessen Verteilung aussage und damit nichts erklären kann. Er argumentiert hier mit Studien im brasilianischen Dorf Dona Maria, in dem die Bauern zwar Pacht an den Staat zahlen mussten und formell Angestellte eines Unternehmens waren, diese ihre Produktionsweise jedoch in den vorgegebenen Schranken selbst bestimmten und traditionell betrieben. Man könne daher im Wesentlichen nur deskriptiv die Genese der Oikos-Vorstellungen von Menschen erforschen, aber diese wiederum nicht aus anderen „ökonomischen“ Gesetzen ableiten.
Sythese aus substantivistischem und Mehrproduktansatz
Autor Isaac Stanley hingegen macht sich für die Synthese des sraffianischen Ansatzes mit dem substantivistischen stark, wie ihn Cesaratto and Di Bucchianico vertreten. Anders als die klassische Ökonomie oder die Vorstellungen von L’Estoile sehen sie die Reproduktionskosten der Produzenten nicht als die historisch bestimmte, sondern die bestimmende Komponente einer Gesellschaft an. Was zum Ersatz der Produktionsmittel und zur Reproduktion der Arbeitskraft gebraucht werde, sei ein durch die historischen Gegebenheiten bestimmtes Quantum und nicht eine Variable, die sich nach oben oder unten schieben könne. Nur was darüber hinaus produziert wird, kann in die Teile einer Gesellschaft fließen, die sich nicht subsidär versorgen müssen. Lohnunterschiede resultierten aus unterschiedlichen Grenzproduktivitäten der einzelnen Klassen, wobei das Arrangement aller nicht subsidären Klassen einen institutionellen Freiheitsgrad besitze, der politisch umkämpft ist.
Von Polanyi übernehmen sie den Ansatz der Einbettung. Denn das technologische Niveau, auf dem subsidär produziert wird, ist keine Naturgesetzlichkeit, auch wenn es auf die Natur einwirkt. Vielmehr spiegelt die konkrete Form der Subsistenzökonomie bzw. der Oikonomia die historisch konkrete Form des politischen Kampfes um das Mehrprodukt wieder. Ein Bauer, der weiß, dass er den Zehnten zu erbringen hat, plant von Vorneherein mehr Arbeit ein, als wenn er diesen nicht zu entrichten hätte, während umgekehrt die Sonntagspredigt ihn wöchentlich an die vermeintliche Leistung des Klerus zur Erlangung des Seelenheils erinnert und gleichzeit seinen Arbeitsprozess zwangsweise unterbricht. In so einer Sichtweise sind Einkommensunterschiede, innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen den Gesellschaften keine Fehler, die man einfach so abschaffen könnte, sondern sie sind sogar historisch gewachsene Voraussetzung spezifischer Produktionsverhältnisse.
Mit diesem Ansatz wollten Cesaratto and Di Bucchianico einerseits den Subjektivismus L’Estoiles, wie auch einen Vulgärmaterialismus Sraffas überwinden, auch wenn Sraffa stets auf die Bedeutung der institutionellen Einbettung hinwies. Weiterhin wollten sie einen Rahmen schaffen, mit dem sich marktwirtschaftliche und nicht-marktwirtschaftliche Systeme gleichermaßen analysieren ließen und der nicht zu viele Voraussetzungen macht, auf Grund der man gesellschaftliche Realitäten zu stark modellieren müsste.
Zusammenfassung
Die ökonomische Anthropologie unterscheidet vom historischen Materialismus wesentlich, dass sie das, was Marxist*innen mit Klassenkampf bezeichnen, als mehr oder weniger harmonische Institutionen wahrnimmt. Mit dem Klassenkampf fehlt der ökonomischen Anthropologie aber auch eine Triebfeder der Geschichte. Politische Konstellationen ändern sich mehr oder weniger zufällig und ein Richtungskonzept, dass systematische Rückfälle in vorangegangene Produktionsverhältnisse im Allgemeinen ausschließt, bleibt schwammig, auch wenn es nicht ausgeschlossen wird. Das widerspricht der empirischen Beobachtung, die zum Urteil zwingt, dass sich der Kapitalismus über die gesamte Welt ausgedehnt hat und selbst die Taliban auf internationalen Handel und der IS auf Social Media angewiesen sind. Zudem leitet keine Theorie der ökonomischen Anthropologie die Objektivierung von Herrschaftsverhältnissen aus dem Warenfetisch ab, um die bisherigen ideologischen Grundlagen der Rede vom homo economicus zu erklären.
Indem sich die ökonomische Anthropologie jedoch sehr auf die dialektische Bewegung von Basis und Überbau konzentriert, tappt sie weniger in Schematismusfallen. Gesellschaftliche Mischsysteme, wie das Eingangsbeispiel aus Panama, werden zunächst unvoreingenommen betrachtet und ihre Verlaufsform dargestellt, ohne bereits die historischen Gesetze eines reinen Feudalismus oder Kapitalismus zu stark hineinzudenken. Das mag dann manchmal auch zu Unzulänglichkeiten bei der Erklärung historischer Tatbestände führen. Aber das lässt sich allemal durch eine historisch-materialistische Analyse korrigieren. Man kann hier ansetzen.
Literatur:
Stanley, I. (2025): Oikos and Surplus: The Search for an Anthropological Economics. In: Review of Political Economy. Online First. DOI: 10.1080/09538259.2025.2458125.